aus derStandard.at, 6. November 2018,
Als
Goethe glaubte, Newton widerlegt zu haben
Der berühmte Dichter hielt seine Farbenlehre für sein Hauptwerk. Doch er
verschätzte sich – auch was seine eigenen wissenschaftlichen
Fähigkeiten anging
von Florian Freistetter
"Mehr Licht!" soll Johann Wolfgang von Goethe gesagt haben, kurz bevor
er am 22. März 1832 an einem Herzinfarkt starb. Vielleicht wollte er ein
letztes Mal poetisch sein. Vielleicht wollte er einfach nur, dass die
Vorhänge vor dem Fenster aufgezogen werden.
Vielleicht hat er sich aber auch in seinen letzten Momenten an das
erinnert, was er als seine größte Lebensleistung ansah. Und was waren
nicht seine Bücher, Dramen und Gedichte, wie er selbst sagt: "Auf alles,
was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Daß ich
aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der
Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir
etwas zugute."
Umtriebiger Literat
Goethe, der große Dichter, war also fest davon überzeugt, auch ein
großer Naturwissenschafter zu sein. Er hielt sich für den "Einzigen",
der verstanden hatte, wie Farben funktionieren. Genau das erklärte er in
seiner 1810 veröffentlichten Schrift "Zur Farbenlehre".
Als Minister des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach war Goethe unter
anderem für den Berg- und Ackerbau und die Forstwirtschaft zuständig.
Das weckte sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen, mit denen
er sich ab 1780 beschäftigte. Er sammelte Mineralien, von denen er bis
zu seinem Tod fast 18.000 Exemplare zusammen trug. Er betrieb Botanik,
Geologie, verfolgte die chemische Forschung und untersuchte menschliche
Knochen. Vor allem aber beschäftigten ihn die Farben.
Seine Farbenlehre hielt Goethe für sein naturwissenschaftliches
Hauptwerk. Inspiriert durch Beobachtungen von Licht, Schatten und Farben
in der Natur, die Goethe auf seinen vielen Reisen machte, griff er die
Arbeit von Isaac Newton an. Der englische Forscher hatte schon im 17.
Jahrhundert erklärt und experimentell demonstriert, dass weißes Licht
aus verschiedenen Farben zusammengesetzt ist. Diese Farben lassen sich
durch ein Prisma trennen und auch wieder zu weißem Licht zusammenführen.
Newtons Prisma
Newton hatte sein bahnbrechendes Experiment in einem komplett
abgedunkelten Raum durchgeführt. Sonnenlicht fiel nur durch ein kleines
Loch in einer Wand auf ein Prisma, der dahinter entstehende Regenbogen
aus farbigen Licht war gut zu sehen. Goethe dagegen ging anders vor, wie
er in seiner Farbenlehre schrieb: "Eben befand ich mich in einem völlig
geweißten Zimmer; ich erwartete, als ich das Prisma vor die Augen nahm,
eingedenk der Newtonischen Theorie, die ganze weiße Wand nach
verschiedenen Stufen gefärbt, das von da ins Auge zurückkehrende Licht
in so viel farbige Lichter zersplittert zu sehen."
Aber natürlich sah Goethe nichts. Die weiße Wand war eine ausgedehnte
Lichtquelle. Das Prima zerlegte das Licht zwar in einzelne Farben, aber
da hier viele Lichtstrahlen in das Prisma fallen, überlagerten sich die
ebenso vielen farbigen Einzelstrahlen wieder zu weißem Licht. Nur an
Kanten oder ähnlichen Bereichen der Wand, wo keine komplett flächige
Lichtquelle vorlag, waren Regenbogenfarben zu sehen.
Goethe aber hielt sein Experiment für einen Erfolg: "Es bedurfte keiner
langen Überlegung, so erkannte ich, dass eine Grenze notwendig sei, um
Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich
vor mich laut aus, dass die Newtonische Lehre falsch sei."
Ablehnende Zeitgenossen
Johann Wolfgang von Goethe war also überzeugt, die optische Forschung
von Newton widerlegt zu haben. Licht sei eine Einheit; Helligkeit, also
weißes Licht, könne nicht durch Dunkles, also aus Farben zusammengesetzt
sein. Licht und Dunkelheit waren für Goethe gleichberechtigte Phänomene
und beide ebenso gleichberechtigt für die Entstehung von Farben nötig
und verantwortlich. Sie würden durch das Zusammenwirken von Licht und
Finsternis bei der Vermittlung eines "trüben Mediums" entstehen.
Die meisten Wissenschafter der damaligen Zeit lehnten die Goethe'sche
Farbenlehre allerdings ab. Hermann von Helmholtz bezeichnete sie etwa
als "den Versuch, die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks
gegen die Angriffe der Wissenschaft zu retten." Aus heutiger Sicht
wissen wir, dass Goethe zwar ein paar interessante Gedanken zur
Psychologie der Farbwahrnehmung hatte. Aber seine physikalische
Beschreibung des Lichts und der Farben und ihrer Entstehung ist schlicht
und einfach falsch.
Selbstbewusst verschätzt
Goethes Irrtum bestand nicht nur in fehlerhaften Experimenten und
falscher Interpretation der Ergebnisse. Er lag vor allem in einer
falschen Einschätzung seiner eigenen Fähigkeiten. Johann Wolfgang von
Goethe war unzweifelhaft ein umfassend gebildeter Mensch und einer der
bedeutendsten deutschsprachigen Dichter. Aber nur weil man in einem
Bereich überragende Fähigkeiten besitzt, folgt daraus keine universelle
Begabung für alle Disziplinen.
Das ist ein Verhalten, dem man in der Wissenschaft (aber nicht nur dort)
immer wieder begegnen kann. Etwa beim Nobelpreisträger Ivar Giaever,
der immer wieder gern in der Öffentlichkeit erklärt, dass der
Klimawandel kein Problem und das menschengemachte CO2 nicht dafür
verantwortlich sei.
Giaever ist allerdings kein Experte für Klimawissenschaft, sondern
Physiker, und seine "Erkenntnisse" über den Klimawandel entstammen dem
Selbststudium im Internet. Auch wenn Giaever ein Genie sein mag, was die
Quantenmechanik angeht – was die Klimaforschung betrifft, ist er a
priori nicht besser qualifiziert als jeder andere Laie.
Die Grenzen der eigenen Kompetenz
Eine Ausbildung zum Ingenieur macht einen auch nicht zwingend zum
Experten für die Relativitätstheorie oder die Kosmologie. Trotzdem
erhalte ich regelmäßig Post von (meist pensionierten) Ingenieuren, die
mir im Detail erklären wollen, dass sie Einsteins Erkenntnisse oder die
Urknalltheorie widerlegt haben.
Goethe war zwar ein naturwissenschaftlich informierter und
interessierter Mensch, aber studiert hatte er Jus und nicht Physik. Er
war kein ausgebildeter Naturwissenschafter, und seine Forschung war
fehlerhaft.
Es ist erschreckend leicht, dem Goethe'schen Irrtum zu verfallen. Wenn
man es gewohnt ist, Tag für Tag Experte auf seinem eigenen Gebiet zu
sein, dann muss man sich manchmal aktiv daran erinnern, dass man
trotzdem nicht überall Bescheid weiß. Aber genau das ist wichtig.
Wissenschaft kann nur dann funktionieren, wenn man sich der eigenen
Grenzen bewusst ist. Denn nur dann hat man eine Chance, sie zu
erweitern.
Nota. - Ob man für die Wissenschaft wie für die Kunst ein besonderes eingeborenes Talent braucht, ist höchst zweifelhaft. Zum Ethos der Wissenschaft gehört die Annahme, dass man mit Gewissenhaftigkeit beim Sammeln des Materials und bei Genauigkeit in der Befolgung der geltenden Regeln und natürlich mit etwas Fleiß schon zu Ergebnissen kommen werde, die immerhin der Überprüfung durch die Kollegen standhalten.
Ob Genie ausreicht, um diese Bedingungen im Einzelfall auch mal zu überspringen? Eine wahre Einsicht kann einem im Traum kommen, ganz ohne Begabung. Dass sie wahr ist, kann der Traum nicht bezeugen: Das muss die Wissenschaft schon erst noch prüfen.
Ebenso wenig wie ein Kunstwerk lässt sich ein Stück Wissenschaft individuell bestimmen. Kunst und Wissenschaft sind en gros regulative Instanzen im Lebenszusammenhang einer Kultur, en détail sind sie die spezifische Tätigkeit eines Berufsstandes. Der steht in Konkurrenz und Austausch miteinander; rechtferti- gen und bewähren muss er sich auf längere Sicht vor einer Öffentlichkeit, die ihm einen Markt bietet, Wis- senschaftler oder Künstler ist keiner für sich allein, sondern wenn, dann für den Rest der Welt.
Das ist es zugleich, was gegebenenfalls ihr Selbstvertrauen rechtfertigt: Als Angehörige eines streitbaren Standes weiß sich ein jeder unter ständiger Beobachtung durch seinesgleichen, und wo er sich vergreift, werden die andern schon laut schreien, bevor er es selber merkt. Wissenschaftlich werden sie durch Teil- habe an einer unablässig prozessierenden Kritik.
Und nicht durch eine zünftige Ausbildung noch durch genaues Befolgen der zünftigen Regeln. Die wird man wohl brauchen, um der Kritik der Andern standzuhalten. Doch nicht auf sie kommt es an, sondern eben - auf die prozessierende Kritik.
*
Entlastend für Goethe muss man ihm zugute halten, dass Wissenschaft in diesem Sinn zu seiner Zeit erst noch im entstehen begriffen war - wozu er mit seinem dilettantischen Auftritt ja seinen Beitrag geliefert hat. Dilettantisch war er, weil schon dmals (schon seit der Scholastik) die Kritik, die er ja an Newton vor- nahm, darin zu bestehen hatte, zuerst die Voraussetzungen zu prüfen, von denen der Kritisierte ausgeht. Hätte Goethe das getan, hätte er Newtons Lehre genauer verstanden und nicht fälschlich gemeint, sie widerlegt zu haben, bloß weil sein eignes Experiment daneben gegriffen hat.
Der Grund für Goethes Fehlgriff ist, dass er selbstgefällig war wie jeder Philister, und deren Schutzheiliger ist er bis heute.
JE,
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