aus nzz.ch, 10. 3. 2019
Befreit sollst du sein, holde Physik:
Grundlegende Gedanken zur Versöhnung der Theorien
Die moderne Physik dreht sich um sich selbst. Doch wie kommt die Physik-Fliege aus dem Fliegenglas raus, in das sie Quanten- und Relativitätstheorie eingesperrt haben? Womöglich ausgerechnet durch die Rückkehr zur menschlichen Anschauung.
von Hans Widmer
«Not Even Wrong» lautet der böse Titel des Buches, das Peter Woit über eine Theorie der Physik schrieb, an der Tausende begabter Physiker laborieren, die jedoch keinerlei Aussicht auf experimentelle Bestätigung hat. Und Sabine Hossenfelder beschrieb unlängst in «Lost in Math», wie sich Physik in spekulative Theorien verstiegen hat und Bestätigung in mathematischer Schönheit sucht – statt, wie eigentliche Wissenschaft, im Experiment. Seit 1974 herrscht hektischer Stillstand, wenn auch inzwischen Messdaten verfeinert und mit milliardenschweren Projekten hundertjährige Erkenntnisse bestätigt wurden. Einige Physiker meinen, die tragenden grossen Theorien selbst stünden Durchbrüchen im Weg: Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Tatsächlich haben diese in einem Jahrhundert nichts von ihrer Rätselhaftigkeit abgelegt.
Der Student muss sich an sie gewöhnen; verstehen ist ausgeschlossen. Selbst ganz Grosse wie Richard P. Feynman und Steven Weinberg bekannten, dass sie die Quantenmechanik, die sie für ihre Nobel-gepriesenen Arbeiten benutzten, nicht verstünden. Und die Relativitätstheorie postuliert, dass Raum und Zeit verschwinden können – was nicht minder über allen Verstand hinausgeht, wie man im Versuch, Raum und Zeit wegzudenken, nachvollziehen kann.
Da
Physik im menschlichen Gehirn konstruiert wird – die Natur braucht
unsere Physik so wenig wie Berge die Namen, die wir ihnen geben –,
stellt sich erst die Frage, was sie überhaupt erkennen könne. Lassen
sich dann Auswege aus dem Stillstand ableiten?
Erkenntnis in der Physik
Physik
erfasst Vorgänge mit willkürlichen, praktischen Begriffen, die nur
stets das Gleiche bedeuten müssen. Beispielsweise definiert sie Masse
über deren Widerstand gegen Beschleunigung, womit sie perfekt rechnen,
jedoch in keiner Weise sagen kann, was Masse sei. Seit über 100 Jahren
weiss sie, dass sich Materie aus Atomen, Atome aus Protonen, Neutronen
und Elektronen, und seit bald 50 Jahren, dass sich diese aus einem
Sortiment von 25 noch elementareren Teilchen zusammensetzen. Und der
Leser ahnt die Falle: Aus welchem Stoff sind diese? Danach, woraus
dieser Stoff?
Werden
Theoretiker, die mit vibrierenden Fäden oder Membranen das Innerste von
Materie zu erhellen versuchen, gefragt, was da vibriere, sagen sie, das
sei Mathematik. Schon Relativitätstheorie und Quantenmechanik bauten
auf Mathematik, der nichts Vorstellbares entsprach. Bald
verselbständigte sich Mathematik, verführt durch Paul Dirac, der 1928
Masse ins Quadrat setzte, daraus die Wurzel zog, obligatorisch
plus/minus vor das Ergebnis setzte und mit dem Minuszeichen korrekt die
Antiteilchen voraussagte.
Doch
ist Mathematik bloss ein Hilfsmittel, um Input in Output zu verarbeiten
– ohne Input dreht sie leer. Statt Mathematik auf zwar
funktionierenden, aber rätselhaften Formeln aufzutürmen, wäre der Gang
zurück auf Feld eins aussichtsreicher: auf Anschauung. Der Physiker, der
sich über Anschauung erhebt, sei daran erinnert, dass die Basis aller
Mathematik Anschauung ist; dass das Kind deren algebraische, Ordnungs-
und topologische Strukturen früh im Hantieren erlebt und intuitiv
versteht; und dass alles künftige Verstehen auf Verstandenem baut oder
angeklebt bleibt.
Soll dann der unverbildete Verstand nach etwas suchen, woraus alles ist? Nein, ja nicht, sondern vernünftiger: sich bloss etwas ausdenken, woraus sich alles darstellen lässt
– wie Kinder im Sandkasten Burgen darstellen. Der Verstand kann das,
was er beobachtet, nicht abgiessen und im Gehirn einlagern, sondern nur
nachstellen und kommt dabei um einen Modellierstoff wie den Sand der
Kinder nicht herum. So weit waren Anaximander mit dem Apeiron und
Descartes mit dem Äther schon.
Enträtselung der Relativitätstheorie
Hingegen
mokierte sich Einstein über Descartes’ Äther, der die Funktion hatte,
Licht zu übertragen. Der Laie darf sich diesen Äther als etwas wie Luft
vorstellen, die ja Schallwellen überträgt. Kommt jedoch eine Lichtquelle
– selbst mit grosser Geschwindigkeit – entgegen, so trifft ihr Licht
mit derselben Geschwindigkeit beim Beobachter ein, wie es ausgesandt
worden ist, was zu einer «Konstanz der Lichtgeschwindigkeit» führt, wie
Messungen in den 1880er Jahren ergaben. Intuitiv hingegen würde man die
Summe von Aussendungs- plus Eigengeschwindigkeit der Lichtquelle
erwarten.
Einstein
löste das Rätsel mit dem Geistesblitz, Raum und Zeit um die Lichtquelle
herum zu verkürzen, so dass die Lichtgeschwindigkeit als Verhältnis von
Weg zu Zeit zwar konstant bleiben, sich aber bis zur Ankunft beim
Beobachter verlangsamen kann. Besinnung auf die Natur von Erkenntnis
löst den Widerspruch zur Intuition auf: Raum und Zeit sind keine
Erfahrung, sondern existieren vor jeder Erfahrung, sind im
Gehirn zu Hause – nicht in der Wirklichkeit. Sie dienen als
Koordinatensystem, in das man seine Erfahrungen einträgt. Kant nannte
sie «Anschauung a priori». Während hinter Einsteins Dehnung von Raum und
Zeit die Dehnung des von ihm verachteten «Äthers» steht.
Auf
welche Weise bei Einstein Raum und Zeit verschwinden, veranschaulicht
ein Analogon mit Schall anstelle von Licht: Ein Körper im Flug erzeugt
Bugwellen. Diese bewegen sich mit Schallgeschwindigkeit von ihm weg.
Erreicht er aber selber Schallgeschwindigkeit, schiebt er Wellenberg auf
Wellenberg, die nicht mehr fliehen, weil sie sich nicht schneller als
mit Schallgeschwindigkeit fortbewegen können. Damit schrumpfen
räumlicher und Zeitabstand zwischen Wellenbergen auf null; und weil
Einstein diese Abstände aus Sicht des Körpers als Mass für Raum und Zeit
deklariert («Eigenzeit»), verschwinden die beiden.
Wird
von einem Kontinuum ausgegangen, das nicht bloss ein undefinierter
Äther, sondern exakt spezifiziert ist, nämlich durch die
Fundamentalkonstanten (für den Physiker: c, G und h, korreliert mit
Potenzial, Dichte und freier Weglänge), lassen sich sämtliche Ergebnisse
der Relativitätstheorie ohne Einsteins in Bern entwickelte Mathematik
herleiten.
Was! –
Rückfall in die Äthertheorie? Gemach: Sowohl der Relativitätstheorie wie
allen Feldtheorien der modernen Physik ist ein Kontinuum inne, nur
schieben Physiker gern Mathematik vor, um sich nicht vor Einstein zu
blamieren. Mit demselben Kontinuum lässt sich die Quantenmechanik
rekonstruieren; es stellt sich sogar heraus, dass Quantenphänomene
Phänomene der Relativität voraussetzen – während konventionell
Quantenphysik und Relativitätstheorie für getrennte Welten gehalten
werden.
Enträtselung der Quantenmechanik
Vor
hundert Jahren wurde die Physik erschüttert, als sich zeigte, dass im
Innersten aller Materie nichts mehr exakt, sondern alles nur noch mit
Wahrscheinlichkeiten vorauszusagen ist; und dass es unerklärliche
Zustände gibt wie zwischen Proton und Elektron des Wasserstoffatoms, die
einander mit ihren entgegengesetzten Ladungen spontan auffressen
müssten, sich aber in bestimmten Abständen voneinander friedlich
einrichten. 1926 erriet Erwin Schrödinger in Zürich die magische
Gleichung, womit seither Wahrscheinlichkeiten und Abstände berechnet
werden können. Das Rätselhafte allerdings blieb, wurde damit sozusagen
in Stein gemeisselt. Und Philosophie übte sich in Genieschwüngen, um es
in ihr Weltbild zu integrieren.
Das
Verschwinden von Kausalität aber schauderte Einstein: «Gott würfelt
nicht.» Die Physik hält sich ans Gegenteil – und beide haben recht. Denn
die Welt funktioniert auch im Innersten über das Kontinuum kausal, nur
teilt sie dies nicht mit, was im Experiment aufs selbe hinausläuft.
Richard P. Feynman schrieb: «Die ganze Theorie der Quantenmechanik
[. . .] beruht auf der Richtigkeit der Unschärferelation», wonach Ort
und Geschwindigkeit (genauer: Impuls) eines Teilchens nie zugleich
scharf erkannt werden können.
Die
Unschärfe lässt sich zwar niemals aufheben, jedoch klar verstehen. Im
Kleinsten erfolgen Wechselwirkungen über Wellen. Erst eine
Alltagsillustration für Unschärfe: Am Auf und Ab einer Boje kann nicht
erkannt werden, ob ein Schiff schnell oder nahe vorbeigefahren ist. Und
nun für den Physiker: Das Wellenpaket, das ein Teilchen repräsentiert,
hat die doppelte Geschwindigkeit der das Paket umhüllenden Welle.
Das
Teilchen bewegt sich folglich permanent durch seine umhüllende Welle
hindurch, ohne jegliches Signal über seinen Ort darin, denn die
umhüllende Welle bestimmt die Wechselwirkungen des Teilchens. Die
Schrödinger-Gleichung kann diese zwar exakt berechnen, aber für den
Teilchenort kann sie nur einen Rahmen angeben: ungefähr eine
Wellenlänge. Und das ist die «Unschärfe».
Unendlichkeit und Ewigkeit
Wohl
nimmt das Kleinkind die Eigenschaften «näher» und «entfernter» von
Gegenständen wahr, früher oder später von Ereignissen, jedoch bildet es
die Vorstellungen einer von ihm unabhängigen Zeit sowie eines von ihm
unabhängigen Raumes erst gegen Schulbeginn aus, dann aber irreversibel.
Wie war ich baff als Kind, als jemand von «hinter dem Haus» sprach und
mir bewusst wurde, dass der Ort auch existierte, wenn ich nicht dort
war.
Wer sich fragt,
was Raum und Zeit seien, stellt bald fest, dass sie auf nichts
zurückzuführen sind, sondern einfach die Koordinaten darstellen, auf
denen der Verstand seine Erfahrungen einordnet. Als solche laufen sie
unvermeidlich ins Unendliche bzw. in die Ewigkeit. Doch ist das
Universum endlich. Wie ist der Widerspruch aufzulösen? Wiederum durch
die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Anschauung: Der Verstand
stellt sich ein endliches Universum im als unendlich angeschauten Raum
vor.
Wenn sich
alles, was Relativitätstheorie und Quantenmechanik an Rätseln vorlegen,
bei deren Herleitung aus dem spezifischen Kontinuum von selbst auflöst,
könnte danach noch das Kontinuum als Rätsel gelten. Doch ist dieses der
willkürliche Modellierstoff des Physikers – und damit kein Rätsel. Und
was die «Realität» sei, die es nachmodelliert, ist schon gar kein
Rätsel, sondern ist das fundamental Unerkennbare. Während Rätsel der
Lösung harren, liegt das Unerkennbare jenseits der Erkenntnisgrenzen, wo
man es, mit Konfuzius, unbesorgt liegenlassen darf.
Wenn
sich Physiker vom hundertjährigen Paradigma lösen würden, Physik könne
nicht verstanden, nur mit bruchstückhafter Mathematik plus
zurechtgebogenen Parametern beschrieben werden, würden sie frei,
ausserhalb ihres Fliegenglases nach weniger «hässlichen Theorien» zu
suchen. Wenn sie beispielsweise prüfen würden, ob das Kontinuum, das
aller Physik unterlegt ist – sie besteht ja aus Feldtheorien, und ein
Feld kann nicht aus nichts sein –, vielleicht stets dasselbe sei, würden
sie möglicherweise erkennen, dass sich daraus alle experimentell
gesicherte Physik aus einem Guss ableiten lässt.
In
Princeton verkündete Einstein 1921, die Physik müsste «Raum und Zeit
aus dem Olymp des [Kant’schen] Apriori» herunterholen – könnte sein,
dass Kant nun die Physik aus dem Olymp selbstreferenzieller Mathematik
herunterholen muss. Mit dem Kollateralgewinn, dass sich umso grössere
mathematische Schönheit einstellt, je treffender die Anschauung die
Natur erfasst.
Hans Widmer wurde in Nuklearphysik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, in Nuklearphysik promoviert und ist Autor u. a. von «Grundzüge der deduktiven Physik: Fundament für die grossen Theorien der Physik» (rüffer & rub, Zürich 2013).
Nota. - Material des Symbols, des mathematischen wie des begrifflichen, ist die Vorstellung - die ihrerseits das als dauerhaft fixierte Bild einer flüchtigen Anschauung ist. Angeschaut wird Veränderung ('Bewegung') vor einem ruhenden Grund. Das ist das Material, das unsere symbolischen - mathematischen wie begriff- lichen - Konstruktionen wiedergeben sollen.
Das Symbol ist nicht das Bild, sondern repräsentiert es nur. Es ist ein digital transfiguriertes Analogon. Mit den digits lässt sich operieren, als wären sie aus einem ganz andern Stoff als die analogen Bilder. Und lassen sich Ergebnisse erzielen, die vorher nicht möglich waren. Solange das gelingt, gibt es keine Notwendigkeit, sie in den anschaulichen analogen Modus zurück zu übersetzen.
Sie sind aber eben nur Stellvertreter und haben keine eigene Realität. Wenn ihr operatives Potenzial er- schöpft ist, beweist das nichts anderes als - dass ihr Potenzial erschöpft ist. Dann muss man allerdings nach neuen Vorstellungen suchen. Andere Bilder wären durch andere Digits zu symbolisieren. Ob neue Operatio- nen dadurch wirklich möglich werden, muss man ausprobieren, wie soll es anders gehen? Man muss, wie der Autor treffend sagt, aus dem Olymp der Symbole wieder in die Niederungen der Anschauungen herabsteigen und neu anfangen. Ob der Zeitpunkt gekommen ist, müssen aber die Physiker unter sich ausmachen.
JE
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