Montag, 11. März 2019

Intuition in der Physik.

redbubble
aus nzz.ch, 10. 3. 2019

Befreit sollst du sein, holde Physik:
Grundlegende Gedanken zur Versöhnung der Theorien
Die moderne Physik dreht sich um sich selbst. Doch wie kommt die Physik-Fliege aus dem Fliegenglas raus, in das sie Quanten- und Relativitätstheorie eingesperrt haben? Womöglich ausgerechnet durch die Rückkehr zur menschlichen Anschauung.  

von Hans Widmer 

«Not Even Wrong» lautet der böse Titel des Buches, das Peter Woit über eine Theorie der Physik schrieb, an der Tausende begabter Physiker laborieren, die jedoch keinerlei Aussicht auf experimentelle Bestätigung hat. Und Sabine Hossenfelder beschrieb unlängst in «Lost in Math», wie sich Physik in spekulative Theorien verstiegen hat und Bestätigung in mathematischer Schönheit sucht – statt, wie eigentliche Wissenschaft, im Experiment. Seit 1974 herrscht hektischer Stillstand, wenn auch inzwischen Messdaten verfeinert und mit milliardenschweren Projekten hundertjährige Erkenntnisse bestätigt wurden. Einige Physiker meinen, die tragenden grossen Theorien selbst stünden Durchbrüchen im Weg: Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Tatsächlich haben diese in einem Jahrhundert nichts von ihrer Rätselhaftigkeit abgelegt.

Der Student muss sich an sie gewöhnen; verstehen ist ausgeschlossen. Selbst ganz Grosse wie Richard P. Feynman und Steven Weinberg bekannten, dass sie die Quantenmechanik, die sie für ihre Nobel-gepriesenen Arbeiten benutzten, nicht verstünden. Und die Relativitätstheorie postuliert, dass Raum und Zeit verschwinden können – was nicht minder über allen Verstand hinausgeht, wie man im Versuch, Raum und Zeit wegzudenken, nachvollziehen kann.

Da Physik im menschlichen Gehirn konstruiert wird – die Natur braucht unsere Physik so wenig wie Berge die Namen, die wir ihnen geben –, stellt sich erst die Frage, was sie überhaupt erkennen könne. Lassen sich dann Auswege aus dem Stillstand ableiten? 

Erkenntnis in der Physik 

Physik erfasst Vorgänge mit willkürlichen, praktischen Begriffen, die nur stets das Gleiche bedeuten müssen. Beispielsweise definiert sie Masse über deren Widerstand gegen Beschleunigung, womit sie perfekt rechnen, jedoch in keiner Weise sagen kann, was Masse sei. Seit über 100 Jahren weiss sie, dass sich Materie aus Atomen, Atome aus Protonen, Neutronen und Elektronen, und seit bald 50 Jahren, dass sich diese aus einem Sortiment von 25 noch elementareren Teilchen zusammensetzen. Und der Leser ahnt die Falle: Aus welchem Stoff sind diese? Danach, woraus dieser Stoff?

Werden Theoretiker, die mit vibrierenden Fäden oder Membranen das Innerste von Materie zu erhellen versuchen, gefragt, was da vibriere, sagen sie, das sei Mathematik. Schon Relativitätstheorie und Quantenmechanik bauten auf Mathematik, der nichts Vorstellbares entsprach. Bald verselbständigte sich Mathematik, verführt durch Paul Dirac, der 1928 Masse ins Quadrat setzte, daraus die Wurzel zog, obligatorisch plus/minus vor das Ergebnis setzte und mit dem Minuszeichen korrekt die Antiteilchen voraussagte.

Doch ist Mathematik bloss ein Hilfsmittel, um Input in Output zu verarbeiten – ohne Input dreht sie leer. Statt Mathematik auf zwar funktionierenden, aber rätselhaften Formeln aufzutürmen, wäre der Gang zurück auf Feld eins aussichtsreicher: auf Anschauung. Der Physiker, der sich über Anschauung erhebt, sei daran erinnert, dass die Basis aller Mathematik Anschauung ist; dass das Kind deren algebraische, Ordnungs- und topologische Strukturen früh im Hantieren erlebt und intuitiv versteht; und dass alles künftige Verstehen auf Verstandenem baut oder angeklebt bleibt.

Soll dann der unverbildete Verstand nach etwas suchen, woraus alles ist? Nein, ja nicht, sondern vernünftiger: sich bloss etwas ausdenken, woraus sich alles darstellen lässt – wie Kinder im Sandkasten Burgen darstellen. Der Verstand kann das, was er beobachtet, nicht abgiessen und im Gehirn einlagern, sondern nur nachstellen und kommt dabei um einen Modellierstoff wie den Sand der Kinder nicht herum. So weit waren Anaximander mit dem Apeiron und Descartes mit dem Äther schon.

Enträtselung der Relativitätstheorie 

Hingegen mokierte sich Einstein über Descartes’ Äther, der die Funktion hatte, Licht zu übertragen. Der Laie darf sich diesen Äther als etwas wie Luft vorstellen, die ja Schallwellen überträgt. Kommt jedoch eine Lichtquelle – selbst mit grosser Geschwindigkeit – entgegen, so trifft ihr Licht mit derselben Geschwindigkeit beim Beobachter ein, wie es ausgesandt worden ist, was zu einer «Konstanz der Lichtgeschwindigkeit» führt, wie Messungen in den 1880er Jahren ergaben. Intuitiv hingegen würde man die Summe von Aussendungs- plus Eigengeschwindigkeit der Lichtquelle erwarten.

Einstein löste das Rätsel mit dem Geistesblitz, Raum und Zeit um die Lichtquelle herum zu verkürzen, so dass die Lichtgeschwindigkeit als Verhältnis von Weg zu Zeit zwar konstant bleiben, sich aber bis zur Ankunft beim Beobachter verlangsamen kann. Besinnung auf die Natur von Erkenntnis löst den Widerspruch zur Intuition auf: Raum und Zeit sind keine Erfahrung, sondern existieren vor jeder Erfahrung, sind im Gehirn zu Hause – nicht in der Wirklichkeit. Sie dienen als Koordinatensystem, in das man seine Erfahrungen einträgt. Kant nannte sie «Anschauung a priori». Während hinter Einsteins Dehnung von Raum und Zeit die Dehnung des von ihm verachteten «Äthers» steht.

Auf welche Weise bei Einstein Raum und Zeit verschwinden, veranschaulicht ein Analogon mit Schall anstelle von Licht: Ein Körper im Flug erzeugt Bugwellen. Diese bewegen sich mit Schallgeschwindigkeit von ihm weg. Erreicht er aber selber Schallgeschwindigkeit, schiebt er Wellenberg auf Wellenberg, die nicht mehr fliehen, weil sie sich nicht schneller als mit Schallgeschwindigkeit fortbewegen können. Damit schrumpfen räumlicher und Zeitabstand zwischen Wellenbergen auf null; und weil Einstein diese Abstände aus Sicht des Körpers als Mass für Raum und Zeit deklariert («Eigenzeit»), verschwinden die beiden.

Wird von einem Kontinuum ausgegangen, das nicht bloss ein undefinierter Äther, sondern exakt spezifiziert ist, nämlich durch die Fundamentalkonstanten (für den Physiker: c, G und h, korreliert mit Potenzial, Dichte und freier Weglänge), lassen sich sämtliche Ergebnisse der Relativitätstheorie ohne Einsteins in Bern entwickelte Mathematik herleiten.

Was! – Rückfall in die Äthertheorie? Gemach: Sowohl der Relativitätstheorie wie allen Feldtheorien der modernen Physik ist ein Kontinuum inne, nur schieben Physiker gern Mathematik vor, um sich nicht vor Einstein zu blamieren. Mit demselben Kontinuum lässt sich die Quantenmechanik rekonstruieren; es stellt sich sogar heraus, dass Quantenphänomene Phänomene der Relativität voraussetzen – während konventionell Quantenphysik und Relativitätstheorie für getrennte Welten gehalten werden. 

Enträtselung der Quantenmechanik 

Vor hundert Jahren wurde die Physik erschüttert, als sich zeigte, dass im Innersten aller Materie nichts mehr exakt, sondern alles nur noch mit Wahrscheinlichkeiten vorauszusagen ist; und dass es unerklärliche Zustände gibt wie zwischen Proton und Elektron des Wasserstoffatoms, die einander mit ihren entgegengesetzten Ladungen spontan auffressen müssten, sich aber in bestimmten Abständen voneinander friedlich einrichten. 1926 erriet Erwin Schrödinger in Zürich die magische Gleichung, womit seither Wahrscheinlichkeiten und Abstände berechnet werden können. Das Rätselhafte allerdings blieb, wurde damit sozusagen in Stein gemeisselt. Und Philosophie übte sich in Genieschwüngen, um es in ihr Weltbild zu integrieren.

Das Verschwinden von Kausalität aber schauderte Einstein: «Gott würfelt nicht.» Die Physik hält sich ans Gegenteil – und beide haben recht. Denn die Welt funktioniert auch im Innersten über das Kontinuum kausal, nur teilt sie dies nicht mit, was im Experiment aufs selbe hinausläuft. Richard P. Feynman schrieb: «Die ganze Theorie der Quantenmechanik [. . .] beruht auf der Richtigkeit der Unschärferelation», wonach Ort und Geschwindigkeit (genauer: Impuls) eines Teilchens nie zugleich scharf erkannt werden können.

Die Unschärfe lässt sich zwar niemals aufheben, jedoch klar verstehen. Im Kleinsten erfolgen Wechselwirkungen über Wellen. Erst eine Alltagsillustration für Unschärfe: Am Auf und Ab einer Boje kann nicht erkannt werden, ob ein Schiff schnell oder nahe vorbeigefahren ist. Und nun für den Physiker: Das Wellenpaket, das ein Teilchen repräsentiert, hat die doppelte Geschwindigkeit der das Paket umhüllenden Welle.

Das Teilchen bewegt sich folglich permanent durch seine umhüllende Welle hindurch, ohne jegliches Signal über seinen Ort darin, denn die umhüllende Welle bestimmt die Wechselwirkungen des Teilchens. Die Schrödinger-Gleichung kann diese zwar exakt berechnen, aber für den Teilchenort kann sie nur einen Rahmen angeben: ungefähr eine Wellenlänge. Und das ist die «Unschärfe». 

Unendlichkeit und Ewigkeit 

Wohl nimmt das Kleinkind die Eigenschaften «näher» und «entfernter» von Gegenständen wahr, früher oder später von Ereignissen, jedoch bildet es die Vorstellungen einer von ihm unabhängigen Zeit sowie eines von ihm unabhängigen Raumes erst gegen Schulbeginn aus, dann aber irreversibel. Wie war ich baff als Kind, als jemand von «hinter dem Haus» sprach und mir bewusst wurde, dass der Ort auch existierte, wenn ich nicht dort war.

Wer sich fragt, was Raum und Zeit seien, stellt bald fest, dass sie auf nichts zurückzuführen sind, sondern einfach die Koordinaten darstellen, auf denen der Verstand seine Erfahrungen einordnet. Als solche laufen sie unvermeidlich ins Unendliche bzw. in die Ewigkeit. Doch ist das Universum endlich. Wie ist der Widerspruch aufzulösen? Wiederum durch die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Anschauung: Der Verstand stellt sich ein endliches Universum im als unendlich angeschauten Raum vor.

Wenn sich alles, was Relativitätstheorie und Quantenmechanik an Rätseln vorlegen, bei deren Herleitung aus dem spezifischen Kontinuum von selbst auflöst, könnte danach noch das Kontinuum als Rätsel gelten. Doch ist dieses der willkürliche Modellierstoff des Physikers – und damit kein Rätsel. Und was die «Realität» sei, die es nachmodelliert, ist schon gar kein Rätsel, sondern ist das fundamental Unerkennbare. Während Rätsel der Lösung harren, liegt das Unerkennbare jenseits der Erkenntnisgrenzen, wo man es, mit Konfuzius, unbesorgt liegenlassen darf.

Wenn sich Physiker vom hundertjährigen Paradigma lösen würden, Physik könne nicht verstanden, nur mit bruchstückhafter Mathematik plus zurechtgebogenen Parametern beschrieben werden, würden sie frei, ausserhalb ihres Fliegenglases nach weniger «hässlichen Theorien» zu suchen. Wenn sie beispielsweise prüfen würden, ob das Kontinuum, das aller Physik unterlegt ist – sie besteht ja aus Feldtheorien, und ein Feld kann nicht aus nichts sein –, vielleicht stets dasselbe sei, würden sie möglicherweise erkennen, dass sich daraus alle experimentell gesicherte Physik aus einem Guss ableiten lässt.

In Princeton verkündete Einstein 1921, die Physik müsste «Raum und Zeit aus dem Olymp des [Kant’schen] Apriori» herunterholen – könnte sein, dass Kant nun die Physik aus dem Olymp selbstreferenzieller Mathematik herunterholen muss. Mit dem Kollateralgewinn, dass sich umso grössere mathematische Schönheit einstellt, je treffender die Anschauung die Natur erfasst.

Hans Widmer wurde in Nuklearphysik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, in Nuklearphysik promoviert und ist Autor u. a. von «Grundzüge der deduktiven Physik: Fundament für die grossen Theorien der Physik» (rüffer & rub, Zürich 2013).


Nota. - Material des Symbols, des mathematischen wie des begrifflichen, ist die Vorstellung - die ihrerseits das als dauerhaft fixierte Bild einer flüchtigen Anschauung ist. Angeschaut wird Veränderung ('Bewegung') vor einem ruhenden Grund. Das ist das Material, das unsere symbolischen - mathematischen wie begriff- lichen - Konstruktionen wiedergeben sollen. 

Das Symbol ist nicht das Bild, sondern repräsentiert es nur. Es ist ein digital transfiguriertes Analogon. Mit den digits lässt sich operieren, als wären sie aus einem ganz andern Stoff als die analogen Bilder. Und lassen sich Ergebnisse erzielen, die vorher nicht möglich waren. Solange das gelingt, gibt es keine Notwendigkeit, sie in den anschaulichen analogen Modus zurück zu übersetzen.

Sie sind aber eben nur Stellvertreter und haben keine eigene Realität. Wenn ihr operatives Potenzial er- schöpft ist, beweist das nichts anderes als - dass ihr Potenzial erschöpft ist. Dann muss man allerdings nach neuen Vorstellungen suchen. Andere Bilder wären durch andere Digits zu symbolisieren. Ob neue Operatio- nen dadurch wirklich möglich werden, muss man ausprobieren, wie soll es anders gehen? Man muss, wie der Autor treffend sagt, aus dem Olymp der Symbole wieder in die Niederungen der Anschauungen herabsteigen und neu anfangen. Ob der Zeitpunkt gekommen ist, müssen aber die Physiker unter sich ausmachen.
JE 

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