Samstag, 30. März 2019

Die verblüfffende Macht der Sprache.

Aus aktuellen Büchern: Leseprobe von
 Springer
  deviantart
aus spektrum.de, 20. 3. 2019

Sprachpsychologie:  
Die verblüffende Macht der Sprache

Dieses Buch beschreibt die Mechanismen der Sprachverarbeitung im Gehirn – dem Dreh- und Angelpunkt für die Wortwirkung. Dort wird entschieden, was Worte beim Empfänger auslösen und welche Reaktionsketten sein Verhalten triggern. Worte wirken im Gehirn wie ein Medikament – nur schneller und zuverlässiger. Das Wissen um diese Mechanismen macht jede Kommunikation wirksamer und einfacher.

von Hans Eicher 

... 3. Wie aus Worten Verhalten entsteht

Ob am Anfang das Wort war, wie die Bibel verkündet, oder ob es die Tat gewesen ist, wie es in Goethes Faust heißt, das wissen wir nicht. Fest steht allerdings, dass Worte Taten auslösen, seit es die Sprache gibt – von den Urlauten unserer Vorfahren bis in die Jetztzeit. Darin besteht ihre biologische Funktion.

Was sind die auslösenden Gründe für das Verhalten eines Menschen? Dieses Thema beschäftigt die Menschheit wohl seit Tausenden von Jahren. Im engeren Sinn steht hier die Frage im Mittelpunkt, warum sich jemand in einer bestimmten Situation so verhält, wie er es eben tut, und nicht anders. Warum bleibt beispielsweise ein Diskussionsteilnehmer bei einem verbalen Angriff auf seine Person ruhig und besonnen, während ein anderer emotional antwortet und »in den Saft geht«? Liegen solche Unterschiede zwischen Reaktionsweisen an der Persönlichkeit und den Eigenschaften eines Menschen, an der aktuellen Stimmungslage oder an seiner Intelligenz? Muss ein Mensch zwangsläufig so handeln und reagieren, weil er keine andere Wahl hat? Diese Fragen klärt Kap. 3. So lässt sich besser verstehen, wie Worte ein Verhalten auslösen, es bestimmen oder blockieren können.


3.1 Das Rätsel der Verhaltensunterschiede
 
In den letzten hundert Jahren entstanden unzählige wissenschaftliche Modelle, die das »Warum« des Verhaltens eines Menschen auf unterschiedliche Weise erklären. Eine verwirrende Begriffsvielfalt verkompliziert die Vergleichbarkeit der Aussagen dieser Modelle, wie folgende Beispiele deutlich machen: Charakter, Persönlichkeit, Temperament, Eigenschaften, das Unterbewusste, Motive, Instinkte, innere Antreiber, Einstellung, Emotionen, Psyche, Geist, Intelligenz, kognitive Verstandesfunktionen, Seele (im religiösen Sinn verstanden), genetische Veranlagung, frühkindliche und verhaltensprägende Umwelt.
 

Außerhalb der Wissenschaft gibt es sogar die Meinung, das Sternkreiszeichen und die Aszendenten bestimmen, wie sich ein Mensch verhält. In der christlichen Terminologie wiederum spielen der »Heilige Geist« und sein Gegenspieler »Satan« eine wichtige Rolle für die Erklärung des menschlichen Verhaltens. Abhängig vom jeweiligen Erklärungsmodell wird die Frage, bis zu welchem Grad der Mensch einen freien Willen hat, unterschiedlich beantwortet. Steht zum Beispiel die Macht der Gene, sprich die genetische Veranlagung im Fokus, engt sich der Verhaltensspielraum durch freie Willensentscheidungen ein. Damit wäre biologisch weitgehend vorgegeben, wie sich ein Mensch beispielsweise in einem Streitgespräch verhält: ob er sich schmollend zurückzieht, ob er die »Wasserkraft« der Tränen einsetzt, um das Gegenüber umzustimmen, oder ob er mit seinen Worten Öl ins Feuer gießt und sie zum Brandbeschleuniger werden.

Manche Gehirnforscher und einige Philosophen spekulieren sogar, dass es keinen absolut freien Willen gäbe. Ausgangspunkt für diese Annahme ist unter anderem die folgende Beobachtung: Im Gehirn können bereits elektrische Impulse registriert werden, die eine Handlung einleiten und ihr vorausgehen, bevor die entsprechende Absicht bewusst wird, diese Handlung auch konkret ausführen zu wollen. Wenn Sie beispielsweise eine Tasse Kaffee trinken möchten, wird Ihnen das erst bewusst, nachdem Ihr Gehirn bereits die entsprechenden physiologischen Vorbereitungen für die dafür notwendigen Bewegungsabläufe vorgenommen hat – zur Kaffeemaschine gehen usw. Dies klingt so, als ob Ihr Gehirn entschieden hätte, dass Sie einen Kaffee trinken sollen und Ihnen das anschließend als Gedanken bewusst macht. Andere Wissenschaftler wiederum vertreten die These, das Gehirn könne in der Entwicklung so gepolt worden sein, dass sich ein Mensch gar nicht anders verhalten könne, als er sich tatsächlich verhält. Sein Gehirn ließe ihm praktisch keine andere Wahl. Mir stellt sich hier die Frage: Wozu hat die Evolution dann den Menschen als ein vernunftbegabtes Wesen mit einem Bewusstsein und dem Verstand ausgestattet, der Entscheidungen treffen kann, der Recht von Unrecht und Gut von Böse trennen kann? Durch einen Witz wird die Spekulation, dass selbst psychisch gesunde Menschen keinen absolut freien Willen hätten, jedoch ad absurdum geführt: Ein psychisch unauffälliger Einbrecher steht vor Gericht. Er sagt zum Richter: »Ich bin unschuldig, weil ich mich gegen den Impuls meines Gehirns nicht wehren konnte, diese Tat zu begehen. Es war nicht meine freie Willensentscheidung, in die Villa einzubrechen.« Der Richter antwortet: »Das gestehe ich Ihnen durchaus zu. Ich würde Sie deshalb auch gerne freisprechen. Leider habe auch ich keinen freien Willen. Der Impuls meines Gehirns lautet: Zwei Jahre Gefängnis, unbedingt.« 

3.1.1 Wovon das Verhalten eines Menschen abhängt

Die vielen Versuche innerhalb und außerhalb der Wissenschaft, Menschen einer bestimmten Typologie zwingend zuordnen, sind in letzter Konsequenz zum Scheitern verurteilt. Solche Typologien sind zwar sehr populär, doch Tatsache ist, dass sich keine zwei Menschen finden lassen, die gleich denken, fühlen und handeln. Es gibt derzeit also rund 7,2 Mrd. »Typen« auf unserem Planeten. Keiner von ihnen hat einen identischen Gehirninhalt. Daher kann es auch keine Verhaltenszwillinge geben, die sich schematisch einer Typologie zuordnen ließen.

Spektrum Kompakt:  Sprache – Von fremden Worten und vertrauten Klängen

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Persönlichkeitstypologien suggerieren, man könne Menschen damit nicht nur besser verstehen und einordnen, sondern sogar vorhersehen, wie sich ein Mensch verhält und typischerweise reagieren würde. All diesen Typologien ist jedoch gemeinsam, dass sie nur gewisse Teilaspekte menschlicher Verhaltensweisen abbilden: ob sich ein Mensch in einem Gespräch eher introvertiert oder extravertiert verhält, ob er gewissenhaft und zuverlässig ist oder zur Oberflächlichkeit neigt. Gänzlich falsch sind solche Typologien nie. Doch es ist bislang keiner überzeugend gelungen, Menschen mit allen individuellen Eigenschaften in ihrer Gesamtheit zu erfassen und abzubilden. Dies ist wenig überraschend, da es in der Wissenschaft keine Einigung darüber gibt, woraus die Persönlichkeit besteht; was sie prägt und formt und welcher Anteil dabei den Genen tatsächlich zuzuschreiben ist.

3.1.1.1 Verhalten und Persönlichkeit

Unter dem Begriff »Persönlichkeit« lässt sich die Summe der Eigenschaften und die Wertehaltung eines Menschen verstehen, die seine Einstellung zu wichtigen Fragen des Lebens bestimmt. Von der Persönlichkeit hängt sein Verhalten maßgeblich ab. Sie entsteht in einem nicht gänzlich geklärten Wechselspiel zwischen der genetischen Ausstattung und den frühen Lebenserfahrungen. Im Alter von sechs bis acht Jahren sind ihre Grundfeste errichtet, auch wenn das Gehirnwachstum noch nicht gänzlich abgeschlossen ist. Auf diesem Fundament baut ihre weitere Entwicklung auf. Im Gehirn selbst gibt es allerdings kein scharf abgegrenztes Areal, das auf der anatomischen Landkarte als Sitz der Persönlichkeit bezeichnet werden könnte. Sie entsteht im Zusammenwirken der einzelnen Gehirnregionen. Neuere Forschungsergebnisse zeigen: Das Gehirn ermöglicht bis ins hohe Alter neue Lernerfahrungen. Daher kann sich ein Mensch Zeit seines Lebens persönlich weiterentwickeln. Seine Grundpersönlichkeit bleibt dabei jedoch sehr stabil.

Wenn Sie bereits an einem Klassentreffen teilgenommen haben, ist Ihnen vermutlich aufgefallen, dass sich die hervorstechenden Persönlichkeitszüge der einstigen Schulkameraden nicht merklich verändert haben. Es kann natürlich sein, dass ein früherer »Heißsporn« in seinem Kommunikationsverhalten nun etwas gemäßigter wirkt und ein schüchterner Mitschüler später verbal überzeugen kann. Beides ist das Resultat einer Entwicklung in Teilbereichen seiner Person in Abhängigkeit von sozialen Lernerfahrungen. Die Grundpersönlichkeit, deren Eigenschaften bereits im frühen Alter sichtbar sind und die im Lauf der Jahre immer deutlicher hervortreten, ändert sich jedoch nicht. Nur schwere psychische Erkrankungen, etwa die Schizophrenie, oder gravierende Lebenskrisen – sieht man von religiösen Bekehrungen ab – können sie in den Grundfesten erschüttern und zu ihrer nachhaltigen Veränderung führen. Je älter ein Mensch wird, desto deutlicher zeigen sich seine in der Kindheit ausgebildeten Grundeigenschaften. So wird beispielsweise ein Mensch, der auf neue Situationen immer offen zuging, dies auch im Alter tun und sich neue Interessensgebiete erschließen. Oder, um ein zweites Beispiel zu nennen: Ein früh vorhandenes und stark ausgeprägtes Sicherheitsstreben kann später zum Altersgeiz mutieren, obwohl dafür keine wirtschaftliche Notwendigkeit besteht.

Prägender Kommunikationsstil der Eltern

Der überwiegend eingesetzte Kommunikationsstil der Eltern und der frühen Bezugspersonen wirkt sich prägend auf den ihrer Kinder aus. Er kann zum Beispiel lösungsorientiert und wertschätzend oder konfliktvermeidend und schuldzuweisend sein. Das Kommunikationsverhalten der Eltern spiegelt sich in ihren Kindern deutlich und unverkennbar wider. Vermittelt ein Mensch mit seiner Sprache vorwiegend Wertschätzung, so lässt sich davon ausgehen, dass ein wertschätzender Umgang in seiner Familie die Regel war. Ein negatives Beispiel hingegen: Spielt ein Gesprächspartner gerne den Ankläger, saß er als Kind selbst häufig auf der »Anklagebank«. Der Kommunikationsstil der Eltern spielt also eine große Rolle, wie ihre Kinder die Sprache später als Erwachsene einsetzen; als Werkzeug und Taktgeber zur Lösung von Problemstellungen und als Medium, das bei anderen Menschen gute Gefühle auslöst – was wie ein Heilmittel wirken kann. Oder Sprache wird immer wieder als Waffe verwendet, die Menschen verletzt, ihr Selbstwertgefühl untergräbt und ihre Person sowie ihr Verhalten mit Worten negativ bewertet.

3.1.1.2 Verhaltenssteuernde Bedürfnisse 

Von der Persönlichkeit eines Menschen und seinen Eigenschaften wird bestimmt, welche speziellen Bedürfnisse in ihm entstehen und auf welche Weise sie befriedigt werden. Selbst bei den biologisch vorgegebenen Grundbedürfnissen, wie essen und schlafen, gibt es unterschiedliche Gewohnheiten und Vorlieben.

Die Persönlichkeit ist der Ausgangspunkt für die Interessen eines Menschen und für seine Bedürfnisse und Motive, die ihn – bewusst oder unbewusst – antreiben. Je wichtiger dabei ein Ziel für einen Menschen ist, umso intensiver ist sein Streben, den gewünschten Zielzustand zu erreichen. Hält jemand ein Ziel für nicht erreichbar, obwohl es innerhalb des Möglichen liegt, wirken Worte wie »Das schaffst du nie!« gleichsam als Befehl und Aufforderung an das Gehirn, von diesem Ziel wieder abzulassen. »Negatives Hellsehen« hat die gleiche Wirkung. Das sind Gedanken, die einen Menschen glauben lassen, er könne ein Ziel nicht erreichen, beispielsweise: »Ich fürchte, da habe ich keine Chance.«

Die Bedürfnisse und Wünsche eines Menschen sind stets von Gefühlen begleitet. Anderenfalls wären es nur abstrakte Vorstellungen, die keine Bedeutung für das eigene Verhalten hätten. Gute Gefühle wie Freude und Hoffnung wirken wie ein Brennstoff für das Verhalten und motivieren, an einem Ziel festzuhalten. Entstehen schlechte Gefühle, wie Ängstlichkeit und Mutlosigkeit, so wird die Energiezufuhr für das Verhalten gedrosselt und ein Ziel meist aufgegeben. Viele Bedürfnisse sind vorwiegend emotionaler Natur, zum Beispiel Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten oder als der Mensch, der man ist, verstanden und akzeptiert zu werden.

Da es keine zwei gleichen Menschen gibt, sind ihre Bedürfnisse und Motive, die dem Verhalten zugrunde liegen, auch niemals völlig identisch. Selbst eineiige Zwillinge unterscheiden sich hier, indem sie beispielsweise nicht denselben Beruf ausüben und ihre Ehepartner sehr unterschiedlich im Wesen und Aussehen sein können.
 
Ungeachtet der vielen Erklärungsmodelle über das menschliche Verhalten basiert die Verhaltenssteuerung durch das Gehirn auf einem einfachen Grundmechanismus: Die Persönlichkeit eines Menschen bestimmt, welche persönlichen Bedürfnisse er hat, und das Gehirn entscheidet vor dem Hintergrund des abgespeicherten Wissens und der vorhandenen Erfahrungen, in welche Weise diese Bedürfnisse am besten erfüllt werden könnten. Bei solchen Entscheidungen, die ein Mensch auch weitgehend unbewusst treffen kann, wird der erforderliche Aufwand dem erwarteten Nutzen gegenübergestellt. Fällt der Saldo positiv aus, ist der Nutzen also größer als der Aufwand, löst das Gehirn jenes Verhalten aus, das am erfolgversprechendsten erscheint. Ist der Saldo ungewiss, weil ein Restrisiko besteht, ob ein Verhalten zum Erfolg führt, zeigt sich das als Zögern und als gespaltene Gefühlslage – als Ambivalenz: »Soll ich, soll ich nicht?« Menschen, die generell entscheidungsfreudiger und nicht allzu risikoaversiv sind, werden sich dann trotzdem entscheiden. Vorsichtige und sehr bedächtige Menschen schieben hingegen eine Entscheidung auf, wenn ungewiss bleibt, ob ihr Verhalten Erfolg haben wird.

Wurde das jeweilige Verhalten ausgelöst, so hat dieses stets das Ziel, die vorhandenen Bedürfnisse auf eine individuelle Weise zu befriedigen. Misslingt das, so ist das Gehirn frustriert und der Mensch enttäuscht.

Nachdem das Verhalten eines Menschen stets der Ort ist, an dem bewusst oder unbewusst getroffene Entscheidungen sichtbar werden, lässt sich schlussfolgern: Das Verhalten kann niemals lügen. Ganz im Unterschied zu den Worten, die beschönigen können oder die ganz einfach nicht der Wahrheit entsprechen.

Wenn man die zahlreichen und oft sehr unterschiedlichen Bedürfnisse, Vorlieben und Interessen, die einen Menschen antreiben, kennt, lassen sich seine Handlungsweisen besser verstehen. Dieses Wissen ist sehr wertvoll für jede Form der Kommunikation, da sich nun gezielt auf die jeweiligen Bedürfnisse des Gesprächspartners – oder von Zuhörern – eingehen lässt. Die Kommunikation nimmt so leichter den gewünschten Verlauf. Sie scheitert hingegen, wenn Bedürfnisse nicht erkannt, fehlinterpretiert oder gar missachtet werden. Diesen Punkt halte ich für wesentlich wichtiger, als darüber zu rätseln, welche Persönlichkeit ein Gesprächspartner sein könnte und wie daher die Kommunikation auf ihn abzustimmen ist. Ich rate auf meinen Seminaren den Teilnehmern sogar davon ab, Menschen in ein Kästchen zu stecken, auf dem das Etikett des jeweiligen Persönlichkeitsmodells klebt, beispielsweise »dominanter Typ«, »sachlicher Typ«, »emotionaler Typ« usw. Durch solche Kommunikationskrücken entsteht leicht die Gefahr, einem Menschen gegenüber nicht offen genug zu bleiben. Vielmehr verleiten sie dazu, mehr den »Typen« zu sehen, statt einen individuellen Menschen mit konkreten Bedürfnissen und Erwartungen im Gespräch.

Persönlichkeit bestimmt »Schicksal«

Da die Vorlieben, Neigungen und Interessen eines Menschen von seiner Persönlichkeit abhängig sind, bestimmt sie weitgehend seinen Lebensweg – sein »Schicksal«: Durch sie entscheidet sich, welche Ziele er verfolgt und was er unterlässt, was er anziehend findet oder abstoßend, welche Wertvorstellungen er teilt und welche nicht usw.

Zufall und Schicksal werden häufig miteinander gleichgesetzt. Oder es wird angenommen, der Zufall würde vom vorgezeichneten Schicksal einen Menschen bestimmt, das sich nur als Zufall maskiert. Im zwischenmenschlichen Bereich lässt sich beides jedoch klar unterscheiden, wie ich an einem Beispiel zeigen möchte. Wenn Sie zufällig einen Menschen kennenlernen, der in Ihrem Leben eine große Bedeutung bekommt, etwa weil Sie sich ihn verlieben, so war der Zeitpunkt und der Ort, an dem das geschah, ein Zufall – etwas, das nicht geplant gewesen ist. Die Tatsache, dass Sie sich ihn verlieben und dieser Zufallsbegegnung nicht »widerstehen« wollen und können, wird durch Ihre Persönlichkeit und die bestehenden Bedürfnisse bestimmt. Darin besteht der Schicksalsanteil dieser Begegnung, und dieser entscheidet zu einem wesentlichen Teil darüber, wie das weitere Leben verläuft. Gleiches gilt etwa auch in beruflicher Hinsicht, wenn beispielsweise ein Mensch, den man zufällig kenngelernt hat, zum Mentor und Förderer wird. 

3.2 Kommunikationsbedürfnisse richtig erkennen

Jede Kommunikation verfolgt eine Absicht, und diese beruht auf einem oder mehreren Bedürfnissen. Eine völlig absichtslose Kommunikation gibt es nicht. Je besser auf die Bedürfnisse eingegangen wird, die ihr zugrunde liegen, umso zufriedenstellender wird sie für beide Seiten verlaufen. Sollen Worte ein bestimmtes Verhalten auslösen, ohne damit jemanden manipulieren zu wollen, ist es sogar unumgänglich, bedürfnis- und damit gehirngerecht zu kommunizieren. Die folgenden zwei Beispiele aus dem Alltag verdeutlichen, was geschieht, wenn Bedürfnisse missachtet werden. 

Die missverstandene Tochter

Die sechzehnjährige Tochter erzählt ihrer Mutter, sie hätte einen festen Freund, der um vier Jahre älter ist als sie. Ihr Bedürfnis besteht darin, die Mutter – von Frau zu Frau – ins Vertrauen zu ziehen. Nachdem die Tochter die ersten Sätze ausgesprochen hat, äußert die Mutter ihre Besorgnis, wie problematisch es wäre, in diesem Alter bereits ein Kind zu bekommen. Die Tochter beschwichtigt: »Das ist mir bewusst. Ich bin schließlich kein kleines Kind mehr.« Das Gespräch wird zunehmend emotionaler und ein Wort ergibt das andere. Bis die Tochter schließlich aufsteht und sagt: »Ich wollte dir eigentlich nur erzählen, wie gut ich mich mit Tom verstehe und hatte vor, ihn euch demnächst vorstellen. Ein klasse Typ. Ich dachte, du würdest dich darüber freuen, ihn kennenzulernen. Doch stattdessen weist du mich nur darauf hin, was alles passieren könnte.« Anschließend verlässt sie die elterliche Wohnung und fährt zu ihrem Freund. Die Mutter schickt ihr eine SMS hinterher: »Ich verstehe dich durchaus. Aber leider verstehst du mich nicht.« Die Tochter antwortet: »Verstehen sieht anders aus.«

In diesem Beispiel lösten die Worte der Mutter bei ihrer Tochter ein Verhalten aus, das sie sicherlich nicht gewollt hat. Wäre sie auf das Bedürfnis der Tochter eingegangen, hätte sich diese verstanden gefühlt und die Mutter ins Vertrauen gezogen; sie vielleicht sogar um einen Rat ersucht. Das Gespräch wäre jedenfalls besser verlaufen und die Tochter würde sich anders verhalten haben. Mit wenigen Worten wäre es der Mutter möglich gewesen, zu Beginn des Gespräches ein einladendes Signal zu senden, dass sie bereit ist, auf das Bedürfnis der Tochter gerne einzugehen. Beispielsweise so: »Wie habt ihr euch kennengelernt? Ich bin gespannt, was du mir von diesem Tom erzählen wirst. Frisch verliebt zu sein, ist ein wunderbares Gefühl. Vielleicht möchtest du anschließend hören, wie ich deinen Vater kennengelernt habe.« 

Was eine Ehefrau im Gespräch erwartet hätte

Die Ehefrau erzählt beim Abendessen ihrem Mann, sie habe mit dem neuen Marketingleiter, ihrem Chef, Ärger. Er sei sehr bestimmend und sie wolle sich von ihm nicht bevormunden lassen. Im Großen und Ganzen weiß die Ehefrau, wie sie damit umgehen wird. Ihr ausschließliches Bedürfnis in diesem Gespräch ist, sich den Ärger von der Seele zu reden. Nach wenigen Minuten unterbricht der Ehemann ungeduldig die Schilderungen seiner Frau und schlägt ihr vor, wie sie sich am besten verhalten könnte. »Das wäre durchaus eine Möglichkeit«, antwortet sie. »Doch ich komme damit auf meine Art und Weise zurecht.« Ohne darauf einzugehen antwortet ihr Mann: »Trotzdem würde ich an deiner Stelle klarstellen, mit diesem Verhalten nicht einverstanden zu sein.« »Lass mich nur machen«, wehrt seine Frau ab, worauf er antwortet: »Wozu erzählst du mir das eigentlich, wenn du auf meine Vorschläge nicht eingehst?« Seine Frau steht nach diesen Worten auf und sagt: »Ich räume jetzt auf. Du kannst dir in der Zwischenzeit ja die Nachrichten ansehen.« »Bist du mir etwa böse?«, fragt ihr Mann. »Nein«, antwortet seine Frau, »wenn du mir einfach nur zuhören würdest, wäre das allerdings schön für mich.«

In diesem Beispiel hätte der Mann mit den richtigen Worten das Gespräch und damit das Verhalten seiner Frau in eine andere Richtung drehen können. Beispielsweise so: »Ich höre dir gerne zu und verstehe deinen Ärger. Erzähl’ mal. Wenn du möchtest, können wir anschließend gerne darüber sprechen, wie du aus meiner Sicht mit deiner Situation am besten umgehen könntest – nur falls du das willst.« Die Antwort darauf hätte klargestellt, worin das Hauptbedürfnis in diesem Gespräch seitens der Frau bestand. Andererseits hätte sie zu Gesprächsbeginn aber auch klar ihr Bedürfnis ausdrücken können: »Bitte höre mir einfach nur zu.« 

3.2.1 Das Bewusstsein über die Erwartungshaltung schärfen

Ein geschärftes Bewusstsein über die Erwartungshaltung des Gesprächspartners an die Kommunikation verbessert das Ergebnis jeder Kommunikation. Dies gilt auch für eine berufliche Besprechung, für eine Rede oder Präsentation. Hinter jeder Erwartungshaltung stehen immer konkrete Bedürfnisse. Werden diese nicht klar geäußert, besteht die Gefahr einer Fehlinterpretation durch den Empfänger. Mit einfachen Fragen seinerseits lassen sie sich jedoch klären, beispielsweise »Worum geht es dir?«, »Was erwarten Sie von diesem Gespräch?« oder »Wie kann ich zur Klärung Ihrer Frage beitragen?«
 
In einem Verkaufsgespräch, um ein anderes Beispiel zu nennen, ist es nützlich, die Erwartungshaltung des Kunden beim ersten Kontakt zu kennen: Möchte er sich nur über das Unternehmen und die Produkte einen Überblick verschaffen? Will er sich auch über die Preise informieren oder nur die technischen Details erfahren? Falls ja, würde der Interessent es höchstwahrscheinlich ablehnen, wenn er in ein Verkaufsgespräch verwickelt würde. Für die weitere Kommunikation mit ihm wäre das negativ. Vermutlich würde er sich rasch wieder verabschieden, um – aus seiner Sicht – nicht weiter sprachlich bedrängt zu werden. Die Worte des Verkäufers beeinflussen also das Verhalten des Kunden. 

3.2.2 Die acht Wirkfaktoren in der Kommunikation

Ein identischer oder vom Inhalt her sehr ähnlicher Sprachinhalt kann auf das Verhalten von Menschen gänzlich anders wirken und völlig unterschiedliche Reaktionen auslösen. Dieses Phänomen wollen wir in der Folge näher beleuchten. So können negative Reaktionen eines Gesprächspartners oder von Zuhörern leichter vermieden und Ihre Sprachwirksamkeit erhöht werden.

Die Wirkung der verwendeten Worte auf das menschliche Gehirn hängt davon ab, wann, wo und wie etwas gesagt wird, wer es sagt und zu wem. In diesem Kontext können acht Einflussfaktoren unterschieden werden, die meist in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Auf die bekannten Axiome in der Kommunikationswissenschaft, die vor allem mit dem österreichisch-amerikanischen Wissenschaftler Paul Watzlawick verbunden werden, gehe ich dabei nicht ein. Denn in diesem Buch stehen die Wortwirkungen auf das Gehirn im Mittelpunkt und nicht kommunikationstheoretische Überlegungen. Gleichwohl sind diese Axiome sehr wertvoll für das grundlegende Verständnis der Kommunikationsabläufe, wie etwa das Axiom »Man kann nicht nicht kommunizieren.«
  1. Das Beziehungsverhältnis. In welcher Beziehung steht der Empfänger zum Sender? Ist sie gut oder schlecht und wie wichtig ist sie für ihn? Besteht eine gute und wichtige Beziehung zu einem Menschen, so hat beispielsweise die Äußerung »Ich würde diese Entscheidung überdenken« eine andere Wirkung als bei einer schlechten oder unwichtigen Beziehung. Im ersten Fall wird eine Entscheidung höchstwahrscheinlich überdacht. Dies kann zu einem anderen Verhalten führen. Im zweiten Fall zuckt der Angesprochene vielleicht nur mit den Schultern und denkt: »Ich bleibe trotzdem bei meiner Entscheidung.« Die Verbesserung einer Beziehung zum Empfänger hat automatisch eine höhere Sprachwirksamkeit zur Folge – er hört stärker auf die an ihn gerichteten Worte.
  2. Die gesellschaftliche Stellung und der berufliche Status des Senders. Den Worten eines Menschen, der gesellschaftlich anerkannt ist und der als kompetent gilt, wird leichter vertraut als im umgekehrten Fall. Ein Beispiel: »Mehr Bewegung würde Ihnen gut tun« sagt der Arzt, obwohl der Befund seines Patienten beim Routinecheck einer Vorsorgeuntersuchung unauffällig ist und die gemessenen Werte in Ordnung sind. Daraufhin geht der Untersuchte mit einem Bekannten aus der Nachbarschaft regelmäßig walken. Der Bekannte wundert sich über den Gesinnungswandel, da er seinen Nachbarn schon mehrmals mit den gleichen Worten dazu eingeladen hatte. Menschen, denen ein Expertenstatus zugeschrieben wird, können sich wie jeder andere auch natürlich irren. Ihre Aussagen kritisch zu hinterfragen, etwa bei einer ärztlichen Diagnose, kann daher im Zweifelsfall zu einer besseren Entscheidung führen als der blinde Glaube an eine Expertenaussage.
  3. Die Grundstimmung beim Empfänger zum Zeitpunkt der Kommunikation und seine Tagesverfassung. Die Frau sagt in einem einladenden Ton zu ihrem Ehemann, der schlecht gelaunt ist: »Lass uns shoppen gehen. Sicherlich finden wir eine sportliche Hose mit einem passenden Jacket für dich«. Aufgrund seiner miesen Stimmung antwortet der Mann: »Dir gefällt scheinbar nicht, was ich anziehe.« Bei einer guten Stimmung hätte die Antwort vielleicht gelautet: »Prima Idee. Und du bekommst ein schönes Kleid von mir.« Wenn Ihr Gesprächspartner schlechter Laune ist, brauchen Sie Ihre Worte nicht unbedingt auf die Goldwaage zu legen. Sie sorgfältiger als üblich zu wählen wird allerdings sehr vorteilhaft für die Kommunikation mit ihm sein.
  4. Die Erwartungshaltung des Empfängers an die Kommunikation. Dieser Punkt wurde zu Beginn von Kap. 3.2.1 bereits beschrieben. Wenn Sie die Erwartungshaltung des Kommunikationspartners falsch einschätzen, misslingt oder verschlechtert sich die Kommunikation.
  5. Die Situation, in der etwas gesagt wird. Die gleichen Worte in zwei unterschiedlichen Situationen können eine völlig andere Wirkung haben, wie das folgende Beispiel zeigt. Situation 1: Zwei Arbeitskollegen unterhalten sich in der Kantine über das Abteilungsklima. »Die Situation hat sich etwas verbessert«, sagt der eine. Worauf der andere antwortet: »Letzte Woche hattest du aber eine ganz andere Auffassung«. »Man kann seine Meinung ja bekanntlich ändern«, meint sein Kollege und lächelt vielsagend. Situation 2: Bei einer Besprechung fragt der Chef, wie die Mitarbeiter das Abteilungsklima beurteilen. »Die Situation hat sich etwas verbessert« antwortet der Mitarbeiter, so wie in der Situation 1. Als sein Kollege nun dasselbe sagt wie in der Kantine – »Letzte Woche hattest du aber eine ganz andere Auffassung« – reagiert der Angesprochene darauf mit einem bösen Blick. Nach der Besprechung fragt er seinen Kollegen in einem aggressiven Tonfall: »Wolltest du mich vor unserem Chef bloßstellen, oder warum hast du das gesagt? Es war höchst überflüssig.«
    Findet die Kommunikation nicht nur unter vier Augen statt, ist die Wirkung des Gesagten auf den Angesprochenen und die Mitanwesenden immer eine besondere Überlegung wert. Negative Reaktionen können so leichter vermieden werden. Wird beispielsweise eine Mitarbeiterleistung im Beisein von Kollegen vom Vorgesetzten hervorgehoben, kann dies bei ihnen die Frage auslösen: »Sind unsere Leistungen weniger wert als seine?« Motivationsfördernd wäre das nicht.
  6. Mimik und Gestik. Ebenso wie die feinen Stimmnuancen, die beim Sprechen entstehen, drücken sie aus, wie ein Gesprächsinhalt gemeint ist – ironisch, humorvoll, ermahnend usw. Dies bestimmt auch die Reaktion und das Verhalten beim Empfänger. So werden beispielsweise ein belehrender Ton oder ein erhobener Zeigefinger zu einer Abwehrreaktion führen.
Auf die nonverbalen Botschaften reagieren die Spiegelneuronen im Gehirn des Empfängers sehr sensibel. Diese Signale steuert das vegetative, autonome Nervensystem und sie unterliegen nicht der willentlichen Kontrolle. Daher qualifiziert sie das Gehirn des Empfängers als »ehrlich«. So wird zum Beispiel ein abschätziger Blick des Empfängers einer Antwort beim Sender Ärger auslösen. Dieser wird sein weiteres Verhalten gegenüber dem Gesprächspartner bestimmen. 

Da auch der Tonfall die Einstellung des Senders zum Empfänger zeigt und einiges über seine Gefühlslage verrät, reagiert der Empfänger entsprechend darauf. Beispielsweise zupft ein unterdrückter Ärger an den Stimmbändern und verändert den Klang der Stimme, die gepresst klingt. Die Reaktion des Gegenübers könnte beispielsweise sein: »Etwas ist nicht in Ordnung mit dir, das spüre ich doch. Nun sag’ schon, was dich stört!« 

Driften Mimik oder Gestik vom sprachlichen Inhalt ab, ist das Gehirn irritiert und qualifiziert den Inhalt als nicht glaubwürdig. Ein typisches Beispiel ist das »amerikanische« Lächeln eines Menschen: Die Mundwinkel gehen mechanisch nach oben, um damit Freundlichkeit zu signalisieren, aber die Augen lächeln nicht mit. Bei einem echten Lächeln sind die Augen jedoch stets beteiligt. Bei jedem Auseinanderdriften von Sprachinhalt und den nonverbalen Begleitsignalen warnt das Gehirn des Empfängers: »Achtung, verhalte dich lieber vorsichtig. Bezweifle, was du von diesem Menschen hörst.« Das wäre beispielsweise dann der Fall, wenn Ihnen jemand ausdrücklich zustimmt und seine Mundwinkel verziehen sich gleichzeitig nach unten. Wie Sie solche deutlich erkennbaren Widersprüche richtig interpretieren und warum sie oftmals übersehen werden, erfahren Sie in Teil 3 dieses Buches.  

Die Einstellung des Gesprächspartners zu einem Thema, über das gesprochen wird sowie seine grundsätzliche Wertehaltung. Ihr liegen stets emotionale Bewertungskriterien zugrunde: Was hält er für gut und daher richtig, was für schlecht und daher falsch? Befindet sich das, was zu ihm gesagt wird, mit seiner Überzeugung im Einklang, ist sofortige Zustimmung zu erwarten. Falls nicht, ist mit einer ablehnenden Haltung zu rechnen, die entweder direkt bekundet oder aus gesprächstaktischen Überlegungen zunächst verschwiegen wird.

Ein einfaches Beispiel: Der Satz »Jetzt gibt es neue Sojaprodukte, die den Fleischkonsum auch in geschmacklicher Hinsicht überflüssig machen«, löst bei einem Vegetarier vielleicht die Frage aus: »Welche meinst du?«. Werden dieselben Worte als Aufforderung an einen eingeschworenen Fleischesser gerichtet, seine Essvorlieben zu überdenken, so könnte die ironische Antwort lauten: »Danke für die News von der Körnerfraktion. Aber ein zartes und energiespendendes Steak ist mir lieber als deine Sojalaibchen.« Wie ein solches Gespräch weiter verlaufen wird, lässt sich erahnen.
 

Die Einstellung eines Menschen zu den Dingen, die ihm wichtig sind, und seine Grundüberzeugungen ändern sich nicht ohne Weiteres. Auch wenn es immer wieder Menschen gibt, die mit dem verbalen Vorschlaghammer andere überzeugen wollen, sie mit Vernunftappellen umstimmen oder gar zu bekehren versuchen.
 

Ist die Einstellung des Gesprächspartners zu dem Thema bekannt, über das mit ihm gesprochen wird, lassen sich unbedachte Worte und dahinter lauernde Fettnäpfchen vermeiden. Dies bedeutet keinesfalls, jemandem nach dem Mund zu reden. Vielmehr werden so unnötige Widerstände in der Kommunikation vermieden. Kennt man die Überzeugung des Gegenübers nicht, können neutral gestellte Fragen Aufschluss über sie geben: »Wie ist Ihre Grundsatzmeinung zu diesem Punkt?«, »Wie denken Sie über diese Situation?«, »Was ist Ihre Einstellung zu dieser Sache?« usw. Solche Fragen helfen nicht nur, Fettnäpfchen zu vermeiden, sondern sie öffnen den Gesprächspartner und erhöhen seine Bereitschaft, eine anders lautende Meinung leichter zu akzeptieren – statt sie reflexartig abzuwehren. 

Die Assoziationen, die beim Empfänger durch das Gesprochene ausgelöst werden. Dieser Vorgang läuft automatisch und unbewusst bei jeder Kommunikation ab. Dabei spielen die Bahnungseffekte im Gehirn – das Priming – eine besondere Rolle, wie wir bereits in Kap. 2.2.10 gesehen haben: Jeder Sprachinhalt bahnt den Weg zu den abgespeicherten Erinnerungen, die mit dem Inhalt in Verbindung stehen oder gebracht werden. Bereits ein einziges Wort kann zu einer Assoziationskette führen und unvorhergesehene Reaktionen auslösen. Das geschieht immer dann, wenn dieses Wort für einen Menschen emotional aufgeladen ist und daher eine ganz spezielle Bedeutung für ihn hat. Das Beispiel im folgenden Kapitel zeigt, wie machtvoll Emotionen sind, die durch die Kommunikation entstehen, und wie sehr sie das Verhalten eines Menschen bestimmen können. 

3.3 Worte bestimmen das Verhalten langfristig

Wie mächtig Worte sein können, indem sie sogar langfristig das Verhalten eines Menschen bestimmen, zeigt sich auf vielfältige Weise. Im positiven Fall etwa dadurch, dass sich jemand noch nach vielen Jahren an ein Gespräch erinnert; daran, was zu ihm gesagt wurde und was die Worte bei ihm auslösten. »Ich habe anschließend die richtige Entscheidung getroffen, da ich bestärkt wurde, mich selbstständig zu machen«, heißt es vielleicht nach klärenden und ermutigenden Worten. Oder: »Seit dem Gespräch mit dir vor über drei Jahren gehe ich viel offener mit einer neuen Situation um.« Worte können das Verhalten aber auch negativ beeinflussen und über einen langen Zeitraum hinweg darauf einwirken – dank des emotionalen Elefantengedächtnisses. Das folgende Beispiel, in dem acht Worte wie eine Waffe wirkten, verdeutlicht dies. 

»Dein Oberarm hätte auch ein Fuß werden können!«

Bei einem Flugzeugabsturz vor 15 Jahren in Braunschweig, auf dem Weg zu einer Präsentation in Wolfsburg, zog ich mir einen Wirbelbruch zu. Dabei schrammte ich nur knapp an einer Querschnittslähmung vorbei. Seitdem lasse ich regelmäßig meine Rückenmuskulatur in einer physiotherapeutischen Gemeinschaftspraxis massieren. Die Inhaberin der Praxis ist Mitte vierzig und hat ein selbstsicheres Auftreten. Während ich auf die Behandlung meines Rückens wartete, unterhielten wir uns. Ich erzählte ihr kurz, dass ich an einem Buch über die Wirkung der Sprache arbeite. »Interessant«, meinte sie, »da könnte ich Ihnen ein Beispiel von mir erzählen. Einige falsche Worte können genügen und man wundert sich, was durch sie ausgelöst wird. Wenn Sie wollen, können Sie es im Buch verwenden.« »Schießen Sie los«, antwortete ich, »Sie machen mich neugierig.« Dann erzählte sie:

»Vor zehn Jahren hatte ich einen Freund, in den ich sehr verliebt war. Wir feierten an einem warmen Sommertag meinen Geburtstag. Freunde waren eingeladen und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Es gab weder einen Streit noch hatte irgendjemand zu viel getrunken. Ich trug damals eine Bluse mit sehr kurzen Ärmeln. Plötzlich sah mich mein Freund an und meinte mit einem Blick auf meinen Oberarm, der auch damals zwar kräftig, aber nicht dick war: ‚Daraus hätte eigentlich auch ein Fuß werden können.‘ Diese Worte kamen aus heiterem Himmel und sie haben mich wie ein Pfeil durchbohrt. Daraufhin habe ich ihn verlassen, was er nicht verstand. Wenn ich daran denke, fühle ich mich noch heute verletzt und werde wütend. Jedenfalls trage ich seitdem keine kurzärmelige Oberbekleidung mehr. Nimmt jemand das Wort ‚Oberarm‘ in den Mund, muss ich unwillkürlich daran zurückdenken.«

Nachdem sie das erzählt hatte, brachte sie mir ein Glas Orangensaft. Während sie es vor mir abstellte, zitterten ihre Hände leicht und die Wangen waren etwas gerötet. Klare Anzeichen einer Stressreaktion, die sie mir im Gespräch auch bestätigte. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass diese sympathische Frau glücklich verheiratet ist und mit beiden Beinen im Leben steht.

Als ich dieses Beispiel bei einem Kommunikationsseminar schilderte, sagte in der Pause eine Teilnehmerin zu mir, eine Diplomingenieurin Anfang dreißig: »Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Meine Beine wurden in der Pubertät von Mitschülern als Storchenbeine bezeichnet. Zehn Jahre lang trug ich daraufhin entweder lange Röcke oder Hosen. Erst als ich mir immer wieder bewusst machte, dass es sich nur um dummes Gerede von Jugendlichen handelte, hatte diese emotionale Verletzung keine Wirkung mehr auf mich. Mein Mann hat mir dabei sehr geholfen. Als ich nach längerem Zögern erstmals wieder einen kurzen Rock gekauft hatte, sagte er zu mir: ‚Für mich hast du die schönsten Beine der Welt.‘« 

Emotionale Wunden schließen

Diese beiden Beispiele zeigen einmal mehr, wie sich bereits wenige Worte schädlich auf einen Menschen auswirken können. Vielleicht ließe sich hier einwenden, die Physiotherapeutin sei besonders sensibel und sie reagierte überempfindlich, da sie ihrem Freund den Laufpass gab. Dem ist entgegenzuhalten, dass nahezu jeder Mensch durch herabsetzende Kommentare zu seinem Äußeren verletzbar ist. Vor allem dann, wenn zum »Kommentator« eine persönliche Beziehung besteht und seine negative Meinung daher nicht als Schall und Rauch empfunden wird. Das Gehirn schüttet in diesem Fall Stresshormone aus, die zwangsläufig zu einem Abwehrverhalten führen – Flucht oder Kampf.

Wie wichtig Menschen ihr Äußeres ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass es einen Spiegel gibt. Auch die boomende Schönheitsindustrie und der wachsende Zulauf, den die kosmetische Chirurgie zu verzeichnen hat, sprechen hier eine deutliche Sprache. Ebenso, dass ein aufrichtiges und spontanes Kompliment blitzartig ein Lächeln in das Gesicht eines Menschen zaubern kann. Bei jeder Form einer vermittelten Wertschätzung, wofür das Kompliment nur ein einfaches Alltagsbeispiel ist, produziert das Zwischenhirn automatisch Wohlfühlhormone. Durch sie wird ein fruchtbarer Boden für die weitere Kommunikation aufbereitet.

Unbedacht ausgesprochene Worte, die einen Menschen verletzen, können leider nicht vollständig ungeschehen gemacht werden. Die entschuldigenden Worte »Das war doch nicht so gemeint« mögen für die emotionale Verletzung vielleicht ein kleines Trostpflaster sein, allerdings nicht mehr. Denn der Verletzte wird sich fragen: »Warum hast du es dann so gesagt?«

Eine emotionale Wunde, die durch Worte entsteht, lässt sich nur mit einem offenen Eingeständnis ohne rechtfertigende Relativierung heilen – was Menschen oftmals sehr schwer fällt. Dieser Heilungsversuch könnte beispielsweise so klingen: »Ich bin ein ziemlicher Dummkopf, wenn ich so etwas zu dir sage und dich damit verletze. Leider kann ich das nicht mehr rückgängig machen. Würdest du mir bitte verzeihen?« Wird eine solche Entschuldigung angenommen, überschreibt sie die Spurrillen im emotionalen Gedächtnis, die durch beleidigende und demütigende Worte dort hinterlassen wurden. Gänzlich gelöscht werden sie jedoch nicht.

Literatur

1. Asendorpf JB, Neyer FJ (2012) Psychologie der Persönlichkeit. Springer, Berlin
2. Hüther G (2013) Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Limitierte Sonderausausgabe, die zwei weitere Grundlagenwerke dieses Autors enthält (Die Macht der inneren Bilder. Biologie der Angst). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
3. Roth G (2011) Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta, Stuttgart
4. Watzlawick P (2011) Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Huber, Bern


Hans Eicher
Die verblüffende Macht der Sprache
Verlag: Springer, Berlin und Heidelberg 2018
ISBN: 9783658186623 | Preis: 24,99 €


Nota. - In diesem Buch geht es nicht um philosophische Sprachkritik wie bei Wittgenstein und Mauthner; nicht um die Rolle deer Sprache beim Denken. Sondern um empirische Psycholohie: die beobachtbaren Wirkungen des gesprochenen Wortes auf Gemüt und Verhalten des Hörers.
JE


 

Freitag, 29. März 2019

Das Gehirn lechzt nach Wasser und Salz.

Ein Glas mit Wasser
aus Die Presse, Wien,


Wie das Hirn nach Salz und Wasser ruft
Schon das Schlucken stillt den ersten Durst – und der salzige Geschmack das Verlangen nach Salz.

Wir dürsten nach Wasser, und wir verlangen nach Salz, Natriumchlorid. Was dessen Wirkung und Geschmack ausmacht, sind die Natriumionen (Na+), auf ihre Konzentration im Körper kommt es an – und darauf, dass diese nicht überall gleich ist. Außerhalb der Zellen ist mehr Na+ als in den Zellen, wo dafür mehr K+ (Kalium) ist, dieses Gefälle ist lebenswichtig, Pumpen in den Zellmembranen sind ständig damit beschäftigt, es aufrechtzuerhalten. Die Nieren kümmern sich indessen darum, dass der Natriumgehalt im Blut nicht zu groß und nicht zu klein ist.

Doch das Hirn muss mithelfen, das Verlangen steuern. Um es zu stillen, reicht fürs Erste der salzige Geschmack auf der Zunge. Das beschreiben Neurologen um Yuki Oka am California Institute of Technology in Nature (27. 3.): Sie fanden im Hirnstamm von Mäusen eine kleine Population von Neuronen, die für die Regelung des Verlangens nach Salz eine zentrale Rolle spielen. Wurden diese Neuronen mit Licht stimuliert, dann leckten die Mäuse an einem Salzkristall, obwohl sie genug Natrium im Körper hatten. Und sobald sie das Salz auf der Zunge hatten, ging die Aktivität dieser Neuronen zurück. Eine Salzinfusion direkt in den Magen bewirkte das nicht.

Je kälter, umso besser gegen Durst

Auch der Durst nach Wasser erfährt offenbar eine erste Stillung, wenn das Getränk die Lippen benetzt, und eine zweite, wenn es geschluckt wird. Dabei registrieren die zuständigen Sensoren, wie viel Volumen geschluckt wird, und sie reagieren umso stärker, je kälter das Getränk ist, das ist wohl der Grund, warum die Werbung gern eisige Bilder zeigt. Diese Effekte konnte Christoph Zimmerman, Physiologe an der University of California in San Francisco, schon 2016 nachweisen. Offen blieb die Frage: Woher weiß das Hirn, wie sehr ein Getränk wirklich den Durst löscht? Salzwasser tut das letztlich nicht, auch wenn es noch so kühl ist.

Zu salzig, bleib durstig!

So ließen Zimmerman und Kollegen in einer neuen Arbeit (Nature, 27. 3.) ihre Labormäuse salziges Wasser trinken, während sie die für den Durst zuständigen Neuronen im Hypothalamus, dem zentralen Physiologie-Kontrollzentrum im Hirn, beobachteten. Tatsächlich ging deren Aktivität beim Trinken sofort zurück, stieg dann aber gleich wieder, wie wenn ein anderer Sensor gemeldet hätte: zu salzig, bleib durstig!

Um zu testen, ob solche Signale aus dem Magen kommen, leiteten die Forscher die Flüssigkeit direkt in die Mägen der durstigen Mäuse. Und dort kam es sehr wohl darauf an, wie salzig das Wasser war. Salzwasser senkte die Aktivität der Durstneuronen im Hirn nicht. Offenbar können Signale, die von Lippen und Kehle eingelangt sind, durch spätere Signale aus dem Magen – oder dem Zwölffingerdarm – revidiert und korrigiert werden. Wenn das aufgenommene Wasser sich als zu salzig erweist, springen die Durstneuronen sozusagen wieder an.

Mit optogenetischen Methoden – bei diesen werden Neuronen mit Licht aktiviert – konnten die kalifornischen Forscher auch ein Set von Neuronen aufspüren, die all diese Signale integrieren – und dazu noch Information über den Salzgehalt im Blut.


Donnerstag, 28. März 2019

Hirn: Physiologie des Spracherwerbs.

Sprachbits
aus scinexx

Unsere Sprache braucht 12,5 Millionen Bits
Forscher schätzen die Datenmenge für das Beherrschen unserer Muttersprach

Gehirn als Datenspeicher: Für das Beherrschen unserer Muttersprache benötigen wir Menschen kaum mehr Datenspeicher als auf eine Floppy-Disk passt, wie Forscher ausgerechnet haben. Demnach hat ein englischsprachiger Erwachsener im Schnitt 12,5 Millionen Bits an Informationen zur gesprochenen Sprache gespeichert. Das entspricht rund 1,5 Megabytes. In seinen ersten 18 Lebensjahren verarbeitet das Gehirn dafür zwischen 120 und 2.000 Bits täglich, so die Schätzung der Wissenschaftler. 

Trotz aller Fortschritte in Computertechnik und künstlicher Intelligenz: Noch ist unser Gehirn effektiver und leistungsfähiger als jede andere Denkmaschine. Es verarbeitet unzählige Reize gleichzeitig und befähigt uns zu innovativem, abstraktem Denken, zu komplexem Sozialverhalten und zur Kommunikation. Inzwischen gibt es zwar schon Computersysteme, die gesprochene Sprache verstehen und sogar Sprachinformationen aus menschlichen Hirnwellen herauslesen können. Noch aber liegt unser Gehirn hierbei vorn.

Wie viele Bits braucht das Gehirn für die Sprache?

Das aber weckt die Frage: Wie viele Bits und Bytes braucht unser Gehirn, um unsere Muttersprache zu verstehen und zu beherrschen? Kann man die Sprachfähigkeit und das Sprachwissen eines Menschen überhaupt quantifizieren? Genau diese Fragen haben nun Francis Mollica von der University of Rochester und Steven Piantadosi von der University of California in Berkeley versucht zu beantworten. „Bisher ist strittig, ob die Informationsmenge für die menschliche Sprache eher minimal oder aber enorm ist“, erklären sie.

Für ihre Studie haben die Forscher bewusst einen eher groben Ansatz gewählt, der die nötige Datenmenge unabhängig von den verschiedenen Theorien zum Spracherwerb abschätzt. „Wir beziehen uns nicht darauf, wie dieses Lernen funktioniert, sondern konzentrieren uns auf die Frage, wie viel Information ein ohne Vorwissen Lernender abspeichern müsste“, betonen die Wissenschaftler.

Vom Laut zum Wort

Um die Datenmenge abzuschätzen, begannen die Forscher mit der kleinsten Einheit des Sprechens: den Lauten oder Phonemen. „Unser phonemisches Wissen erlaubt es uns, die sprachrelevanten Klänge aus den Sprechsignalen herauszufiltern und zu identifizieren“, erklären sie. Ihren Berechnungen nach gibt es in der englischen Sprache rund 50 verschiedene Phoneme – und jedes davon umfasst die Information von rund 15 Bits. Demnach machen die Phoneme 750 Bits an Daten aus.

Die nächste Stufe der Sprache sind Wörter. „Schätzungen darüber, wie viele Wörter ein Kind beim Spracherwerb lernt, reichen von 20.000 bis 80.000“, sagen Mollica und Piantadosi. Für ihre Studie gingen sie von einem Mittelwert von 40.000 Wörtern für einen typischen jungen Erwachsenen aus. Mithilfe einer Datenbank und eines linguistischen Modells ermittelten die Forscher, dass für das Merken der phonetischen Abfolge eines Wortes im Schnitt fünf bis 16 Bits nötig sind. Multipliziert mit der Wortzahl von rund 40.000 ergebe dies rund 400.000 Bits für das lexikalische Wissen zur phonetischen Abfolge der Wörter.

Lexikalische Semantik – die Wortbedeutung

Deutlich schwieriger ist die Abschätzung, welche Datenmenge wir Menschen benötigen, um die Bedeutung eines Wortes zu lernen – die sogenannte lexikalische Semantik. „Das Problem ist, dass es bisher keine allgemein akzeptierten Theorien zum semantischen Gehalt oder Umfang gibt“, erklären die Wissenschaftler. Daher behalfen sie sich mit einer groben Schätzung, die den möglichen Bedeutungsraum eines Wortes als räumliche Größe sieht. Je mehr Dimensionen dieser Raum hat, desto mehr Daten sind erforderlich, um die konkrete Bedeutung des Wortes zu identifizieren.

„Wenn der semantische Raum eindimensional ist, dann reichen 0,5 bis zwei Bits pro Wort“, so die Forscher. „Hat er 100 Dimensionen, benötigt die lexikalische Semantik 50 bis 200 Bits pro Wort.“ Für ihre Berechnungen wählten sie einen Mittelwert, nach dem rund 550.000 Bits nötig sind, um aus den möglichen Bedeutungen die jeweils korrekte herauszupicken. Zusätzlich schätzten Mollico und Piantadosi auch den Datenaufwand für Worthäufigkeit und Syntax ab.

12,5 Millionen Bits an Sprachdaten

Aus allen diese Berechnungen ergab sich die Gesamtsumme: „Unserer besten Schätzung nach hat ein englischsprechender Erwachsener 12,5 Millionen Bits an Sprachdaten gespeichert – ein Großteil davon sind Informationen zur lexikalischen Semantik“, berichten die Forscher. Das entspricht rund 1,5 Megabytes. „Es mag überraschend scheinen, aber umgerechnet auf digitale Datenspeicher passt unser Sprachwissen damit fast vollständig auf eine Floppy-Disk.“

Um dieses Sprachwissen anzusammeln, muss ein Mensch in den ersten 18 Lebensjahren im Schnitt 1.000 bis 2.000 Bits pro Tag allein für das Sprachlernen speichern und erinnern. „Unsere Studie ist die erste, die die Datenmenge beziffert, die man lernen muss, um eine Sprache zu beherrschen“, sagt Piantadosi. „Sie unterstreicht, dass Kinder und Teenager bemerkenswerte Lerner sind – sie speichern allein für die Sprache mehr als tausend Bits an Informationen jeden Tag.“ Die Forscher betonen aber auch, dass ihre Werte nur eine grobe Schätzung darstellen – eine „back of the envelope“-Kalkulation, wie sie es nennen. Dennoch seien diese durchaus dafür geeignet, ungefähre Größenordnungen zu ermitteln. (Royal Society Open Science, 2019: doi: 10.1098/rsos.181393)

Quelle: Royal Society Open Science

Mittwoch, 27. März 2019

Die sechs Säulen der Quantenphysik.


aus derStandard.at, 27. März 2019                             Licht

Crashkurs in Quantenphysik
Sechs Lektionen für Einsteiger
Die Quantenphysik hat unser Weltbild grundlegend verändert – ein kurzer Überblick über einige ihrer wichtigsten Phänomene

von Tanja Traxler

Um wirklich in die Quantenphysik eintauchen zu können, braucht es eine gute Portion Mathematik. Doch einige ihrer Grundprinzipien lassen sich auch ohne Formeln erfassen. Vorhang auf für sechs Lektionen der Quantenphysik!

1. Welle und Teilchen

Was ist eigentlich Licht? Diese Frage hat die Physiker jahrhundertelang gespalten. Auf der einen Seite standen jene, die Licht als Welle ansahen und damit Phänomene wie die Beugung von Licht an einer Kante elegant erklären konnten. Andere wiederum vertraten die Theorie, dass Licht aus Teilchen besteht. Auch sie stützten sich auf optische Phänomene – so lässt sich etwa die Reflexion ganz vorzüglich mit dem Teilchenmodell erklären.

Es brauchte einen Physiker vom Format eines Albert Einstein, um den Streit zu schlichten. In einer bahnbrechenden Arbeit stellte er im Jahr 1905 fest: Licht ist Teilchen und Welle zugleich. Wenig später erkannte der französische Physiker Louis de Broglie, dass nicht nur Licht eine schizophrene Persönlichkeit besitzt. Der sogenannte Welle-Teilchen-Dualismus gilt auch für Materie.

In unserer Alltagswelt bleibt der Wellencharakter von Materie verborgen, doch Quantenphysiker stellen ständig Rekorde darin auf, die Welleneigenschaften immer größerer Objekte nachzuweisen.




2. Tot und lebendig zugleich

Wellen besitzen die Eigenschaft, dass sie einander überlagern können. Wenn sich zum Beispiel zwei Motorboote auf der Donau begegnen, ergeben ihre Wellen gemeinsam womöglich noch größere Wellen. Oder sie schwächen sich gegenseitig ab. Im Fachjargon wird das Superposition genannt. 

Doch können auch Objekte einen Superpositionszustand einnehmen? Ein prominentes Beispiel dafür ist Schrödingers Katze. Dieses wenig tierliebe Gedankenexperiment von Erwin Schrödinger lautet folgendermaßen: Eine Katze wird in eine Kiste mit einem Fläschchen Blausäure gesperrt. Ein kleiner Hammer, der durch den Zerfall einer radioaktiven Substanz betätigt wird, kann das Fläschchen zerschlagen und damit die Katze vergiften. Solange die Kiste geschlossen bleibt, weiß man nicht, ob die Katze tot ist oder lebt – sie befindet sich in einer Superposition. 

In der Alltagswelt muten die Prinzipien der Quantenphysik recht absurd an, und doch hat sich gezeigt: Die Welt ist wirklich so verrückt.


  Ernst Schrödinger

3. Völlig unverständlich

Wenn Teilchen also Welleneigenschaften besitzen, sollte es dann nicht auch möglich sein, sie mathematisch wie Wellen zu beschreiben? Mit dieser Frage im Hinterkopf hat sich der österreichische Physiker Erwin Schrödinger 1926 in seinen Winterurlaub in die Schweizer Alpen begeben. Als er wieder abreiste, hielt er die Zutaten jener Gleichung in Händen, die bis heute als grundlegendste Formel der Quantenphysik gilt – die Schrödinger-Gleichung. Ihr Herzstück ist die sogenannte Wellenfunktion, besser bekannt unter dem griechischen Buchstaben Psi.

Jedem Objekt kann eine Wellenfunktion zugeschrieben werden, sie kann allerdings nicht direkt beobachtet werden. Es stellt sich daher die Frage, ob die Wellenfunktion eine reale Größe oder bloß mathematisches Hilfswerk ist. Da die Physiker bis heute nicht wissen, wie die wichtigste Größe der Quantenphysik zu interpretieren ist, gehen manche so weit zu sagen, dass es niemanden gibt, der die Quantenphysik wirklich versteht.
 

4. Spukhafte Verbindungen

Der Stoff, aus dem die Quantencomputerträume sind, heißt Verschränkung. Mathematisch betrachtet können verschränkte Teilchen nur mit einer gemeinsamen Wellenfunktion beschrieben werden.m Anschaulich gesprochen sind verschränkte Teilchen auf gewisse Weise verbunden. Lichtteilchen können beispielsweise in Bezug auf ihre Polarisation verschränkt sein: Wenn eines der Lichtteilchen horizontal polarisiert ist, hat das andere eine vertikale Schwingrichtung. Albert Einstein gefiel dieses Prinzip der Quantenphysik gar nicht, abschätzig sprach er von "spukhafter Fernwirkung".

Die Verschränkung kann über weite Distanzen aufrechterhalten werden. Dabei gilt stets: Ändert ein Teilchen seinen Zustand, so tut dies im selben Moment auch das verschränkte Partnerteilchen.

Wie der irische Physiker John Bell in den 1960er-Jahren zeigte, kann die Verschränkung auch experimentell nutzbar gemacht werden. Sie ist die Grundzutat für Anwendungen wie Quantencomputer oder Quantenkryptografie.

br.de

5. Nicht scharf zu kriegen

Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Quanten- und klassischer Physik betrifft den Messprozess. In der klassischen Vorstellung wird bei der Messung bloß ein Zustand festgestellt, der zuvor schon vorhanden war. Das trifft sich mit unserer Alltagserfahrung: Wenn wir den Zustand beispielsweise der Außentemperatur feststellen wollen, dann messen wir sie.

In der Quantenphysik verhält sich die Sache grundlegend anders: Die Theorie geht davon aus, dass der Zustand eines Systems erst durch das Messen erzeugt wird. Was genau beim Messprozess passiert, ist immer noch ungeklärt.

Messungen in der Quantenphysik ist zudem eigen, dass bestimmte Größen nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmt werden können. Die 1927 von Werner Heisenberg entdeckte Unschärferelation gilt etwa für den Aufenthaltsort eines Teilchens und seinen Impuls. Es ist daher nicht möglich, Ort und Geschwindigkeit (die vom Impuls abhängt) gleichzeitig exakt zu bestimmen.



6. Der reinste Zufall

Obwohl Albert Einstein an der Entwicklung der Quantenphysik nicht unwesentlich beteiligt war, hat er zeitlebens mit ihr gehadert. Das hat damit zu tun, dass die Theorie nur statistische Aussagen ermöglicht: Sie gibt nur Wahrscheinlichkeiten dafür an, wie sich ein System verhalten wird. Letztlich entscheidet aber der Zufall.

Das Fehlen definitiver Vorhersagen hat Einstein grob missfallen, was ihn auch zu seiner legendär gewordenen Aussage brachte: "Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt."

Mit dem Alten ist freilich Gott gemeint und ob der nun würfelt oder nicht, sprich ob tatsächlich der Zufall am Werk ist oder ob wir bloß nicht genügend Informationen haben, hat die Physiker jahrzehntelang beschäftigt. Schließlich wurde die Debatte durch John Bell geschlichtet, der ein Experiment vorschlug, durch das sich nachweisen ließ: Der Zufall regiert wirklich. 

Links:
Fachjournal "PNAS" zeichnet österreichische Quantenphysiker aus
Historiker Kaiser: "Es gibt ein Hippie-Erbe in der Quantenphysik"
Quanten-Verschlüsselung: Experten sehen Technologie an der Schwelle

Dienstag, 26. März 2019

Statistik ist noch keine Intelligenz.

 aus Handelsblatt.com,

Eine Mathematikerin erklärt, wie Algorithmen unser Leben ändern
Maschinen trauen – oder nicht? Das fragt sich Mathematikerin Hannah Fry und erklärt, warum Algorithmen in Flugzeugen nicht viel Einfluss haben sollten.
 
von Carsten Volkery

London - Eigentlich wollte Hannah Fry nach der Schule Friseurin werden. Als Arbeiterkind habe sie nie im Leben daran gedacht, Professorin für Mathematik sein zu können, sagt sie. Doch die Mutter drängte die zahlenbegeisterte Tochter zum Studieren. Fry wählte das Fach Aerodynamik, wie von Mathematik war sie von der Formel 1 fasziniert.

Als sie dann tatsächlich bei einer Designfirma landete, die mehrere Formel-1-Rennställe beriet, merkte sie schnell: Der Job war ganz anders als ihr Traum. Statt eigene Modelle zu entwickeln, musste sie nur einen Computer füttern – und der erledigte sämtliche Simulationen. „Es war ziemlich langweilig“, sagt sie.

Die Mathematikerin bringt die Zahlenwissenschaft und menschliches Verhalten zusammen. Quelle: Adrian Lourie/Evening Standard/eyevine/laifHannah Fry

Jetzt schrieb sie ein Buch über die Spannung zwischen Mensch und Maschine, das gerade auf Deutsch erschienen ist („Hello World“). Sie beschreibt, wie Algorithmen die Welt verändern – und welches Potenzial Künstliche Intelligenz (KI) hat. Heute lehrt die 35-Jährige Mathematik an einer der besten britischen Universitäten, dem University College London (UCL). Hier wurde Deepmind gegründet, eins der führenden KI-Start-ups, das von Google 2014 gekauft wurde.

Fry betreut und wirkt in Forschungsprojekten, die sich mit Algorithmen in allen möglichen Feldern beschäftigen. „Algorithmen sind überall“, sagt sie. „In Schulen, Krankenhäusern, Gerichtssälen.“ Auch in Flugzeugen. Das Drama um den Absturz der 737 Max 8 von Boeing wirft wieder die Grundsatzfrage auf: Wie sehr können wir der Maschine vertrauen – und wie sehr nicht? Fry warnt: Bei aller Begeisterung für die technologische Entwicklung solle man sich nicht zu sehr auf die Computer verlassen.
In ihrem Buch führt sie auch das Beispiel eines Piloten an, dessen Maschine abstürzte, als der Autopilot einmal ausfiel: Er hatte das Fliegen verlernt. Überforderung spielte auch eine Rolle beim Absturz des Boeing-Jets. Das MCAS-System korrigierte automatisch die Fluglage des Jets. Der Pilot kann die Entscheidung der Steuerungssoftware zwar überstimmen. Das kann das System aber wieder korrigieren. Ein Ringen zwischen Mensch und Maschine, das die Piloten von zwei 737-Flügen auf tragische Weise verloren.
Hannah Fry – Hello World: Was Algorithmen können und wie sie unser Leben verändern
C.H. Beck
2019
272 Seiten
19,95 Euro
ISBN: 978-3462051674
Laut Fry ist es eine echte Gefahr, dass Menschen aufgrund des technischen Fortschritts gewisse Fähigkeiten verlernen. So hätten Chirurgen früher mit ihren Händen im Patienten herumgetastet und ein Gefühl für den Körper entwickelt. Dieser Tastsinn drohe verloren zu gehen, wenn alles per Schlüssellochchirurgie operiert werde.

Aber Fry will die Neuerungen nicht verdammen – im Gegenteil. In ihrem Buch beschreibt sie viele anschauliche Beispiele, wie Algorithmen im Alltag helfen. Im Justizsystem etwa können sie für mehr Konsistenz sorgen. „Wenn es eine Person gibt, die kühl und berechnend und logisch und emotionsfrei sein sollte, dann ist es ein Richter“, sagt Fry. Doch laut Untersuchungen spiele Glück in der Justiz eine große Rolle.

Ein Algorithmus hingegen könne etwa mit größerer Treffsicherheit einschätzen, ob das Risiko vertretbar sei, einen Angeklagten gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen. Allerdings könne ein Algorithmus dem Richter nur helfen, diese sehr eng umgrenzte Entscheidung zu treffen.

Weg von Science-Fiction

Mit komplexeren Entscheidungen, wie etwa dem Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten oder der Festsetzung des Strafmaßes, wäre die Technik überfordert. Ersetzen kann der Algorithmus den Richter also nicht. Aber er kann ihn sinnvoll ergänzen.

Ähnlich ist es bei der Früherkennung von Brustkrebs. Algorithmen seien sehr gut darin, aus Millionen Proben die verdächtigen Zellmuster auszusortieren, sagt Fry. Sie könnten also schon eine Vorauswahl treffen und dem Pathologen so die Arbeit erleichtern. Auch hier gilt jedoch: Ganz ohne den Menschen geht es nicht.
Als geübte Ted-Talkerin weiß sie, wie man Wissenschaft populär macht. In einem anderen Buch hat sie darüber geschrieben, wie Mathematik in der Liebe helfen kann. Und auch über die Mathematik von Weihnachten hat sie schon räsoniert. „Es gibt nichts, wozu Mathematik nicht einen anderen Blickwinkel beisteuern kann“, sagt sie.

In der Debatte über die Künstliche Intelligenz vermisst Fry das nötige Maß. „Es gibt einen unglaublichen Hype“, sagt sie. „Die einen sagen, KI sei die größte Erfindung der Menschheit und werde alles revolutionieren. Die anderen zeichnen dieses sehr düstere Bild einer Zukunft, in der Maschinen uns die Jobs wegnehmen und die Menschheit zerstören.“ Man müsse weg von dieser Science-Fiction, sagt sie, und hin zu einer realistischen Bestandsaufnahme: Was können Algorithmen besser als Menschen – und was nicht?

KI-Begriff führt in die Irre

Schon der Begriff Künstliche Intelligenz führt aus ihrer Sicht in die Irre. Künstliche Intelligenz habe weniger mit Intelligenz zu tun als vielmehr mit Statistik. Das sei natürlich nicht so sexy, sagt sie mit einem tiefen Lachen.
 

Laut der Britin muss man zwischen gewöhnlichen Algorithmen und Künstlicher Intelligenz unterscheiden.

Letztere nutze Algorithmen, die von ihrer Umwelt lernen und versuchen, die Prozesse im menschlichen Gehirn nachzumachen. Die Technik sei noch im Krabbelalter, sie habe noch nicht mal die Komplexität eines Wurmgehirns. Trotzdem seien die Fortschritte der KI erstaunlich. Sie könne beispielsweise den hohen Energieverbrauch in großen Datenzentren regeln. So habe der lernende Algorithmus von Deepmind Googles Energiekosten wesentlich gesenkt, sagt Fry.

Er errechne selbstständig aus Millionen Daten die optimalen Einstellungen für das Kühlungssystem der Serverfarmen. Die meisten Algorithmen sind jedoch simpler gestrickt, sie finden keine eigenen Lösungen, sondern befolgen einfach vorgegebene Regeln. Die Programme könnten viele Aufgaben präziser und schneller erledigen als Menschen, sagt die Mathematikerin. Menschen wiederum seien Algorithmen in anderen Dingen überlegen. Das beste Resultat erziele man, indem man die Stärken von Mensch und Maschine geschickt kombiniere.

Algorithmen leben von Daten: Je mehr sie gefüttert werden, desto besser funktionieren sie. Das bringt sie in Konflikt mit dem menschlichen Bedürfnis nach Datenschutz und Privatsphäre. „Es gibt Leute, die sagen, wenn es ein Wettrüsten in Künstlicher Intelligenz gibt, hat der Osten einen massiven Vorteil gegenüber dem Westen, weil die Privatsphäre im Osten egal ist“, sagt Fry. In China könne man ohne Probleme eine Datenbank mit einer Milliarde Gesichtern aufbauen.

Doch sie glaubt, dass Firmen nicht länger zwischen Innovation und Datenschutz wählen müssen. Vor fünf Jahren sei eine Kultur, in der die Privatsphäre als höchstes Gut angesehen wird, ein massiver Wettbewerbsnachteil gewesen, sagt sie. Inzwischen hätten die großen US-Techfirmen jedoch Lösungen gefunden. „Sie können heute Daten von Menschen sammeln, ohne deren Identität zu kennen.“
Der Skandal um Facebook und Cambridge Analytica habe die Branche wachgerüttelt. Jetzt gehe es darum, das Vertrauen der Nutzer zurückzugewinnen. Deshalb sei die EU-Datenschutzrichtlinie GDPR ein wichtiger Schritt, der Europa langfristig voranbringen werde.

Keine autonomen Autos

Mit großer Skepsis sieht Fry die Versprechen der Autohersteller zum autonomen Fahren. „Ich wette, dass wir niemals selbstfahrende Autos im normalen Verkehr sehen werden“, sagt sie. Das größte Problem sei nicht das Fahren an sich, sondern die unberechenbare Umgebung. „Nehmen Sie zum Beispiel die Situation, dass plötzlich ein Krankenwagen hinter Ihnen auftaucht. Wie erklären Sie dem Algorithmus, dass es in Ordnung ist, auf den Bürgersteig zu fahren, aber nur unter diesen besonderen Umständen? Sie können keine Liste aller möglichen Szenarien einprogrammieren.“

Auch könnte jeder Passant ein selbstfahrendes Auto anhalten: Wenn er sich davorstellt, würde das Auto automatisch bremsen. „Sie haben plötzlich ein gehorsames Objekt auf der Straße“, sagt Fry. Das würde das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer ändern. Der einzige Weg, wirklich autonom fahrende Autos zu haben, wäre, wenn man alle anderen Verkehrsteilnehmer von der Straße verbannte. „Dann reden wir über das Prinzip des Zugs“, sagt Fry.

Auch Flugzeuge könnten nur deshalb mit Autopilot fliegen, weil der Luftraum strikt geregelt ist. Dennoch glaubt sie, dass Algorithmen das Autofahren deutlich sicherer und angenehmer machen können. Hersteller wie Volvo und Toyota hätten bereits eine Menge Technik im Hintergrund, die den Fahrer unterstützt. „Auch hier sehen wir, wie Mensch und Algorithmus ein Team bilden“, sagt Fry. „Wir müssen akzeptieren, worin Menschen gut sind und worin sie schlecht sind, und die Technologie daran ausrichten.“