Mark Garlick
aus nzz.ch, 29.10.2014, 05:30 Uhr
Ein Nobelpreisträger über seine Forschung
«Es ist wichtig, anders als andere zu denken»
Edvard und May-Britt Moser entdeckten in der Mitte des Gehirns Zellen, die die Orientierung ermöglichen. Für die Entdeckung dieses «inneren GPS-Systems» wird ihnen und einem Kollegen am 10. Dezember der Nobelpreis überreicht.
Grob geschätzt, wie viele Interviews haben Sie seit der Bekanntgabe des Nobelpreises gegeben, Herr Moser?
In den ersten Tagen folgte ein Interview auf das andere, 15 bis 20 täglich, manchmal mehrere gleichzeitig. Das war schon verrückt. Im Moment, mehr als zwei Wochen nach der Bekanntgabe, sind es immer noch zwei bis drei pro Tag. Ich geniesse die Anerkennung, aber wenn das so weiterginge, käme ich zu nichts anderem mehr.
Sie, Ihre Frau May-Britt Moser und John O'Keefe erhalten den Nobelpreis für die Entdeckung von Orientierungszellen im Gehirn. Was ist das Besondere an diesen Zellen?
Vor uns untersuchten Forscher vor allem Funktionen im Gehirn, die nicht allzu weit vom Eingang der Sinnessysteme entfernt liegen. Wir sind jedoch tiefer, bis in die Mitte des Gehirns vorgestossen und entdeckten dort Zellen, die ein Merkmal der Aussenwelt abbilden. Diese Zellen kreieren eine Karte, mit deren Hilfe Tiere und Menschen im Raum navigieren können. Damit haben wir ein Fenster aufgestossen, um tiefer liegende Verarbeitungsprozesse im Gehirn zu verstehen.
Warum suchten Sie in der Mitte des Gehirns?
John O'Keefe hatte dort 1971 im Experiment mit Ratten interessante Zellen entdeckt, und wir wollten dieser Spur weiter nachgehen. Eigentlich war er auf der Suche nach Grundlagen des Gedächtnisses, doch mehr oder weniger zufällig fand er Zellen, die nur dann aktiv werden, wenn sich ein Tier an einem bestimmten Ort aufhält. Je nach Aufenthaltsort der Ratte im Raum sind unterschiedliche Zellen aktiv. Zusammen ergibt diese Aktivität eine Karte, die zeigt, wo sich ein Tier oder Mensch gerade befindet. Würde man die Daten in ein Computerprogramm einspeisen, könnte es anhand der Aktivität berechnen, wo sich die Ratte aufgehalten hat. May-Britt und ich wollten wissen, woher diese Ortszellen ihre Informationen erhalten. Es lag nahe, eine Stufe davor zu suchen. Die Ortszellen liegen im Hippocampus, einer älteren und am Boden des Schläfenlappens gelegenen Struktur. Wir suchten in der sogenannten entorhinalen Hirnrinde. Sie liegt zwischen Hippocampus und Grosshirnrinde. Bis dahin hatte dort noch niemand Nervenzellaktivität untersucht.
Sie haben die Elektroden auf gut Glück in dieses Hirngebiet eingeführt?
Nein, gemeinsam mit einem Neuroanatomen suchten wir nach dem optimalen Ort, um Nervenzellaktivität zu messen. Wir wussten also, wo wir ungefähr suchen mussten. Trotzdem war es ein Stück weit ein Glücksspiel, und es hätte auch anders enden können. Doch fanden wir in der entorhinalen Hirnrinde ebenfalls Zellen, die feuern, wenn ein Tier an einem bestimmten Ort ist. Aber im Gegensatz zu den Ortszellen feuert jede dieser Zellen nicht nur an einem Ort, sondern an mehreren, und diese Orte formen ein strenges hexagonales Muster. Daher nannten wir die gefundenen Zellen Rasterzellen. Das Raster enthält Informationen über die Position des Tieres im Raum. Es entspricht etwa einem Koordinatensystem oder einem Rasterpapier eines Bauplans. Rasterzellen, Ortszellen und einige weitere Zelltypen bilden eine Karte der Aussenwelt in der Tiefe unseres Gehirns, mit der wir uns im Raum zurechtfinden. Das Interessante dabei: Das hexagonale Muster, welches durch das Aktivitätsfeld der Rasterzellen aufgespannt wird, entsteht nicht durch ein entsprechendes Muster der Aussenwelt. Es ist eine Eigenkreation des Gehirns.
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Zurück zum Gegenstand ihrer Forschung: Woher bekommen die Rasterzellen Informationen über den Aufenthaltsort des Tieres?
Das Muster des Rasters wird vom Gehirn selbst gebildet, doch benötigt es eine Aktualisierung von aussen. Die wichtigste Information stammt von unserer eigenen Bewegung. Wenn wir uns bewegen, senden unsere Muskeln Signale an das Gehirn. Dadurch erkennt das Gehirn, wie schnell wir sind und in welche Richtung es geht.
Sieht das Raster bei Tieren, die fliegen können, anders aus?
Kollegen in Israel untersuchen Orts- und Rasterzellen bei Fledermäusen. Krabbeln die Tiere, finden sie das bekannte Raster. Bei fliegenden Tieren generieren die Ortszellen ein kugelförmiges Feld. Wie sich die Rasterzellen im Flug verhalten, wird gerade untersucht.
Arbeiten auch andere Forscher in der «Mitte des Gehirns»?
Das Orientierungssystem ist zurzeit eines der wichtigsten Fenster in die inneren Gebiete des Gehirns, es ist aber nicht das einzige. Inzwischen beschäftigen sich Wissenschafter mit der Gehirnmitte, um höhere kognitive Leistungen des Gehirns zu untersuchen. Sie fragen etwa: Wie planen wir? Wie treffen wir Entscheidungen?
Welche Rolle spielen mathematische Modelle für Ihre Forschung?
Computational Neuroscience, also die computerbasierte Neurowissenschaft, hat in den letzten zwanzig Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Mathematische Modelle können die im Experiment gewonnenen Daten zusammenfügen und erlauben es, Vorhersagen zu treffen, wie sich ein Tier in einem weiteren Experiment verhalten wird. Wir überprüfen dann die Vorhersage im Labor und verfeinern mithilfe der Ergebnisse das Modell. Es ist ein Kreislauf, der uns ermöglicht, schneller und präziser zu Aussagen zu kommen. Das spart Zeit und Tierversuche.
Auch das Human Brain Project setzt auf Datenverarbeitung und Modellierung. Sie und Kollegen haben das Projekt jedoch in einem offenen Brief kritisiert.
Im Human Brain Project geht es vor allem um die Akkumulation von Daten, weniger um deren Verarbeitung. Das ist also ein anderer Ansatz, als wir ihn verfolgen. Interessanterweise hat die Mehrzahl der europäischen Forscher aus dem Bereich der computerbasierten Neurowissenschaft den Brief mit unterzeichnet.
Was ist Ihr nächster Schritt?
Wir wollen verstehen, wie das ganze Orientierungssystem zusammenhängt. Dafür müssen wir uns die Aktivität von vielen Tausenden Zellen gleichzeitig anschauen. Bis anhin kommen wir auf einige hundert Zellen. Mein Traumexperiment wäre, die Aktivität aller Zellen im Orientierungs-Schaltkreis gleichzeitig zu messen, während ein Tier von A nach B läuft. Anschliessend würden wir gezielt einzelne Zellen an- und ausschalten, um zu sehen, welche Konsequenzen dies auf das Verhalten des Tieres hat. Auf diese Art könnten wir den gesamten Schaltkreis verstehen. Die Techniken dazu stehen bereit. Indem man etwa lichtempfindliche Gene in Nervenzellen einschleust, wir nennen das Optogenetik, lässt sich die Aktivität der Nervenzellen an- und ausschalten. Die schwierige Denkarbeit beginnt, wenn uns die Menge an Informationen vorliegt. Dann müssen wir sinnvolle Ideen daraus generieren.
Um die Rasterzellen und ihr spezielles Aktivitätsmuster zu finden, waren viele kreative Schritte nötig. So entdeckten Sie beispielsweise das hexagonale Muster erst, als Sie die Test-Arena der Ratten vergrösserten. Was ist das Wichtigste, damit bahnbrechende Forschung gelingt?
Es ist sehr wichtig, anders als andere zu denken und Teile anders zusammenzusetzen, als es Vorgänger getan haben. Sicher, man muss auch hart arbeiten. Aber ich glaube nicht, dass man mehr erreicht, je mehr Zeit man abends im Labor verbringt. Du arbeitest, bis du denkst, dass es genug ist. Glück spielt auch eine Rolle. Viele Entdeckungen geschehen unerwartet. Allerdings muss man eine solche Entdeckung dann auch als etwas Besonderes erkennen können und etwas aus ihr machen. Dazu gehören eine gute Beobachtungsgabe und ein flexibler Geist.
Was machen Sie, wenn Sie nicht im Labor sind?
Ich gehe meist einmal in der Woche Bergwandern. Wenn ich weiter weg bin, klettere ich auch gerne auf Vulkane. Die Abende verbringe ich schon mal bei einem Jazzkonzert in Trondheim.
Nota. - Zunächst einmal: "Es ist wichtig, anders als andere zu denken" - nämlich wenn bahnbrechende Entdeckungen gelingen sollen. Für den Alltag auch eines Wissenschaftlers ist es ansonsten ratsam, es immer zuerst einmal mit den Methoden und Instrumenten zu versuchen, die sich bislang bewährt haben. Wenn man das lange genug geübt hat und dann an einem Punkt überhaupt nicht mehr weiterkommt - dann, ja dann muss man "anders als die andern" vorgehen.
Zur Sache: Dass es uns nicht freisteht, ob wir die Wirklichkeit, die uns umgibt, in den Modi von Raum und Zeit wahrnehmen, wurde nie bezweifelt. Dass es sich dabei aber um eine 'apriorische' Weichenstellung handele, die durch die Organisation unseres Wahrnehmungsapparats vorgegeben ist, hat vor über zweihundert Jahren für Aufregung gesorgt. Nun wissen wir: Es gibt eine 'Stelle' im Gehirn, die dafür sorgt, dass die dort ankommenden Sinnesdaten räumlich interpretiert werden.
Das wird wohl eine evolutionäre Anpassung des Gehirns an die vorgefundenen Lebensumstände gewesen sein. Es könnte daher immer noch so sein, dass die Welt selber "in Raum und Zeit zerfällt". Dem steht freilich die relativistische Auffassung vom Raum-Zeit-Kontinuum entgegen. Es muss also erklärt werden, warum in unserer Wahrnehmung das Kontinuum trotzdem in zwei Dimensionen "zerfällt". Es musste; nun ist es passiert. Nicht in Einsteins gekrümmtem Universum, aber in jener Mesosphäre, in der das Leben sich entwickelt hat, war es anscheinend vorteilhaft, die wirklichen Bewegungen so aufzufassen, als ob sie aus zwei 'Faktoren' zusammengesetzt wären.
JE
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