Samstag, 11. Oktober 2014

Erbsünde der Moderne.

A. Teixeira-Lopes, Die Kindheit des Kain
aus nzz.ch, 10.10.2014, 13:50 Uhr


Peter Sloterdijk erklärt die Moderne
Der Sturz im Galopp



 

Unter den zeitgenössischen Kritikern der Moderne ist Peter Sloterdijk ein Meister der Nuancen. Wenig entgeht diesem Detektor unserer Abgründe und Untergänge, doch zum furchtlosen Blick – er hat schon mancherlei Gegnerschaft aus den Reihen der politisch Korrekten gefunden – gesellt sich eine sanfte Ironie. Ja, wir Menschen sind Mängelwesen. Ja, wir erfinden daraus und dagegen immer neue Listen, das Schicksal und die Schöpfung zu korrigieren. Aber dem ganzen langen Vorgang – man dürfte ihn nur unter beträchtlichen Vorbehalten als die gelungene Geschichte einer Entwicklung bezeichnen – wohnt eine wilde Emsigkeit inne, die nicht nur Schreckliches produziert und leider selten Erhabenes, sondern zugleich zum Lächeln verführen sollte. So viel Anstrengung für so flüchtigen Gewinn.

Der ironisch lächelnde Sloterdijk schreibt mit seinem jüngsten Buch ein weiteres Kapitel seiner historisch gerichteten Anthropologie. «Die schrecklichen Kinder der Neuzeit» ist ein überaus spannungsvoller, unterhaltsamer, mit kräftigen Definitionen und Aphorismen unterlegter Traktat zum Thema. Es lautet in der Frageform: Was kennzeichnet seit dem ausgehenden Mittelalter und bis auf die Jetztzeit das menschliche Verhalten gegenüber dem Dasein? Welche Energien, welche Akte definieren den Schub in die Moderne? Und schliesslich auch – und argwöhnisch: Was war, was ist der Preis dafür?
 
Ganz aus sich selbst heraus

Antwort findet man in einem Prolog, sechs Kapiteln und einem Ausblick. Und um das Wichtigste bereits vorwegzunehmen: Für Sloterdijk stellt sich die Neuzeit dar als ein Epochenmonster, da Traditionen, Filiationen und Genealogien wegbrechen, da Herkunft und Sitte und «Vaterschaft» zurückweichen, da Gewohnheit und Mass zugunsten eines wilden Furors aus Widerspruch und Auflehnung abtauchen. Der Furor ist auch die Rasanz der Beschleunigung. Oder anders formuliert: Die Kinder der Neuzeit erschaffen sich selbst, indem sie alles, was einst als «Erbe» seine Wirkkraft und Prägung entfaltete, missachten, gar vernichten. Die Visitenkarte des Schriftstellers Léon Bloy mit der Gravur «Abbruchunternehmer» passte trefflich darauf.

Die gute Nachricht zuerst. Es können auch für einen misstrauischen Erforscher der neuzeitlichen Hybris und des Unterfangens, die Welt fortlaufend unter Dampf zu halten, nicht nur negative Bilanzen anfallen. Sloterdijk erkennt und anerkennt: Die schrecklichen Kinder, die sich von ihren Vätern lossagen oder als Bastarde mit kecken Errungenschaften auftrumpfen, die Nachfahren, die keinen mehr kennen und deshalb rücksichtslos nur Eigenes verfolgen, die Usurpatoren und Königsmörder, denen nichts mehr heilig ist, sie sind – jedenfalls da und dort – durchaus auch die Kreativen. Die Innovatoren. Die Treiber des Fortschritts. Und zeigen mithin, was nun politisch plötzlich denk- und machbar wird, philosophisch erlaubt sein muss, wirtschaftlich Märkte erschliesst und Wohlstand produziert. So ist der selfmademan als Nachfahr des abtrünnig gewordenen Prometheus für die success story des Westens unabdingbar.

Die andere Seite dieses Erfolgsmodells aber ist für Sloterdijk – im Sinne einer provokativen Umerzählung des Projekts Neuzeit – bei weitem faszinierender. Auf den Spuren von Albert Camus' grossem Essay «Der Mensch in der Revolte» beschreibt Sloterdijk unser aller Schicksal als bittere Mixtur aus Bindung und Freiheit. «Erbe» versteht sich in bindendem Sinn sowohl hin zu «Gott» – sogar und just unterm Aspekt der Ursünde – wie auch zu den vertrauten Sitten und Gebräuchen, die das weltliche Jammertal bis zur Erlösung daraus lebensdienlich ausrüsten. Revolte umgekehrt ist die Aktivität der Unzufriedenheit, dass man sich mit solchen Abhängigkeiten nicht mehr abfinden will. Biblisch gesprochen: Kain und seine Söhne rufen zum Angriff gegen das unbefragt Bestehende und halten kämpferisch dagegen die Kräfte und Säfte einer «menschlich» zentrierten Geschichte.
 
«Après nous le déluge»

Doch erst in der frühen Neuzeit, dann machtvoll in der Epoche der Französischen Revolution entfaltet dieses Bewusstsein eine Dynamik, die weder festen Boden noch sichernde Haltepunkte mehr kennt. Sloterdijk benennt die Destabilisierung der Verhältnisse mit der Formel vom «Dasein im Hiatus» – zwischen alten Lebenswelten und neuen Verwerfungen der Geschichte klafft ein Riss, der bald immer breiter und tiefer wird. Insofern nimmt sich der elegant-frivole Ausspruch der Madame Pompadour im Kreise der Höflinge des Ancien Régime – «Après nous le déluge» – wie eine ominöse Ouvertüre auf alles Kommende aus. Dass Madame selber bastardischer Herkunft ist, macht die Szene noch einprägsamer: Die vom König verschwenderisch Begünstigte begreift besser als die marode Garde des Adels, wem die Stunde demnächst schlagen wird.

In Sloterdijks Paraphrase des Menetekels: «Die Zeit war ins Denken eingebrochen.» Aus den traditionalen Vorstellungen vom zyklischen Werden und Vergehen schält sich, von den Wissenschaften und der Technik beflügelt, ein zunächst vager, später scharf geprägter Futurismus heraus, der dazu zwingt, dass sich die Menschen nun als «Kinder ihrer Zeit» – oder mit Nietzsches Metapher: als «Legionäre des Augenblicks» – zu erkennen beginnen. Was sich alsbald als die bürgerliche Gesellschaft inszenieren und präsentieren wird, ist ein häufig riskantes, per se instabiles und überraschungsreiches Ensemble aus Diskontinuitäten – Auf- und Abstiege gehören zur Tagesordnung, Rebellen und Scharlatane bevölkern das Parkett, Hypothesen lösen Traditionen ab. Die Literatur füllt ganze Romanlandschaften mit konfus gewordenen Älteren, die auf konfus agierende Jüngere treffen müssen. Nur ein Reaktionär von der kaustischen Aggressivität Joseph de Maistres durchdringt die ungewohnten Phänomene mit polemischem Scharfsinn: Der grimmige Papist sieht jetzt überall die Kollaborateure des Nihilismus am Werk.

Sloterdijk hat einen «zivilisationsdynamischen Hauptsatz» geprägt, der das Auseinandertreten von Herkunft und Zukunft mit Rücksicht auf die Folgelasten des Malheurs prägnant erfasst. «Im Weltprozess nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.» Das heisst: Hergebrachte Formen des Umgangs mit Veränderungen sind unterm Druck der Ereignisse immer weniger in der Lage, diese in den Haushalt der Eingewöhnung aufzunehmen. Fortan wird es eher darum zu tun sein, wenn möglich das Schlimmste abzuwenden, Schadstellen zu reparieren und die Nebenfolgen des «Fortschritts» nicht mehr nur als Kollateralprobleme abzutun. Hamlets Wort erfüllt sich mit Aussichten auf einen schwindelerregenden Tempodruck: «Die Zeit ist aus den Fugen.»
 
Was die Geschichte lehrt

Das vierte Kapitel bringt dafür Exempla oder Lektionen aus der Geschichte bei. Den grossen Sturz nach vorne verkörpern hier eine Reihe von Figuren und Bewegungen, die über hundert Jahre hinweg symptomatische Unterschriften liefern – zuerst Napoleon, ein Mann aus dem Nichts, der dem alten Europa den Garaus macht und sich mit dem Kaisertitel doch auch an den früheren Legitimitäten berauschen möchte; dann – mit dem Datum Zürich 1916 – die Explosion durch Dada, dessen Exponenten als Realitätsdienstverweigerer zwar wenig künstlerischen Ertrag erzeugen, doch umso mehr die pur gewordene Aktualität feiern und leben; dann, zwei Jahre später, Lenin, der die Aktualität als Ausnahmezustand des Terrors im Alltag festmacht; dann – als seine gegenstrebigen Nachfahren – Hitler und Stalin, beide durchgängig fasziniert vom Regime der Säuberungen mit den Armaturen einer Nullpunktpolitik.

In der neueren und neuen Geschichte sind solche Stationen und Figuren für Sloterdijk exemplarische Inkarnate dynamisch, ja eruptiv gewordener Weltzeit. Vor deren Ansturm zerfallen stützende Werte wie Erbe, Sitte, Nachahmung und Wiederholung, und der Mensch ist in die Verführungen seines Wählens und Begehrens, seines Freiseins und Gestaltens gestellt, ohne dass ihn überzeugende Autoritäten des «Alten» noch daran zu hindern vermöchten. Natürlich: Man muss – wie dies Hans Blumenberg in grandioser Manier unternommen hat – die Neuzeit stets auch in ihren und durch ihre Legitimitäten erkennen; als den kapitalen Prozess theoretischer Neugierde, der damit auch Sinnfragen und Herkunftsweisen plötzlich anders beleuchtet – nämlich im Zeichen aufbrechender Autonomie und Selbstbehauptung. Doch das eine schliesst das andere nicht aus: im Gegenzug festzustellen, welche Monster und Albtraumgeburten eine Historie zu bevölkern beginnen, die von Langzeitstabilität und Traditionsverhalten schnell und schneller nichts mehr wissen will.

Damit ist auch das Thema Religion angesprochen – oder mit einem Terminus von Sloterdijk: das Über-Es. Um Einzelnes kann es hier nicht gehen. Bemerkenswert, vielleicht und für einige skandalträchtig ist die Deutung, die Jesus Christus widerfährt. «Genealogisch» zählt der Gottessohn zugleich zu den Bastarden; auch er, jedenfalls für seine freundesnahe Umgebung, ein Kind wenn nicht aus dem Nichts, so zumindest aus dem Schatten der Ungewissheit; durch sein Lehren und Tun bald ein verführerischer Rebell und homme révolté, indem er das schriftgelehrte Judentum hinterfragt; dann die Realpräsenz des Übervaters im Übersohn ohne irgendwelche «familiär» fassbaren Hintergründe; schliesslich zwar der Messias, aber gerade auch durch starke Predigten der Abwendung von allen Formen eines lebensweltlich gegründeten Patriarchats: Es gibt nur noch einen «Vater», und dieser ist zugleich nah und in weitesten Fernen.
 
Kirche gegen Revolution

Paradox und zugleich zwingend ist, dass die Kirche, die sich über diesem Erlöser erhebt und erheben muss, weil das verkündete Ende aller Zeiten immer länger auf sich warten lässt, bald zur Stifterin eines besonderen Erbes wird. Ihre Institutionalisierung als Ordnungsmacht im Sündendiesseits fundiert über lange Epochen jenes Traditions- und Verhaltensgefüge, das für die ihr gläubig Zugewandten die Katastrophen des Zeitenwandels erträglich halten soll. Ein erster Angriff auf die Bastion des Dauerhaften erfolgt freilich schon im Mittelalter – als die Mystik eine «anti-genealogische» Revolte einläutet, ihre stille Frömmigkeit direkt zu Jesus hinaufbaut und zugleich den Alltäglichkeiten der gemeinen Welt das Ade zurufen will.

Fazit, dieses Buch hat es in sich. Aus einer Fülle von Grossgedanken, Hinweisen, Trouvaillen, Fussnoten, Ironien und Provokationen erzählt uns Sloterdijk auf fünfhundert Seiten von Triumphen und Untergängen, vor allem von Letzteren. Einmal mehr wird dabei auch klar, dass der Moderne und näherhin der europäischen Aufklärung keineswegs ein weltgeschichtlich linear ausgreifender Prozess von Vernunftwerdung entspross. Was wir heute global erleben und mehr und mehr teilen müssen, nämlich zum Beispiel die Präsenz alter Fanatismen im Widerspiel zu modernen Entortungen, bestätigt diesen Befund. Wie weit der Mensch als Gattungswesen erziehungsfähig und zähmungswillig ist? Bei Anerkennung der Wirklichkeit muss die Frage zurücktreten vor dem nagenden Verdacht, dass er zugleich hochgefährlich bleibt. Vielleicht auch auf ewig ein Kind; doch von tückischer Vorsehung ausgerechnet in den Flegeljahren gestoppt.

Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014. 489 S., Fr. 37.90.


Nota.

Das ist Philotainment auf gehobenem Niveau. Aber es scheint ja gar nicht blöd zu sein. Ein neues literarisches Genre? Dass ein Buch mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet, ist gar nicht schlecht, wenn es sich immerhin um philosophisch erhebliche Fragen handelt, die es unter ein großes Publikum bringt. Dass der Autor die Antworten kokett in den Wolken lässt,  mag man ihm als Eitelkeit ankreiden, ist aber in der Sache ja nicht unangemessen.

Dass er dabei offenbar mit den ollsten Kamellen des reaktionären Denkens liebäugelt, ist schon viel weniger angemessen, liegt aber ganz im Zeitgeist, den Sloterdijk wie immer in viele funkelnde Worte fasst.
JE

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