Joachim Ritters Philosophie der modernen Welt
Entzweiung und Zivilisationsbruch
Fragte
man heute Philosophiestudenten nach dem deutschen Philosophen Joachim
Ritter (1903–1974), wäre mit ergiebigen Antworten nicht zu rechnen. Zwar
widmete sich unlängst eine Tagung in Marbach
(NZZ 13. 12. 13) dem Hegel- und Aristoteles-Kenner, der als
langjähriger Münsteraner Ordinarius wie als Mitbegründer des
«Historischen Wörterbuchs der Philosophie» noch eine gewisse Bekanntheit
geniesst. Auch die vielbeschworene «Ritter-Schule» kam nochmals in den
Blick. Doch kann derlei Andenken der engeren Fachzunft wohl nicht
darüber hinwegtäuschen, dass der Rittersche Ansatz – im Gegensatz etwa
zu den Theorien der zweiten und dritten Generation der Frankfurter
Schule – kaum mehr als aktuelle Position wahr-, sondern fast nur noch im
Rückblick zur Kenntnis genommen wird.
Lehr- und Wanderjahre
Mark Schweda, Mitveranstalter jener Tagung, sieht in seinem Buch «Entzweiung und Kompensation» indes gerade in der Historisierung die Chance für eine neue Aktualität. Nun, da «das Lagerdenken längst vergangener Gefechte» Geschichte sei, könne Ritters philosophische Theorie der modernen Welt in ihren «ursprünglichen Anliegen» – diesseits der Rezeption durch Ritters «Schüler» von Marquard bis Lübbe – neu erschlossen werden: die geschichtsphilosophische Deutung der Moderne als positive, weil freiheitsförderliche «Entzweiung» von bürgerlicher Gesellschaft und Subjektivität. Schweda liest Ritters Schriften mit einer systematischen Genauigkeit, dass es eine Freude ist. Das heisst nicht, dass man ihm nicht bisweilen widersprechen möchte. Denn der Verfasser macht aus seiner Affirmation wenig Hehl. Seine 460-seitige Parteinahme ist dabei allerdings mit Zitaten von Kritikern gewissermassen ergänzt, so dass auch für den Leser, der in Ritter vor allem den «neokonservativen Neoaristoteliker» (Habermas) sieht, die Positionen gewinnbringend profiliert werden.
Schweda durchmisst die Spannweite der Denkbiografie Ritters. Den Anfang machen die (nach 1945 von Ritter beschwiegenen) Lehrjahre bei Ernst Cassirer in Hamburg, bei dem er 1925 über Cusanus doktoriert und den er 1929 an die Hochschulkurse nach Davos begleitet, wo er der berühmt gewordenen Disputation mit Martin Heidegger beiwohnt. Die Habilitation 1932 gilt Augustinus, aber der Jungphilosoph ist in der Zeit der Weimarer Republik Kommunist gewesen. Erstaunlich dann das Arrangement 1933. Während der Jude Cassirer zur Emigration gezwungen ist, unterzeichnet Ritter das «Bekenntnis der Professoren zu Adolf Hitler» und stellt einen Antrag auf Parteimitgliedschaft. Wenig überzeugend scheint Schwedas Apologie: Ritter habe «um seiner beruflichen Perspektiven willen» einen «im Einzelnen sicher heiklen Balanceakt zwischen innerer Distanz und äusserer Anpassung» vollführt. Man müsse aber die «Rahmenbedingungen akademischer Berufsausübung im ‹Dritten Reich› in Rechnung stellen».
Zur Debatte steht jedoch auch die Theorie. Zwar weist Schweda darauf hin, dass Ritter keine «rassischen» Untertöne vernehmen lasse und «sehr viel eindeutiger» für den Nationalsozialismus hätte schreiben können. Was es mit der «Distanz» aber wirklich auf sich hatte, fragt sich angesichts eines Aufsatzes, den Ritter 1941 zu dem peinlichen Sammelband «Das Deutsche in der deutschen Philosophie» beisteuert. Er handelt von der «Cusanischen Vision religiöser Toleranz» als Ausdruck genuin «deutscher Frömmigkeit». Es gehe, so liest man, «bis heute um den Kampf, den ursprünglich vom deutschen Geist geprägten Sinn der abendländischen Neuzeit gegen eine immer neu einbrechende Verflachung und Entstellung durchzusetzen» – gegen die westliche Aufklärung mithin.
Verkannte Brisanz?
Die späteren Jahre werden für Ritter (wie auch für den Leser) erfreulicher. Hegel wird zur Lebensaufgabe, kristallisiert im epochemachenden Essay «Hegel und die Französische Revolution» (1957). Was meint die Hegel-Rittersche «Entzweiung» der modernen Welt? Sie ist «das Auseinandertreten der Sphären und Perspektiven des geschichtslosen, wesentlich auf Naturwissenschaft, Technik und abstraktem Recht basierenden Komplexes der bürgerlichen Industriegesellschaft und der komplementär auf sie bezogenen Kultur der Subjektivität» – eine Kultur, in der auch die berüchtigte «Kompensation» durch Ästhetik und den historischen Sinn ihren Platz hat.
Weniger überzeugen Schulbuchsentenzen zur deutschen Situation nach 1945 – «schon die moralische Verunsicherung reichte tief» –, zumal eine Frage stets umschifft wird: wie die Regression, auch die der Philosophen, unter der Annahme historischer Selbstentfaltung der Vernunft eigentlich zu erklären ist. Schweda zitiert Ernst Tugendhats Kritik am Geist der Ritter-Schule: «Wie man im Nachnazideutschland so philosophieren konnte, bleibt das Geheimnis dieser Autoren.» Und doch scheint er den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch in seiner Brisanz für eine Philosophie, die wie keine andere die bürgerliche Moderne weiterhin als «vernünftige» postulierte, zu verkennen. Gleichwohl – und noch in den Leerstellen – ist Mark Schweda eine beachtenswerte Studie über den philosophischen Kosmos Joachim Ritters gelungen.
Lehr- und Wanderjahre
Mark Schweda, Mitveranstalter jener Tagung, sieht in seinem Buch «Entzweiung und Kompensation» indes gerade in der Historisierung die Chance für eine neue Aktualität. Nun, da «das Lagerdenken längst vergangener Gefechte» Geschichte sei, könne Ritters philosophische Theorie der modernen Welt in ihren «ursprünglichen Anliegen» – diesseits der Rezeption durch Ritters «Schüler» von Marquard bis Lübbe – neu erschlossen werden: die geschichtsphilosophische Deutung der Moderne als positive, weil freiheitsförderliche «Entzweiung» von bürgerlicher Gesellschaft und Subjektivität. Schweda liest Ritters Schriften mit einer systematischen Genauigkeit, dass es eine Freude ist. Das heisst nicht, dass man ihm nicht bisweilen widersprechen möchte. Denn der Verfasser macht aus seiner Affirmation wenig Hehl. Seine 460-seitige Parteinahme ist dabei allerdings mit Zitaten von Kritikern gewissermassen ergänzt, so dass auch für den Leser, der in Ritter vor allem den «neokonservativen Neoaristoteliker» (Habermas) sieht, die Positionen gewinnbringend profiliert werden.
- Joachim Ritter in Marbach.
- Das Ästhetische ist keine "Kompensation".
- Karlheinz Stierle: Die Entstehung der Landschaftsmalerei aus dem Geist des Nominalismus.
Schweda durchmisst die Spannweite der Denkbiografie Ritters. Den Anfang machen die (nach 1945 von Ritter beschwiegenen) Lehrjahre bei Ernst Cassirer in Hamburg, bei dem er 1925 über Cusanus doktoriert und den er 1929 an die Hochschulkurse nach Davos begleitet, wo er der berühmt gewordenen Disputation mit Martin Heidegger beiwohnt. Die Habilitation 1932 gilt Augustinus, aber der Jungphilosoph ist in der Zeit der Weimarer Republik Kommunist gewesen. Erstaunlich dann das Arrangement 1933. Während der Jude Cassirer zur Emigration gezwungen ist, unterzeichnet Ritter das «Bekenntnis der Professoren zu Adolf Hitler» und stellt einen Antrag auf Parteimitgliedschaft. Wenig überzeugend scheint Schwedas Apologie: Ritter habe «um seiner beruflichen Perspektiven willen» einen «im Einzelnen sicher heiklen Balanceakt zwischen innerer Distanz und äusserer Anpassung» vollführt. Man müsse aber die «Rahmenbedingungen akademischer Berufsausübung im ‹Dritten Reich› in Rechnung stellen».
Zur Debatte steht jedoch auch die Theorie. Zwar weist Schweda darauf hin, dass Ritter keine «rassischen» Untertöne vernehmen lasse und «sehr viel eindeutiger» für den Nationalsozialismus hätte schreiben können. Was es mit der «Distanz» aber wirklich auf sich hatte, fragt sich angesichts eines Aufsatzes, den Ritter 1941 zu dem peinlichen Sammelband «Das Deutsche in der deutschen Philosophie» beisteuert. Er handelt von der «Cusanischen Vision religiöser Toleranz» als Ausdruck genuin «deutscher Frömmigkeit». Es gehe, so liest man, «bis heute um den Kampf, den ursprünglich vom deutschen Geist geprägten Sinn der abendländischen Neuzeit gegen eine immer neu einbrechende Verflachung und Entstellung durchzusetzen» – gegen die westliche Aufklärung mithin.
Verkannte Brisanz?
Die späteren Jahre werden für Ritter (wie auch für den Leser) erfreulicher. Hegel wird zur Lebensaufgabe, kristallisiert im epochemachenden Essay «Hegel und die Französische Revolution» (1957). Was meint die Hegel-Rittersche «Entzweiung» der modernen Welt? Sie ist «das Auseinandertreten der Sphären und Perspektiven des geschichtslosen, wesentlich auf Naturwissenschaft, Technik und abstraktem Recht basierenden Komplexes der bürgerlichen Industriegesellschaft und der komplementär auf sie bezogenen Kultur der Subjektivität» – eine Kultur, in der auch die berüchtigte «Kompensation» durch Ästhetik und den historischen Sinn ihren Platz hat.
Weniger überzeugen Schulbuchsentenzen zur deutschen Situation nach 1945 – «schon die moralische Verunsicherung reichte tief» –, zumal eine Frage stets umschifft wird: wie die Regression, auch die der Philosophen, unter der Annahme historischer Selbstentfaltung der Vernunft eigentlich zu erklären ist. Schweda zitiert Ernst Tugendhats Kritik am Geist der Ritter-Schule: «Wie man im Nachnazideutschland so philosophieren konnte, bleibt das Geheimnis dieser Autoren.» Und doch scheint er den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch in seiner Brisanz für eine Philosophie, die wie keine andere die bürgerliche Moderne weiterhin als «vernünftige» postulierte, zu verkennen. Gleichwohl – und noch in den Leerstellen – ist Mark Schweda eine beachtenswerte Studie über den philosophischen Kosmos Joachim Ritters gelungen.
Mark
Schweda: Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische
Theorie der modernen Welt. Alber, Freiburg i. Br. 2014. 480 S., Fr.
65.90.
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