Sonntag, 8. November 2015

Ist das Konnektom eine Schablone?

aus nzz.ch, 7. 11. 2015

Konnektomforschung
Die Entschlüsselung des Denkens
Der Hirnforscher Winfried Denk plant, ein komplettes Schaltdiagramm des Mausgehirns zu erstellen. Er hofft, damit die Rechenprinzipien des Hirns zu ergründen.

Interview von Fabienne Hübener

Herr Denk, Sie wollen das gesamte Netzwerk eines Mausgehirns entziffern. Was soll uns das bringen?

Nur so wird man in den Neurowissenschaften weiterkommen. Wir können Gehirnfunktionen nicht verstehen, wenn wir uns nur isolierte Schaltkreise anschauen, wie es im Moment geschieht. Wir brauchen das Verschaltungsdiagramm des gesamten Gehirns, das sogenannte Konnektom. Das Fehlen solcher Diagramme ist der Flaschenhals der modernen Neurowissenschaften.

Mit der von Ihnen entwickelten Zwei-Photonen-Mikroskopie können Sie Nervenzellen beim Feuern zuschauen. Das klingt spannender als Ihr derzeitiger Plan, Mausgehirne in Scheibchen mit einem Elektronenmikroskop abzubilden und nachher die Routen der Nervenzellen zu verfolgen. Warum haben Sie die Methode gewechselt?

Tatsächlich kann man mit dem Zwei-Photonen-Mikroskop dem Gehirn beim Denken zusehen. Man hört das Ploppen, wenn die Neuronen feuern, und sieht auf dem Monitor, wie die Nervenzellen aufleuchten – eine sehr befriedigende Arbeit. Aber die Frage ist doch: Warum feuert eine Nervenzelle gerade jetzt? Jede Zelle bekommt Informationen von Tausenden anderen Zellen und trifft dann eine Entscheidung: feuern oder nicht feuern. Nur wenn ich diese Verbindungen kenne, kann ich verstehen, warum eine Zelle unter bestimmten Umständen aktiv wird. So, wie ein Ingenieur beim Betrachten einer Konstruktionszeichnung bereits die arbeitende Maschine vor sich sieht, wird uns das Verknüpfungsdiagramm erlauben, Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Schaltkreises zu ziehen. Um das Verbindungsdiagramm zu entziffern, brauche ich Bilder des Gehirns mit einer Auflösung, wie sie bis jetzt nur ein Elektronenmikroskop erreicht.

Wie weit sind Sie mit der Entschlüsselung des Mausgehirns?

Ich schätze, die Optimierung der Geräte wird noch ein paar Jahre dauern. Steht die Technik, können wir die Rohdaten innerhalb von zwei Jahren haben. Dann fängt die eigentliche Entschlüsselung an.

Wer soll die gigantische Datenmenge analysieren?

Im Moment müssen die Daten noch von Menschen analysiert werden. Ich gehe jedoch davon aus, dass die Veröffentlichung des Datensatzes einen so starken Reiz ausübt, dass Informatiker anfangen werden, automatische Analysemethoden zu entwickeln. Im besten Fall analysiert sich der Datensatz damit quasi von alleine. Aber vielleicht bin ich da auch etwas zu naiv.

Kann man Aktivität oder Funktionen mithilfe eines statischen Bilds, eben des Konnektoms, untersuchen? Das Konnektom des Fadenwurms Caenorhabditis elegans ist zum Beispiel schon lange bekannt, doch fehlt ein komplettes Modell, wie sich der Wurm fortbewegt.

Um ausgehend von der Struktur das Verhalten eines Systems vorherzusagen, muss man die dynamischen Eigenschaften der einzelnen Schaltelemente kennen, in diesem Fall der Zellen und ihrer Verbindungen, der Synapsen. Das könnte beim Mausgehirn sogar eher der Fall sein als beim Wurm, da sich weitaus mehr Neurowissenschafter mit dem Mausgehirn beschäftigen. Die Eigenschaften der Schaltelemente sind daher besser verstanden als bei C. elegans.

Was muss die Maus haben, deren Konnektom Sie aufdecken?

Da Labormäuse praktisch nichts für ihr Futter tun müssen, wird ihr Gehirn wenig gefordert. Vielleicht machen wir eine Art Mäuse-Olympiade, und die klügste Maus gewinnt. Letztlich wird man auch die Schaltpläne beider Geschlechter brauchen, schon, um sich die Unterschiede genau anzuschauen.

Welche Kritik macht Ihnen am meisten zu schaffen?

Die Kritik, es sei technisch unmöglich, spornt mich nur an. Die Kritik, wir hätten nicht genug Speicherplatz für unsere Daten, wird mit jedem Monat hinfälliger. Eine Kritik, die ich ernst nehme, aber kaum höre: Würde man wirklich verstehen, wie die Gene die Entwicklung der neuronalen Verschaltungen kontrollieren, wäre die Suche nach dem Konnektom und damit meine Arbeit überflüssig. Die Prinzipien des Denkens sind vererbt und werden nicht von jeder Generation neu erfunden.

Aber ein Grossteil der Verschaltungen entsteht durch Erfahrung. Kennen wir die beteiligten Gene, kennen wir doch immer nur einen Teil der Verschaltungen.

Sicher, zum Denken gehört auch das Gedächtnis. Aus Sicht des Neurobiologen ist jedoch vor allem das Prinzip der Gedächtnisspeicherung interessant, weniger das, an was sich eine bestimmte Maus genau erinnert. Die Prinzipien dieser Speicherung sind einfacher zu beschreiben als die Gedächtnisinhalte. Ich denke dabei an Gleichungen in der Mathematik und Physik, die mit wenigen Zeichen komplexe Phänomene beschreiben. Ganz so einfach wird es nicht sein, die Prinzipien des Denkens zusammenzufassen. Aber die Beschreibung wird viel weniger Bits benötigen als der Schaltplan eines bestimmten Gehirns.

Die Vorstellung ist ernüchternd, unser Gehirn liesse sich auf ein paar simple Prinzipien zurückführen.

Die Natur zu verstehen, bedeutet auch, sie zu entmystifizieren. Das macht sie jedoch nicht weniger grossartig. Es ist das Schöne an der Physik, dass sich mit ihr komplexe Phänomene auf einfachste Regeln zurückführen lassen. Das wird beim Gehirn nicht anders sein. Manche befürchten, die Entschlüsselung des Denkens könne dem Menschen seine Würde nehmen. Diese Sorge teile ich nicht.

Gibt es bereits Daten aus der Konnektomforschung, die etwas über Gehirnfunktionen aussagen?

Durchaus! Nehmen wir eine Zelle in der Netzhaut, die richtungsselektive Ganglienzelle. Bewegt sich das Bild auf der Netzhaut in die eine Richtung, feuert die Zelle. Bewegt es sich in die andere Richtung, wird die Aktivität unterdrückt. Erfolgt die Bewegung in einem rechten Winkel dazu, passiert nichts. Wie entsteht diese Reaktion, die so entscheidend zu unserem Sehen beiträgt? Entschlüsselt die Zelle selber die Richtung, oder erledigen das schon andere Zellen vor ihr? Das klingt nach einer einfachen Frage, war aber jahrzehntelang ein ungelöstes Rätsel der Hirnforschung. Mithilfe der Konnektomforschung haben wir herausgefunden, dass die Ganglienzelle nur Verknüpfungen mit bestimmten vorgeschalteten Zellen «zulässt» und dadurch richtungsselektiv wird. Es wäre kaum möglich gewesen, das mit einer anderen Methode herauszufinden. Allerdings gibt es bis heute weniger Erfolgsmeldungen, als mir lieb ist. Das liegt daran, dass wir nur kleine Stückchen des Konnektoms kennen. Daher will ich den ganzen Schaltplan eines Mausgehirns vor mir haben. Dann können wir die Logik hinter den Verschaltungen verstehen, davon bin ich überzeugt.

Wie repräsentativ ist das Konnektom eines einzelnen Mausgehirns?

Das wissen wir noch nicht. Aber wir wissen, dass Gehirne verschiedener Mäuse ähnliche Fähigkeiten besitzen, zumindest, wenn diese nahe verwandt sind. Das beruht vermutlich auf der Ähnlichkeit der zugrundeliegenden Rechenprozesse im Gehirn. Die Variabilität des Konnektoms von Maus zu Maus ist zwar interessant, aber für das Entdecken der Rechenprinzipien wahrscheinlich nicht so wichtig. Der Schlüssel zum wissenschaftlichen Fortschritt liegt oft darin, manche Informationen – zumindest zeitweise – wegzulassen.

Könnte man das Verschaltungsdiagramm nutzen, um es über Aktivitätsmuster, die man in anderen Studien gewonnen hat, zu legen?

Das könnte bis zu einem gewissen Grad möglich sein. Der Schaltplan wird schon während seiner Entstehung frei zugänglich sein. Jeder Wissenschafter kann dann selbst entscheiden, wie er die Informationen verwendet. Ziel ist jedoch, die mit den verschiedenen Methoden gewonnenen Einsichten miteinander zu vergleichen und nicht einfach die Daten zu überlagern.

Sie zerbrechen sich das Gehirn über das Mauskonnektom. Die Verantwortlichen des mit einer Milliarde Euro dotierten Human Brain Project wollen gleich ein ganzes menschliches Gehirn simulieren. Ist das machbar?

Wie will man etwas simulieren, dessen Struktur man nicht kennt? In meinen Augen ist das Projekt eine Fehlallokation von Forschungsgeldern. Ich bin mir zudem nicht sicher, ob die Neurowissenschaften schon reif für ein echtes Grossprojekt sind. Dafür sollte man schon genauer wissen, was am Ende herauskommt. Das war etwa beim Human-Genom-Projekt oder beim Teilchenbeschleuniger Cern der Fall. Die wahren Erfolge der Neurowissenschaft kommen bis anhin noch aus kleinen Forschergruppen, die von Neugier und Risikofreude getrieben sind. Wir müssen noch scheitern dürfen.

Immerhin veröffentlichte das Human-Brain-Projekt-Team um Henry Markram kürzlich erstmals Ergebnisse, die belegen, dass sich ein Stück Rattengehirn tatsächlich im Computer simulieren lässt.

Ich begrüsse natürlich die Veröffentlichung, aber die Ergebnisse ändern nichts an meiner grundsätzlichen Meinung zum Human Brain Project.

Ein Science-Fiction-Autor braucht Ideen für einen Roman. Was fällt Ihnen ein?

Stellen Sie sich vor, man könnte in 100 Jahren mithilfe von Konnektomdaten ein gestorbenes Gehirn wiederaufleben lassen. Das wirft romanfüllende moralische und philosophische Fragen auf.


Winfried Denk ist Biophysiker und Hirnforscher. Seit 2011 ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried, Deutschland.


Nota. - Ich habs mehrmals durchgesehen: Die Frage, wie aufschlussreich ein Mäusehirn für das Denken sein möchte, hat sie tatsächlich nicht gestellt. Er meint aber gar nicht denken; er meint verschalten: "Sicher, zum Denken gehört auch das Gedächtnis. Aus Sicht des Neurobiologen ist jedoch vor allem das Prinzip der Gedächtnisspeicherung interessant, weniger das, an was sich eine bestimmte Maus genau erinnert." 

Sicher, zum Denken gehört auch das, was gedacht wird. Den Konnektomforscher interessiert aber eher, wie es gespeichert wird. Und zu dem Behuf setzt er einfach mal voraus, dass das, was gespeichert ist, gleich-gültig ist dafür, wie es gespeichert wird. Als heuristische Arbeitserleichterung mag das zweckmäßig sein, wenn sich's der Laie auch schlecht vorstellen kann. 

Doch "andersrum wird ein Schuh draus": Worauf es beim Denken ankommt, ist ja nicht, dass man die Sinngehalte ablegen, sondern... dass man sie wiederfinden kann, nämlich wenn man sie zu etwas brauchen will. Das Wozu-man-sie-braucht bedingt offenkundig, wie man sie sucht. Und wie man sie sucht, bedingt, ob und wie man sie findet. Wenn man das Speichern vielleicht als einen rein formal beschreibbaren Schalt-kreis auffassen kann, dann doch aber ganz sicher nicht das Wiederfinden. 

Hat eine Maus Zwecke, um deretwillen sie nach Erinnerungen sucht? Denkt die Maus? Mir schwirrt der Kopf. Ob seine Mauseforschung womöglich auch eine Fehlallokation von Mitteln ist?
JE


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