Samstag, 6. Juni 2015

Der Wiener Kreis und seine Wissenschaftliche Weltauffassung.


von link: Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Otto Neurath, Hans Hahn and Philipp Frank
aus nzz.ch, 29.5.2015, 05:30 Uhr

Eine Ausstellung zum Wiener Kreis
Wissenschaftliche Weltauffassung
Die Welt nach Massgabe wissenschaftlicher Rationalität einrichten – das war der Impuls, der die Köpfe des Wiener Kreises zusammenführte. Eine Ausstellung der Universität Wien erinnert.

von Hans-Bernhard Schmidt

Wien feiert gerade das hundertfünfzigjährige Bestehen der Ringstrasse, des «schönsten Boulevards der Welt». Die Universität Wien blickt heuer ein halbes Jahrtausend weiter zurück – auf ihre Gründung. Am Universitätsring wird der prächtige Historismus der Ringstrassen-Architektur deshalb durch ein Plakat unterbrochen: «Wir stellen die Fragen. Seit 1365», verkündet es. Das klingt überraschend barsch, und man fühlt sich an die Prüfungsfragen gemahnt. «Wir stellen hier die Fragen, und wir sind fast so alt wie die Inquisition.» Aber da steht auch ein riesiges blaues 3-D-Fragezeichen auf dem Plakat. Nicht um die Autorität des eigenen Standpunkts soll es hier wohl gehen, sondern um Neugierde und Skepsis, eine Feier des unbändig fragenden Geistes.

Weiter unten am Hauptgebäude der Uni durchbricht eine weitere Installation den Ringstrassen-Historismus. Durch einen bunten Holzvorbau gelangt man direkt vom Ring hinunter in den «Wiener Kreis»: In der alten Turnhalle gedenkt eine Ausstellung der wissenschaftlich gesinnten Philosophen und philosophisch gesinnten Wissenschafter – unter ihnen auch zwei Frauen –, die sich im frühen 20. Jahrhundert in Wien zusammenfanden, um menschliches Denken und Handeln in allen Bereichen auf rationale Grundlagen zu stellen.

Die Ausstellung ist eine bemerkenswerte kuratorische Leistung von Karl Sigmund und Friedrich Stadler. Otto Neurath, der Pionier der Volksbildung, hätte seine Freude daran gehabt. Kein fixer Parcours führt durch die Stationen – das wäre angesichts der Materialfülle auch eine Überforderung. Oben an der Wand findet sich eine Galerie von Porträts, damit man gleich weiss, mit wem man es zu tun hat: Moritz Schlick, Philipp Frank, Friedrich Waismann, Herbert Feigl usw. Unten bewegt man sich ohne vorgegebene Richtung durch eine Vielzahl von Stationen. Die meisten bestehen aus kreissegmentförmig angeordneten Schautafeln mit Bildern und fasslichem Text, unterbrochen von Filmausschnitten und Videoinstallationen. Es ist eine Art physische Wikipedia, und eine grosse Panorama-Installation macht diesen Link explizit.

Der Untertitel der Ausstellung «Exaktes Denken am Rande des Untergangs» verweist auf die Vertreibung der Mitglieder. Während etwa die Frankfurter Schule nach dem Krieg wieder in die alte Heimat eingeladen wurde, ist in Wien nichts Dergleichen geschehen (wobei die Mitglieder an ihren neuen Wirkungsstätten sehr erfolgreich waren). Die Ausstellung weist auch mit Nachdruck darauf hin, dass viele der wirkmächtigsten Einsichten des Kreises der ursprünglichen Ambition einer «wissenschaftlichen Weltauffassung» zuwiderliefen. Kurt Gödel entdeckt, dass sich Wahrheit nicht auf Beweisbarkeit reduzieren lässt. Und Ludwig Wittgenstein kommt zur Ansicht, dass Philosophie mitunter von ihrer Fragerei abrücken sollte. Philosophie eigne sich nicht dazu, menschliches Denken und Handeln auf rationale Grundlagen zu stellen. Sie kann allenfalls Verwirrungen therapieren – «Krankheiten», die sie selbst angerichtet hat.

Der Wiener Kreis – Exaktes Denken am Rande des Untergangs. Universität Wien, Hauptgebäude. Bis Ende Oktober 2015.

Nota. - Verschwiegen wird gerne, der Peinlichkeit halber, dass der Wiener Kreis in der dreißiger Jahren den Kontakt zur damaligen Sowjetphilosophie suchte und fand. Dabei war das Motiv nicht einmal, wie bei so vielen zeitgenössischen Schöngeistern, ein politischer Flirt mit der GPU; sondern die selbsterkannte Geistesverwandtschaft der Wiener wissenchenschaftlichen Weltaauffasung mit Josef Stalins Dialektischem Materialismus.* Gemeinsam waren ihnen ja mit dem naiven Realismus der Hang zu dogmatischer Metaphysik, der sich aber als Kult der Rationalität tarnte. Das kennt man aber spätestens seit Wolff-Baumgarten bzw. ihrem abtrünnigen Parteigänger Kant: Der gegen sich selber unkritische Rationalismus endet in zügelloser Spekulation.

*) Wissenschaftliche Weltanschauung wurde in der DDR bis zu ihrem letzten Tag als Synonym für DIAMAT gebraucht.
JE




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