Donnerstag, 29. November 2018

Lernen oder Selberdenken?

aus scinexx

Können Tiere doch nicht planen?
Experiment weckt Zweifel an höheren geistigen Leistungen von Raben und Menschenaffen 

Weniger schlau als gedacht? Raben und Schimpansen können vielleicht doch nicht vorausschauend denken – auch wenn bisherige Experimente dies nahelegten. Denn das vermeintlich planende Verhalten kann auch durch assoziatives Lernen zustande kommen, wie nun eine Wiederholung dieser Experimente mit einem lernfähigen Computerprogamm belegt. Demnach reicht eine Kombination von Verstärkung und Konditionierung aus, um die Aufgaben genauso gut zu lösen wie die Tiere. 

Das vorausschauende Planen galt lange als Domäne des Menschen – und als fortgeschrittene geistige Leistung. Denn dafür muss man verschiedene mögliche Zukunftsszenarien mental durchspielen. Eng damit verknüpft ist die Fähigkeit zu erkennen, dass es manchmal lohnender ist, auf eine sofortige Belohnung zugunsten eines späteren, größeren Vorteils zu verzichten. Mit dieser Form der Impulskontrolle und Vorausschau tuen sich selbst vierjährige Menschenkinder noch schwer.

Beweise für vorausschauendes Planen?

Doch in den letzten Jahren haben mehrere Studien Indizien dafür geliefert, dass zumindest einige Tiere ebenfalls vorausschauend planen können. So berücksichtigen Schimpansen bei der Wahl ihres Werkzeugs, wie lange sie dieses später tragen müssen und wählen ihre Schlafnester im Hinblick auf den Futterzugang am nächsten Tag. Raben und Papageien wiederum verschmähen bei Aussicht auf eine spätere Belohnung kleinere Futterstücke.


Aber steckt hinter diesem Verhalten tatsächlich die Fähigkeit, zu denken und mental verschiedene Szenarien im Kopf durchzuspielen? Johan Lind von der Universität Stockholm bezweifelt dies. Seiner Vermutung nach könnte auch eine Kombination aus einfachem Lernen durch Verstärkung und Konditionierung zu dem scheinbar planenden Verhalten dieser Tiere führen. Sein Argument dafür: Künstliche Intelligenz funktioniert auch nur Basis dieser Lernmechanismen – und erzielt damit erstaunliche Erfolge.

Lernfähiger Computer als Testsubjekt

Um das zu überprüfen, hat Lind ein einfaches, lernfähiges Computerprogramm vor die gleichen Aufgaben gestellt wie sie die Schimpansen, Raben und Papageien in den früheren Experimenten absolvieren mussten. Sie mussten beispielsweise erkennen, dass die Wahl eines auf den ersten Blick nutzlosen Hakens gegenüber einem Futterstück sich später auszahlen würde. Denn der Haken öffnete einen größeren Futtertresor. 

Der Clou dabei: Der Computer war so programmiert, dass er seine Verhaltensentscheidungen nur auf Basis von Konditionierung und Lernen durch Verstärkung trifft. "Wenn diese Prozesse des assoziativen Lernens nicht ausreichen, um das Verhalten zu erklären, dann müssen in der Tat alternative Mechanismen herhalten", so Lind. Würde das Programm dagegen die Aufgaben genauso gut lösen wie die Tiere, dann muss auch bei diesen kein höheres Denken im Spiel sein.

Lernen reicht

Und tatsächlich: Obwohl das Programm nur einfache Formen des assoziativen Lernens beherrschte, bestand es die Tests genauso wie die tierischen Probanden: "Unsere Simulation brachte die gleichen Ergebnisse wie bei den Raben und den Menschenaffen", berichtet Lind. Hatte der Computer einmal durch Versuch und Irrtum begriffen, dass anfängliche Selbstkontrolle sich später auszahlt, plante er entsprechend vor.

"Das belegt, dass zwei Lernmechanismen zusammen zu dem scheinbar vorausschauenden Verhalten führen können, das die Menschenaffen und Raben zeigen", so Lind. Die Konditionierung sorge dafür, dass bestimmte Werkzeuge durch das Vortraining und die Erfahrungen positiv besetzt werden. Deshalb bevorzugt sie der Schimpanse oder Rabe dann sogar gegenüber einem Futterstück. Die spätere Belohnung für eine korrekte Wahl verstärke dann diesen Lerneffekt, erklärt der Forscher.

Können Tiere doch nicht denken?

Das aber bedeutet: Das vermeintlich vorausschauende Planen von Tieren erfordert möglicherweise weit weniger geistige Leistungen als bisher angenommen. Statt echtem, zukunftsorientiertem Denken könnte auch eine Kombination einfacher Lernmechanismen hinter diesem Verhalten stecken. "Verhalten, das bisher als Anzeichen für die Fähigkeit zu flexiblem Planen gewertet wurde, kann demnach auf assoziatives Lernen zurückgeführt werden", so Lind.

Allerdings: Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Raben, Papageien und Schimpansen nicht doch über höhere geistige Fähigkeiten verfügen. Nach Ansicht des Forschers sind die bisherigen Experimente aber nicht dazu geeignet, dies eindeutig nachzuweisen. (Journal Royal Society Open Science, 2018; doi: 10.1098/rsos.180778)

(Universität Stockholm, 29.11.2018 - NPO)

Sonntag, 25. November 2018

Ist das Gedächtnis räumlich organisiert?

 aus spektrum.de, 21.11.2018
 
Rückwärtslaufen hilft beim Erinnern
Experimente belegen ein kurioses Phänomen: Eine mentale Reise in die Vergangenheit beginnt man am besten mit einem Schritt rückwärts.
 

Man möchte es für einen Aprilscherz halten, was vier britische Psychologen da gerade im Fachblatt »Cog- nition« veröffentlicht haben. Zumal sie ihr Ergebnis publikumswirksam als »time-travel effect«, also als Zeitreise-Effekt bezeichnen: Rückwärtslaufen helfe dem Gedächtnis auf die Sprünge, so das Team von der University of Roehampton. So merkwürdig das klingt, schließen ihre Experimente doch an jene an, die unter dem Stichwort »Embodied Cognition« schon manche merkwürdige Verbindung zwischen Körper und Geist offenbarten. Sie gründen sich unter anderem auf bekannte Zusammenhänge zwischen Raum und Zeit in Sprache und Denken: Wir sprechen beispielsweise davon, dass künftige Ereignisse »vor der Tür stehen« oder dass wir die Vergangenheit »hinter uns« lassen.



Ob diese Assoziation eine gedankliche Reise in die Vergangenheit und somit sogar das Erinnerungsvermö- gen fördert, untersuchten Aleksandar Aksentijevic und seine Kollegen in einer Reihe von Experimenten. Zunächst bekamen die jeweils etwas mehr als 100 Probandinnen und Probanden entweder einen andert- halbminütigen Videoclip von einem Diebstahl präsentiert, oder sie sollten sich 20 Wörter oder 18 Farb- fotografien merken. Um sie davon ein wenig abzulenken, ließen die Forscher sie danach zehn Minuten lang Sudokus lösen.

Darauf folgte der entscheidende Part, die Bewegung, in etlichen Varianten: Die Versuchspersonen liefen entweder zehn Meter rückwärts oder vorwärts (oder blieben ebenso lang sitzen), und das einmal mit offenen, einmal mit geschlossenen Augen. Ein andermal sollten sie sich die Rückwärtsbewegung lediglich vorstellen oder bekamen ein Video von einem fahrenden Zug vorgespielt, um damit die Illusion einer Rückwärts- oder Vorwärtsbewegung zu erzeugen. Direkt darauf sollten sie in ihrem Gedächtnis kramen und so so viele Wörter beziehungsweise Bilder wie möglich ins Gedächtnis zurückholen oder Fragen zur Filmszene beantworten.

Hatten sie sich real, mittels optischer Illusion oder gedanklich rückwärts bewegt, gaben sie im Schnitt rund zwei richtige Antworten mehr als nach keiner oder nach vorwärts gerichteter Bewegung. Beim Erinnern an Wörter und Bilder zeigten sich vergleichbare statistisch bedeutsame Effekte. Die Autoren schließen daraus, dass das Gedächtnis Erinnerungen räumlich geordnet ablegt, gemäß einem »zeitlichen Index« entlang einer subjektiven Timeline. Sie spekulieren außerdem, dass es eine besondere Assoziation zwischen vorgestellter Bewegung und dem Gedächtnis für dynamische Szenen geben könnte, derart, dass beide einer symmetri- schen Topografie folgen und die vorgestellten Bewegungen so den Abruf erleichtern könnten. »Man kann das Gedächtnis nicht isoliert vom übrigen menschlichen Denken und Erleben betrachten«, denn es sei »un- trennbar mit der Erfahrung der Gegenwart verbunden«.

Das könnte Sie auch interessieren: Spektrum Kompakt: Was ist Zeit?

Eine Verbindung zwischen Denken und Bewegung hat Aksentijevic schon vor einigen Jahren im Zusam- menhang mit dem »psychologischen Doppler-Effekt« untersucht: Offenbar neigen wir dazu, die Zukunft als näher zu empfinden als eine (zeitlich gleich weit entfernte) Vergangenheit. Die Asymmetrie im Erleben, so vermuten auch andere Forscher, könnte in der subjektiven Erfahrung begründet sein, dass wir uns durch die Zeit vorwärts bewegen, wobei sich künftige Ereignisse stets nähern und vergangene von uns entfernen.
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Nota. - Haben Sie's bemerkt? Zum Schluss sprechen die Forscher schon nicht mehr von 'Raum', sondern von Bewegung. Die ist nicht bloß Raum und Zeit; sie veranschaulicht auch den Elementarmodus unseres Erlebens: als Tätigkeit (auch das Naturgeschehen wird ursprünglich als deren Tätigkeit aufgefasst). Wenn auch die Gedächtniselemente räumlich zu einander abgelegt sind - aufgesucht werden müssen sie im zeit- lichen Modus: eins nach dem andern; und das kann dauern (weil Räume zu durchmessen sind).
JE



Samstag, 24. November 2018

Die Qualität der Wissenschaft ermisst allein die Kritik.


aus derStandard.at, 24. November 2018, 08:00

Wissenschaftsforscherin
"Qualität zu messen ist riskant"
In Berufungen spiele oft die Anzahl der Publikationen eine größere Rolle als die Qualität, sagt die Wissenschaftsforscherin Cornelia Schendzielorz

Interview von Tanja Traxler

Die Förderung von Forschungsprojekten, die Berufung von Professoren oder die Publikation in wissenschaftlichen Fachzeitschriften – bei sämtlichen Entscheidungen im Wissenschaftsbetrieb gilt das Begutachtungsverfahren quasi als Goldstandard der Qualitätssicherung in der Wissenschaft. Unter dem englischen Ausdruck Peer Review befinden Fachkollegen meist anonym über die Qualität einer Arbeit.

Allerdings ist es gar nicht so einfach, über die Qualität in der Wissenschaft zu urteilen, sie gar zu bemessen oder zu standardisieren, sagt Cornelia Schendzielorz vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Zudem steht die Qualität in einem Spannungsverhältnis zur Quantität: Bei der Auswahl künftiger Professoren zählt oft die schiere Anzahl an Publikationen mehr als der Inhalt dieser Arbeiten. Was jedenfalls qualitätshemmend wirkt, ist der enorme Zeitdruck in der Wissenschaft: Stress wirkt sich sowohl negativ auf die Qualität von Forschungsarbeiten aus sowie auf die Zuverlässigkeit von Gutachten, diese zu beurteilen.

STANDARD: Welche Strategien gibt es, um Qualität in der Wissenschaft festzustellen?

Schendzielorz: Qualitätseinschätzungen werden in der Wissenschaft in aufwendigen Bewertungsverfahren – in sogenannten Peer-Review-Prozessen – hervorgebracht. Die Idee dieser Prüfungsverfahren ist einfach: Um herauszufinden, ob eine Arbeit plausibel ist, wird jemand um eine Einschätzung gebeten, der von diesem Thema eine Ahnung hat. Diese fachkundige Person – genannt Peer – überprüft, ob sauber gearbeitet worden ist und der Forschungsprozess nachvollziehbar ist. Doch mit stetigem Erkenntnisgewinn muss auch die Bedeutung von Qualität immer wieder neu erarbeitet und weiterentwickelt werden.

STANDARD: Was bedeutet das konkret?

Schendzielorz: Qualität in der Wissenschaft ist kein objektiver Wert. Wie hochwertig eine Arbeit ist, kann immer nur im Verhältnis zu anderen Arbeiten bestimmt werden. Qualität variiert zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten. Das heißt, es gibt Forschungen, die zu bestimmten historischen Zeitpunkten hervorragend eingeschätzt werden, später hingegen als unzureichend. Wenn man eine Methode an konkreten Fragestellungen erprobt, stößt man mitunter auf Ungenauigkeiten der bisherigen Modelle. Das kann dazu führen, dass sich genau jene Forschung, die zuvor als so hochwertig erachtet worden ist, plötzlich als unzulänglich herausstellt. Qualität ist also ein variabler, relativer Wert.

STANDARD: Aktuell zählen Publikationen in Topjournalen als Gütesiegel für Qualität. Sind die Impact-Faktoren, nach denen Wissenschaftsjournale gerankt werden, tatsächlich aussagekräftige Maßstäbe für qualitativ hochwertige Forschung?

Schendzielorz: Nicht zwingend. Die Qualität einer Arbeit kann man am besten einschätzen, indem man sie liest und mit anderen diskutiert. Natürlich haben diese Peer-Review-Verfahren im Vorlauf der Publikation in Topjournalen durchaus eine wichtige Bedeutung und tragen zur Sicherung von Minimalstandards bei. Doch Prozesse wie Plagiatsprüfungen können nie das Lesen der Arbeit ersetzen. Man darf die Impact-Faktoren von Journalen daher nicht überbewerten. Generell gesprochen, lässt sich Qualität in der Wissenschaft nicht messen.

STANDARD: Warum ist es dennoch wichtig, über Qualität in der Wissenschaft zu sprechen, auch wenn sie sich nicht objektivieren lässt?

Schendzielorz: Das stetige Bemühen um bestmögliche Durchführung und die rigide Kontrolle der einzelnen Schritte sind sehr wichtig. Denn genau das trägt zur bestmöglichen Qualität bei. Ich möchte nicht dagegen argumentieren, über Qualität zu sprechen. Allerdings will ich betonen, dass der Versuch, sie zu messen oder zu standardisieren, Risiken birgt.

STANDARD: Zum Beispiel?

Schendzielorz: Wenn es um handwerkliche Minimalstandards wie gute wissenschaft liche Praxis, gründliche Recherche oder Nachvollziehbarkeit geht – da können Vereinbarungen und Leitlinien natürlich helfen. Wenn aber Qualitätsstandards Prämissen für die Wissenschaft setzen, dann wird es riskant. Denn damit entstehen unhintergehbare Voraussetzungen und es werden erkenntnistheoretische Standpunkte vorgegeben. Damit wird das Wichtigste, was die Wissenschaft auszeichnet, nämlich auch ihre eigenen Vorannahmen immer wieder kontrovers zu diskutieren und zu hinterfragen, unmöglich gemacht.

STANDARD: Quantität wird im Wissenschaftsbetrieb vielfach honoriert. Etwa die Anzahl der Publikationen ist eine wichtige Entscheidungshilfe in Berufungskommis sionen – wird Qualität im Wissenschaftssystem ausreichend gewürdigt?

Schendzielorz: Die quantitativen Parameter wie Anzahl der Publikationen und Zitierungen spielen bei der Stellenvergabe tatsächlich eine große Rolle. Es werden aber schon auch qualitative Elemente berücksichtigt wie Bewerbungsgespräche. Dennoch gibt es einen immensen Druck, schnell und viel zu publizieren, gut platziert in wichtigen Journals. Dabei gibt es große Fächerunterschiede. In den Naturwissenschaften ist das sicher noch viel ausgeprägter als in manchen Bereichen der Sozial- und Geisteswissenschaften.

STANDARD: Gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen Qualität und Quantität?

Schendzielorz: Ja, diese Spannung besteht sicherlich. Pragmatisch gesprochen, ist es schneller und einfacher, sich auf die quantitativen Parameter zu stützen, anstatt Exposés und Publikationen zu lesen. Wenn kritisiert wird, dass die quantitativen Maßstäbe in Berufungskommissionen zu viel Gewicht haben, müssen sich die Wissenschafter auch an die eigene Nase fassen – denn sie sitzen ja in diesen Kommissionen. Gleichzeitig muss man auch festhalten, dass der hohe Zeitdruck in der Wissenschaft eine entscheidende Rolle spielt: Stress und Schlafmangel sind der Qualität nicht zuträglich. Und wenn ständig mehr Zeit in Qualitätssicherung investiert wird anstatt in mehr Forschungs- und Lehrstellen, auf denen Wissenschafter einfach die Zeit haben, konzentriert und ruhig zu arbeiten, wird das die Qualität nicht fördern. (Tanja Traxler, 24.11.2018)

Cornelia Schendzielorz forscht am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung in Berlin zu Bewertungspraktiken in der Wissenschaft und Begutachtungsprozessen.

Link
Website von Cornelia Schendzielorz



Nota. - Die Qualität von Wissenschaft ermessen kann allein die Wissenschaft selbst - nämlich als Kritik. Die ist unbeschränkt und unbegrenzt, weil sie nämlich öffentlich ist. Und nur dadurch ist Wissenschaft überhaupt Wissenschaft: dass sie öffentlich ist.

Mit andern Worten - um kritisiert werden zu können, muss sie erst einmal veröffentlicht worden sein. Peer Reviews sind Kritiken, die nicht öffentlich sind. Dass sie selber wissenschaftlichen Standards genügen, kann man immer nur hoffen; kritisieren kann man sie nicht. Dass der einzelne Reviewer dem einzelnen Autor Un- recht tut, lässt sich schlechterdings nicht ausschließen. Man kann immer nur hoffen, dass auf die lange Sicht Kritik systematisch ist, weil sie systemisch ist: in Raum und Zeit und Thematik unbegrenzt und unbeschränkt. Wissenschaft geschieht im Kampfmodus, der hält sie unter Spannung.
JE 

Freitag, 23. November 2018

Der Kampf der Embryonen.


aus nzz.ch,

In der Schwangerschaft handeln kindliche und mütterliche Zellen die Bedingungen aus 
Nistet sich ein Embryo in der Gebärmutter ein, geht es nicht nur kuschelig zu. Blutgefässe werden angezapft, und Gewebe wird zerstört. Neu entdeckte Immunzellen spielen dabei eine ungewöhn- liche Rolle.
 
von  Lena Stallmach

Wenn ein Kind in einer Frau heranwächst, denkt man meist an ein inniges, harmonisches Verhältnis: Der winzige Embryo wird von der warmen, weichen Gebärmutter umhüllt – er wächst und gedeiht. Betrachtet man seine Einnistung in das mütterliche Gewebe aber auf der Ebene der Zellen, gleicht sie einer harschen Invasion: Kindliche Zellen strömen in das mütterliche Gewebe ein. Sie lösen das Muskelgewebe auf und bauen die mütterlichen Blutgefässe um. An entscheidenden Stellen beschädigen sie die Gefässe, so dass Blut in das entstehende Plazentagewebe strömt. All dies geschieht unter der Aufsicht von drei neu entdeckten Typen von mütterlichen Immunzellen, wie eine Studie nun zeigt.1 

Invasion wird toleriert und unterstützt 

Für eine erfolgreiche Schwangerschaft ist diese Invasion entscheidend. Denn hier bildet sich die Plazenta aus mütterlichen und kindlichen Zellen, die das Kind mit Sauerstoff und anderen Nährstoffen versorgt (siehe Grafik). Läuft dabei etwas schief, kann es zu einem frühen Abbruch der Schwangerschaft kommen oder auch zu späteren Problemen wie beispielsweise einer Präeklampsie. Dabei wird das Baby nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt.

Normalerweise würde bereits die Anwesenheit von fremden Zellen die Abwehrreaktion des Gewebes entfachen. Doch in einer Schwangerschaft tolerieren die mütterlichen Immunzellen nicht nur die Fremdlinge, sondern auch ihr «übergriffiges Verhalten.» Zum einen tragen die kindlichen Zellen einen Marker, der die Immunzellen in Zaum hält. Nun haben Forscher um Sarah Teichmann vom Wellcome Sanger Institute in Cambridge aber noch weitere Arten der Zellkommunikation entdeckt, die dafür sorgen, dass dieser Prozess geregelt abläuft.

 

Für ihre Analyse sammelten sie rund 70 000 Zellen aus Plazenten und dem angrenzenden Gewebe von gewollten Abbrüchen in der frühen Schwangerschaft (6. bis 14. Woche). Sie sequenzierten die gesamte RNA in den Zellen, die als Zwischenprodukt entsteht, wenn Moleküle nach der Vorlage der DNA hergestellt werden. Auf diese Weise konnten die Forscher bestimmen, welche Moleküle in den entnommenen Zellen jeweils gerade produziert werden.

Sie interessierten sich besonders für Moleküle, die bei der Zellkommunikation eingesetzt werden: Rezeptoren an der Zelloberfläche und ihre Bindungspartner (Liganden). Von diesen erstellten sie Profile sämtlicher Zelltypen und speicherten die gesammelten Informationen in einer eigens dafür erstellten Datenbank (www.cellphonedb.org).

Aus diesen Daten leiteten sie her, wie bestimmte Zellen mit anderen kommunizieren. Zum Beispiel zeigten sie, dass die embryonalen Zellen, die in die mütterliche Schleimhaut vordringen und die Blutgefässe umbauen, einen bestimmten Wachstumsfaktor produzieren. Kommt dieser in Kontakt mit bestimmten regulatorischen Immunzellen in der Mutter, regt dies deren Vermehrung an, was die Immunreaktion insgesamt drosselt. 

In Schach gehalten 

Damit es die embryonalen Zellen im mütterlichen Gewebe aber nicht zu weit treiben, werden sie von anderen Immunzellen, den sogenannten natürlichen Killerzellen, in Schach gehalten. Diese tummeln sich in grosser Zahl in der an die Plazenta angrenzenden Gebärmutterschleimhaut. Nun konnten die Forscher zeigen, dass in diesem Umfeld drei verschiedene Unterarten von natürlichen Killerzellen produziert werden.

Dies sei bemerkenswert, denn es mache den Anschein, als unterschieden sich diese spezialisierten Zellen deutlich von den natürlichen Killerzellen im Blut, schreiben die Wissenschafter Sumati Rajagopalan und Eric Long in einem begleitenden Kommentar.2 Man könne aus den Daten schliessen, dass die drei Zelltypen sowohl mit den kindlichen als auch mit den mütterlichen Zellen in Kontakt träten und darauf hinarbeiteten, dass sich die embryonalen Zellen in einem kontrollierten Rahmen ausbreiten könnten. Die Datenbank könne zudem als Referenz verwendet werden, um in Zukunft zu erforschen, was bei gewissen Schwangerschaftskomplikationen schiefläuft.

1 Nature 563, 347–353 (2018); 2 ebenda 337-338.

Donnerstag, 22. November 2018

Soziale Kulturen bei Schimpansen?


aus derStandard.at, 21. November 2018, 08:00

Hinweise auf soziale Kulturen bei Schimpansen beobachtet
Unterschiede im Sozialverhalten könnten bei den Menschenaffen auf kulturelles Lernen basieren

Das Sozialverhalten des Menschen wird teilweise von seinen Genen bestimmt, der Löwenanteil jedoch geht auf die Kultur zurück. Ähnlich könnte es sich auch bei unseren nächsten Verwandten verhalten, wie aktuelle Forschungsergebnisse zeigen: Die Beobachtung getrennt lebender Gruppen von Schimpansen lieferte nun signifikante Unterschiede im Sozialverhalten, die über die Zeit hinweg stabil sind. Diese Unterschiede könnten das Ergebnis von kulturellem Lernen sein.

Eine internationale Forschungsgruppe hat über drei Jahre hinweg vier Gruppen von Schimpansen in der Chimfunshi Wildlife Orphanage in Sambia erforscht. Während dieser Zeit haben sie verschiedene Aspekte ihres Sozialverhaltens untersucht – zum Beispiel, wie viele Individuen in temporären Kleingruppen zusammenleben, wie räumlich nah Individuen sich gegenseitig durchschnittlich sind und wie häufig sie gegenseitige Fellpflege betreiben. Die Gruppen zeigten die größten Unterschiede in der Anzahl an Individuen, mit denen sie Zeit verbringen, auch bekannt als die Subgruppengröße.

Sozialere Subgruppe

Zwei der Gruppen formten deutlich größere Subgruppen als die anderen zwei Gruppen. "Die geselligste Gruppe zeigte sich auch in den anderen Aspekten sozialer. Die Schimpansen in diesen Gruppen waren durchschnittlich räumlich näher beieinander und betrieben viel häufiger gegenseitige Fellpflege als die anderen Gruppen", erklärt Daniel Haun vom Leipziger Forschungszentrum für frühkindliche Entwicklung (LFE), Seniorautor der im Fachjournal "PNAS" erschienen Studie.

In den meisten Fällen vergleichen Forscher bisher Gruppen wilder Schimpansen, die in unterschiedlichen Umgebungen leben und große genetische Unterschiede aufweisen. In diesen Fällen können sie den Einfluss dieser Faktoren auf die beobachteten Verhaltensunterschiede zwischen Gruppen nicht ausschließen. Da die Schimpansen in Chimfunshi alle in derselben Umgebung leben und es keine systematischen genetischen Unterschiede zwischen ihnen gibt, haben Forscher so die Möglichkeit zu untersuchen, inwiefern andere Prozesse, wie soziales Lernen, Unterschiede zwischen Schimpansengruppen erklären können. 

Beobachtet und dazugelernt

"Obwohl wir die Ursprünge dieser Unterschiede in dieser Studie nicht direkt untersucht haben, wissen wir, dass Schimpansen sozial voneinander lernen können und, dass Primaten ihr Sozialverhalten an ihren Kontext anpassen können", sagt Haun. Die Individuen in den jeweiligen Gruppen hätten demnach möglicherweise Interaktionsmuster anderer Schimpansen beobachtet, wie die allgemeine Nähe und die Häufigkeit von Fellpflege und sie sozial gelernt. (red,)


Abstract
PNAS: "Population-specific social dynamics in chimpanzees."



Dienstag, 20. November 2018

Orang Utans können wie Menschen über Vergangenes reden.

Orang-Utans sprechen wie Menschen über die Vergangenheit
aus welt.de, 20. 11. 2018

Orang-Utans sprechen wie wir Menschen über die Vergangenheit
Über Vergangenes zu sprechen galt lange als rein menschliche Fähigkeit. Doch jetzt gesellen sich auch Orang-Utans zu diesem exklusiven Kreis. Damit sind sie die einzigen Menschenaffen, die dazu fähig sind.



Der US-amerikanische Linguist Charles F. Hockett definierte 13 Merkmale, die für die menschliche Sprache spezifisch seien. Darunter auch das sogenannte displacement – zu Deutsch in etwa Dislozierung oder Dislokation, also über etwas zu sprechen, das in Raum oder Zeit verschoben ist. Einfacher formuliert: über einen Gegenstand oder eine Person zu reden, der oder die gerade nicht anwesend ist, beziehungsweise ein Ereignis, das in der Vergangenheit oder Zukunft liegt.

Lange Zeit ging man davon aus, dass diese Fähigkeit nur uns Menschen vorbehalten ist. Schließlich ist es schwer vorstellbar, dass unsere Hunde, Katzen oder Goldfische mit ihren Artgenossen darüber quatschen, wie ihr Tag so war. Doch inzwischen weiß man beispielsweise von Bienen, dass sie ihren Mitbewohnern tänzerisch mitteilen, wo sie eine ergiebige Futterquelle gefunden haben. Und nun kommt noch eine weitere Tierart hinzu: 

Orang-Utans sprechen über Vergangenes – und zwar bisher als einzige Menschenaffen.

Schottische Wissenschaftler der University of St. Andrews wollten die Alarmrufe der Primaten in ihrem natürlichen Lebensraum studieren. Diese hören sich an wie schmatzende Kussgeräusche und sollen die Artgenossen vor potenziellen Gefahren warnen.

Für ihr Experiment haben sich die Forscher eine Decke mit Tigermuster übergeworfen und sind auf allen Vieren durch den Regenwald im Norden Sumatras gekrochen. (An dieser Stelle verkneifen wir uns das Lachen ob der bildlichen Vorstellung.) Die Aufmachung sollte die insgesamt sieben Orang-Utan-Weibchen, die mit ihrem Nachwuchs in den umliegenden Bäumen saßen, in Aufruhr bringen.

Doch die Wissenschaftler wurden zunächst enttäuscht. Die Affenmütter brachten zwar sich und ihre Jungen in Sicherheit, gaben dabei aber keinen Ton von sich.

Erst durchschnittlich sieben Minuten nachdem der vermeintliche Tiger verschwunden war, riefen sie zur Warnung. 

Die Forscher schlussfolgern daraus, dass die Weibchen so lange warteten, bis die Luft rein war, um letztlich ihre Kinder zu schützen.

Die Primaten reagierten also mit Verzögerung, teilten ihren Artgenossen etwas aus der Vergangenheit mit. Für die Wissenschaftler ist damit klar: "Dieser Sprachgebrauch ist nicht nur ein Reflex oder eine konditio- nierte Reaktion auf eine Gefahr hin, sondern ein bewusstes und kontrolliertes Verhalten." 
Adriano R. Lameira, Verhaltensforscher und Studienautor 

Da sowohl Orang-Utans als auch Menschen Vergangenes verstehen und darüber sprechen können, könnte sich diese Fähigkeit bei einem gemeinsamen Vorfahren evolutionär entwickelt haben. Um diese These zu untermauern, braucht es allerdings noch weitere Forschungen.


Nota I. -  Aus einem einzigen und unspezifischen Experiment so gewaltige Schlüsse ziehen? Das ist eher PR als Wissenschaft.
JE

Nota II. -  Fake News!
Nein, das ist kein PR-Gag, das ist eine regelrechte Fälschung. Sie unterstellen, dass die Orangs Vergan- genheit und Gegenwart unterscheiden, und beobachten dann, dass sie über Vergangenes reden. Allge- meiner: Sie setzen voraus, dass sie in Begriffen denken, und beobachten, dass sie... in Begriffen reden.

Im ihrem Bericht vom Beobachteten kommt eine Unterschied zwische vergangen und gegenwärtig über- haupt nicht vor. Da ist ständig jetzt. Die Orangs haben keine Armbanduhren mit Sekundenzeiger. Sie leben in keiner gleichmäßig dahinfließenden Zeit, sondern in je spezifischen Situationen. Was unterscheidet eine Situation von einer andern? Ihre Bedeutung, nämlich das, was jeweils die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Normalerweise sind es schwache Bedeutungen, die die Aufmerksamkeit nur eine kurze Weile beanspru- chen und daher in der Regel - nur für das einzelne Individuum gelten. Sie gehen rasch und ohne Hiatus ineinander über. Starke Bedeutungen ziehen die Aufmerksamkeit von Vielen auf sich und stiften eine Situation für Alle. Das kann dauern.

Hier: Die Tiger treten auf, es entsteht GEFAHR für alle. Die Mütter bringen die Kinder in Sicherheit, alle verhalten sich so still wie möglich. Nach einer Weile entfernen sich die Tiger, die Gefahr lässt nach, die Stille hält vorsichtshalber an; schließlich ist die Gefahr vorüber - aber nähert sich der Nachbargruppe: Sie stoßen ihren Warnruf aus. Das alles geschieht in der Gegenwart, und die heißt: Gefahr. Und auch die neue Situation ist geprägt von Gefaht: für die Andern.

Wollte ich glauben, die Forscher hätten sich in unserm Fall nur geirrt, müsste ich annehmen, sie seien dumm. Die nächstliegende und gröbste Gefahr ist für einen Ethologen, dass er dem Probanden seine eigene Bewusstseinsverfassung unterstellt. Wer das nicht weiß, ist gar kein Verhaltensforscher - und hätte niemals die Mittel für eine solche Expedition bewilligt bekommen. Ich muss also annehmen, sie haben bewusst ge- fälscht.
JE




Samstag, 17. November 2018

Das Naturgesetz der geringsten Energie.

aus spektrum.de, 21. 10. 2018

Das faule Universum
Sich selbst überlassen, suchen sich die Dinge immer den energetisch günstigsten Zustand. Dieses fundamentale Prinzip lässt sich mit einer simplen Schnur demonstrieren.




Die Funktion cosh ist der Kosinus hyperbolicus, also der gerade Anteil der Exponentialfunktion, die sich – zusammen mit dem Gegenstück des Sinus hyperbolicus (sinh) – auch so schreiben lässt: ex = sinh x + cosh x. Der Kosinus hyperbolicus beschreibt aber auch (in Abhängigkeit eines Skalierungsfaktors a) die Form eines frei hängenden Seils, weswegen seine grafische Darstellung häufig als »Kettenlinie« bezeichnet wird.

Die Frage nach der Form so einer hängenden Kette hat schon Galileo Galilei beschäftigt. Er stellte fest, dass sie mit einer Parabel angenähert werden kann. Der deutsche Mathematiker Joachim Jungius konnte 1639 aber zeigen, dass die Form keine Parabel ist. Doch wie man die Kettenlinie tatsächlich mathematisch beschreiben kann, wusste er nicht. Erst 1691 gelang es Gottfried Wilhelm Leibniz, Christiaan Huygens und Johann Bernoulli auch dank der kurz zuvor neu entwickelten Infinitesimalrechnung, die mathematische Gleichung abzuleiten, die eine Kettenlinie korrekt beschreibt.

Man erhält diese Gleichung, wenn man nach der Position sucht, in der das Seil die kleinstmögliche potenzielle Energie hat. Lässt man die Kettenlinie im Raum rotieren, erhält man eine Fläche: das Katenoid. 1744 konnte Leonard Euler beweisen, dass es sich dabei um eine Minimalfläche handelt, also eine Fläche, deren Flächeninhalt lokal minimal ist (so wie die Flächen, die zum Beispiel sich selbst überlassene Seifenblasen einnehmen).

Die Eigenschaft der Natur, energetisch immer die günstigsten Zustände zu wählen, haben sich die Menschen in vielerlei Hinsicht zu Nutze gemacht. Der englische Gelehrte Robert Hooke erklärte 1671, wie man Bogen in der Architektur seiner Meinung nach optimal konstruiert. Dazu nimmt man eine Kettenlinie und stellt sie einfach auf den Kopf. Die Punkte, an denen die Kette aufgehängt ist, entsprechen dann den Punkten, an denen der Bogen den Boden berührt. Ein Bogen mit gleichförmiger Dichte und Dicke, der nur sein eigenes Gewicht tragen muss, hat tatsächlich dann die optimale Form, wenn er einer invertierten Kettenlinie entspricht. Dann kann der Bogen die nach unten wirkende Gravitationskraft in eine entlang der Bogenkurve wirkende Kompressionskraft umleiten.

Dieses Prinzip hat sich unter anderem der spanische Architekt Antoní Gaudí zu Nutzen gemacht. Sein Statikmodell der Sagrada Familia in Barcelona besteht aus jeder Menge Schnüren, die von der Decke herabhängen und die projektierte Form der Kathedrale in umgekehrter Form nachbilden.

Aber auch die Kuppel der St Paul's Kathedrale in London basiert auf umgekehrten Kettenlinien, ebenso der Querschnitt des Budapester Ostbahnhofs. Man findet Kettenlinien bei Seilbrücken wie bei den hängenden Leitungen von Stromtrassen oder bei Spinnennetzen. Die traditionellen, aus Lehm und Gras gefertigten Musgum-Hütten in Kamerun folgen Kettenlinien; ebenso die Schneehäuser der Menschen im nördlichen Polargebiet. Wenn Schnee und Eis im Lauf der Zeit komprimiert werden, dann stellt die energetische Besonderheit der Kettenlinie sicher, dass die dabei entstehenden Kräfte nicht zu Verformungen führen, sondern den Druck entlang der Form ableiten. Iglus sind also – zumindest aus mathematischer Sicht – wahrhafte Niedrigenergiehäuser!

Ich persönlich bin immer wieder aufs Neue fasziniert von dieser fundamentalen Faulheit des Universums. Es ist höchst erstaunlich, welche weit reichenden Konsequenzen sich daraus ergeben und wie sehr sie unseren Alltag beeinflussen.


Florian Freistetter
Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«. »Freistetters Formelwelt« ist seine regelmäßig erscheinende Kolumne auf »Spektrum.de«.

Nota. - So missverständlich die Rede von Gesetzen in der Natur auch ist - auch der größte Skeptiker kann nicht bezweifeln, dass es in der sogenannten Natur Dinge gibt, die so sind wie sie sind. Eine Ursache dahinter lässt sich nicht nur nicht auffinden; sie lässt sich im Ernst nicht einmal vorstellen. Und wenn man schon auf das Wort nicht verzichten mag, wäre es doch besser, solche Elementargegeben- heiten einen Gesetzgeber zu nennen statt ein Gesetz.
JE

Der schöne Schein trügt.

Fraktale  
aus spektrum.de,17.10.2018
 
Teilchenphysik 
Trügerische Eleganz
Über Jahrhunderte haben Menschen immer wieder Teile des Codes erraten, in dem die Naturgesetze geschrieben sind. Nun aber scheinen die Forscher in einer Sackgasse gelandet zu sein.

von Robert Gast

Bei der Suche nach neuen Naturgesetzen verlassen sich Physiker seit Langem auf ihre mathematische Intuition: Schöne Formeln sind eher wahr als weniger elegante, meinen sie.

Die Physikerin Sabine Hossenfelder argumentiert in einem neuen Buch, Ästhetik sei kein wissenschaftliches Kriterium – sie habe Forscher schon oft in die Irre geführt. 

Die Frankfurter Theoretikerin wirft viele wichtige Fragen auf, schießt aber aus Sicht mancher Physiker über das Ziel hinaus. Insbesondere die Symmetrie von Gleichungen gilt vielen Forschern nach wie vor als Schlüssel zum Verständnis des Mikrokosmos.


Für Steven Weinberg ist die Sache klar: Gute Physiker sind wie Pferdezüchter. Im Stall erkennen diese auf den ersten Blick, welches Tier Rennen gewinnen kann. Bei der Suche nach neuen Naturgesetzen ist es so ähnlich, findet der Nobelpreisträger: »Jahrhunderte der Erfahrung mit der Natur haben uns ein ästhetisches Gespür dafür eingemeißelt«, sagte er einmal.

Weinberg weiß, wovon er spricht: Vor gut 50 Jahren war er maßgeblich daran beteiligt, die Theorie der »elektro­schwa­chen Vereinheitlichung« auszuarbeiten. Ihre Gleichungen besagen, dass zwei der vier bekannten Kräfte im Universum – die schwache Kernkraft (die Atomkerne zer­fal­len lässt) und der Elektromagnetismus – bloß Facetten desselben Phänomens sind. Wenn man weit genug ins Innere der Materie hineinzoomt und Strukturen und Prozesse betrachtet, die gerade einmal ein Milliardstel eines mil­li­ardstel Meters (10–18 Meter) voneinander entfernt sind, kann man beide Kräfte nicht mehr voneinander unterscheiden.

Inspiriert hatten Weinberg und seine Kollegen elegante mathematische Strukturen, so genannte Symmetriegruppen. Mit einem Kniff, der dem Amerikaner 1967 in seinem roten Sportwagen auf dem Weg zur Arbeit einfiel, ließen sich die letzten Widersprüche der »elektroschwachen Vereinheitlichung« ausräumen. Zunächst war das nur ein schöner Gedanke. Aber bald darauf bestätigten Experimente an Teilchenbeschleunigern die Vorhersagen der Theorie – und machten Weinberg, Sheldon Lee Glashow und Abdus Salam 1979 zu Nobelpreisträgern.

Bis heute versuchen Physiker, an die Erfolge von damals anzuknüpfen. Mit großem Eifer suchen sie nach einem Weltmodell, das nicht bloß zwei, sondern alle vier bekannten Kräfte auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen kann. Idealerweise würde sich diese Urkraft durch eine »Theorie von allem« oder eine Art »Weltformel« beschreiben lassen – ein Traum, auf den schon Albert Einstein hinarbeitete.

Aber die Physiker kommen diesem Ziel, wenn überhaupt, nur langsam näher. Seit einigen Jahren wirkt es sogar so, als wären sie irgendwo falsch abgebogen …  

Der Autor ist Physiker und Redakteur bei »Spektrum.de« und »Spektrum der Wissenschaft«.

Freitag, 16. November 2018

Fortschritte bei der Kartierung des Gehirns.


aus spektrum.de, 15.11.2018

Hoffnung für das komplexe Gehirn
Mit Hilfe einer neuartigen, auf genetischen Barcodes basierenden Technik lassen sich die Verbindungen zwischen einzelnen Gehirnzellen in einem nie da gewesenen Umfang mühelos kartieren. Eine unerwartete Komplexität des visuellen Systems ist nur das erste Geheimnis, das diese Methode bislang enthüllt hat.

von Monique Brouilette 

Der Neurowissenschaftler Tony Zador sitzt hinter dem Schreibtisch seines Büros am Cold Spring Harbor Laboratory auf Long Island, New York, und dreht seinen Computerbildschirm zu mir herüber, um mir voller Stolz eine komplizierte, matrizenartige grafische Darstellung zu zeigen. Auf den ersten Blick sieht die Abbildung wie eine ganz normale Tabelle aus – ihre Zeilen und Spalten enthalten allerdings keine Zahlen, sondern sind mit Farben in den unterschiedlichsten Tönen und Abstufungen gefüllt. Beiläufig bemerkt mein Gegenüber: »Wenn ich den Leuten erzähle, dass ich die Verschaltungswege vieler zehntausend Nervenzellen herausgefunden habe und ihnen dann diese Grafik zeige, bekomme ich nur ein verständnisloses ›Häh?‹ als Antwort. Aber wenn sie dies hier sehen …«, der Forscher klickt eine Schaltfläche auf seinem Monitor an und plötzlich erscheint ein durchsichtiges, dreidimensionales, um seine eigene Achse rotierendes Hirnmodell, gefüllt mit unzähligen Knoten und Linien, »höre ich stattdessen: ›Was zum Teufel …!‹.«

Zador hat mir eine Karte von 50 000 Nervenzellen in der Großhirnrinde einer Maus präsentiert, auf der die Zellkörper der einzelnen Neuronen und die Zielorte ihrer langen Zellfortsätze, der Axone, exakt vermerkt waren. Nie zuvor war es Wissenschaftlern gelungen, eine derartig umfangreiche und detaillierte neuronale Karte zu erstellen. Im Rahmen seiner Experimente verzichtete Zador auf die klassische Methode der Hirnkartierung, bei der einzelne Nervenzellen mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert werden, und verfolgte stattdessen einen unkonventionellen Ansatz, der an die lange molekularbiologische Forschungstradition seines Instituts anknüpfte. Mit Hilfe gentechnischer Methoden schleuste er in jedes Neuron eine zellspezifischen RNA-Sequenz, den so genannten Barcode, ein. Anschließend zerteilte er das Mäusehirn wie einen Blechkuchen in kleine Würfel, die er in einem DNA-Sequenziergerät analysierte. Das Ergebnis: eine dreidimensionale Darstellung von 50 000 Neuronen in der Großhirnrinde einer Maus (denen schon bald weitere 50 000 folgen sollen), aufgelöst auf Einzelzellebene.

Momentan werden diese Studien – Zadors Meisterwerk – noch einmal überarbeitet, um ihnen für eine geplante Publikation den letzten Schliff zu geben. In einem kürzlich in der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlichten Artikel konnte der Wissenschaftler jedoch bereits gemeinsam mit seinen Kollegen zeigen, dass die von ihm entwickelte Technik namens MAPseq (Multiplexed Analysis of Projections by Sequencing) dazu in der Lage ist, neue Zelltypen und nie zuvor beobachtete Projektionsmuster aufzuspüren. Im Hinblick auf die Genauigkeit erbrachten die Forscher zudem den Nachweis, dass das neuartige Hochdurchsatzverfahren zur Hirnkartierung der Fluoreszenzmarkierung durchaus ebenbürtig ist, der gegenwärtigen Standardmethode, die allerdings am besten bei einer geringen Zahl von Nervenzellen funktioniert.

Frust im Job machte erfinderisch

Die Idee zu diesem Projekt entstand aus der zunehmenden Frustration Zadors während seiner »hauptberuflichen Arbeit« als Neurophysiologe, wie er seine Tätigkeit ironisch bezeichnet. Der Amerikaner erforscht den Einfluss auditiver Wahrnehmung auf das Entscheidungsverhalten bei Nagetieren: die Art und Weise, in der das Tiergehirn Geräusche »hört«, die auditiven Informationen verarbeitet und schließlich eine Reaktion in Form einer Verhaltensweise oder Handlung festlegt.

Elektrophysiologische Ableitungen und die anderen herkömmlichen Werkzeuge zur Untersuchung derartiger Fragestellungen hatten bei dem Forscher mit einem Faible für Mathematik häufig ein Gefühl der Unzufriedenheit zurückgelassen. Laut Zador besteht das eigentliche Problem darin, dass wir das Prinzip der Verschaltung von Neuronen nicht ausreichend verstehen. Und genau das ist der Grund, aus dem der Wissenschaftler seine »Nebenbeschäftigung« aufnahm und sich der Entwicklung bildgebender Verfahren zur Darstellung des Gehirns und seiner Bestandteile widmete.

Nach dem derzeitigen Stand der Technik stellt der Allen Brain Atlas, ein mehr als 25 Millionen US-Dollar (etwa 21 Millionen Euro) teures Forschungsprojekt, das die langjährigen Bemühungen vieler Labore in sich vereinigt, das Standardwerk auf dem Gebiet der Hirnkartierung dar. Bei der Erstellung dieser Sammlung von Hirnkarten wurden bereits bekannte Subpopulationen von Neuronen und die von ihnen ausgehenden Reizleitungsbahnen, auch Projektionen genannt, als Gruppen untersucht; daher liefert der Allen Brain Atlas nur eine sehr grobe Darstellung der neuronalen Verschaltungswege. Selbst wenn sich diese Informationen für viele Forscher als äußerst nützlich erwiesen haben, ist es dennoch anhand des Kartenwerks nicht möglich, innerhalb der Gruppen oder Neuronen-Subpopulationen weitere Differenzierungen vorzunehmen.

Fehlendes Wissen über neuronale Verschaltungen lähmt KI

Wenn wir je herausfinden wollen, wie eine Maus ein hohes Trillern wahrnimmt, wie sie dieses Geräusch verarbeitet und schlussfolgert, dass eine Belohnung in Form eines Erfrischungsgetränks auf sie wartet, und wie sie letztlich diese neuen Erinnerungen ablegt, um sich das köstliche Erlebnis zu einem späteren Zeitpunkt wieder ins Gedächtnis zu rufen, benötigen wir zuallererst eine Karte oder einen Schaltplan des Gehirns. Zadors Ansicht nach ist fehlendes Wissen über die Art und Weise jener neuronalen Verschaltungen teilweise dafür verantwortlich, dass in der Behandlung psychischer Erkrankungen bisher keine größeren Fortschritte erzielt wurden und dass künstliche Intelligenz noch immer nicht ganz so intelligent ist, wie es ihr Name eigentlich verspicht.

Der Neurowissenschaftler Justus Kebschull von der kalifornischen Stanford University, Koautor des kürzlich erschienenen »Nature«-Artikels und ehemaliger Doktorand in Zadors Arbeitsgruppe, machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass neurowissenschaftliche Forschung ohne Kenntnis der neuronalen Schaltpläne in etwa so sei, »als würde man versuchen, die Funktionsweise eines Computers zu verstehen, indem man ihn von außen betrachtet und dann eine Elektrode hineinsteckt, in der Hoffnung, irgendetwas herauszufinden. … Wenn man nicht weiß, dass die Festplatte mit dem Prozessor verbunden ist und der USB-Pod das gesamte System mit neuen Informationen versorgt, kann man kaum nachvollziehen, was im Inneren des Geräts eigentlich passiert.«

Die zündende Idee zur Entwicklung von MAPseq kam Zador, als er von einer anderen Hirnkartierungsmethode namens Brainbow erfuhr. Das aus dem Labor von Jeff Lichtmann an der Harvard University stammende Verfahren erlaubt in beeindruckender Weise die gleichzeitige genetische Markierung von bis zu 200 Neuronen, indem es sich verschiedener Kombinationen von Fluoreszenzfarbstoffen bedient. Die Brainbow-Methode liefert bestechend farbenfrohe Bilder, auf denen neonfarbene Nervenzellen und das unübersichtliche Gewirr aus Zellkörpern und Axonen in allen Einzelheiten zu sehen ist. Jene bahnbrechenden Arbeiten weckten Hoffnungen, dass eine Kartierung des Konnektoms, der Gesamtheit aller Nervenverbindungen im Gehirn, schon bald in greifbare Nähe rücken sollte. Unglücklicherweise wurde jedoch die praktische Anwendung der Methode dadurch eingeschränkt, dass Forscher beim Blick durch das Mikroskop lediglich fünf bis zehn verschiedene Farben eindeutig voneinander abgrenzen konnten, was jedoch bei Weitem nicht ausreichte, um das Durcheinander aus Nervenzellen in der Großhirnrinde zu entwirren und eine größere Zahl von Neuronen gleichzeitig zu kartieren.

An dieser Stelle ging Zador ein Licht auf, denn er erkannte, dass sich die in der enormen Komplexität des Konnektoms liegende Herausforderung vielleicht meistern ließe, wenn sich Wissenschaftler die zunehmende Geschwindigkeit und sinkenden Kosten von Hochdurchsatzmethoden zur Genomsequenzierung zu Nutze machten. »Unter Mathematikern heißt dieser Ansatz, ein ungelöstes Problem auf ein bereits gelöstes zu reduzieren«, erklärte der Neurophysiologe.

Beim MAPseq-Verfahren werden genetisch modifizierte Viren, die eine Vielzahl bekannter RNA-Sequenzen – die Barcodes – in sich tragen, in das Gehirn eines Versuchstiers injiziert. Nach einer Woche haben sich die Viren hinreichend vermehrt und jede Nervenzelle mit einer ganz bestimmten Kombination von Strichcodes ausgestattet. Wenn die Forscher das Gehirn zur weiteren Analyse in Stücke zerlegen, sind sie anhand der RNA-Sequenzen in der Lage, den Verlauf einzelner Neuronen von einem Präparat zum nächsten nachzuvollziehen.

Zadors Erkenntnisse mündeten schließlich in den jüngst veröffentlichten Nature-Artikel, in dem er die Ergebnisse seiner Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe des Neurowissenschaftlers Thomas Mrsic-Flogel vom University College London präsentiert. Mit Hilfe von MAPseq hatten die Forscher die von nahezu 600 Nervenzellen ausgehenden Projektionen im visuellen System der Maus ausfindig gemacht. Gemessen an den mehreren zehn Millionen Neuronen im Inneren eines Mäusehirns sind 600 Nervenzellen ein vergleichsweise bescheidener Anfang. Die Wissenschaftler verfolgten jedoch einen bestimmten Zweck, für den sich dieser Probenumfang als ausreichend erwies: Sie wollten herausfinden, ob die Verschaltungsmuster im Gehirn bestimmten Strukturen folgten, die möglicherweise Aufschluss über die Funktion der beteiligten Nervenbahnen geben könnten.

Welche Information empfängt ein Neuron?

Laut einer gegenwärtig populären Theorie zur visuellen Informationsverarbeitung empfängt ein individuelles Neuron in der Sehrinde nur einen spezifischen Bruchteil einer aus dem Auge ankommenden Information, beispielsweise über die Konturen eines im Gesichtsfeld befindlichen Objekts, über eine spezielle Art der Bewegung oder bezüglich der räumlichen Orientierung. Dieses Neuron sendet sein Signal daraufhin an eine ganz bestimmte Hirnregion, die auf die Verarbeitung von genau dieser Art von Informationen spezialisiert ist.

Zur Überprüfung der Theorie kartierte das Forscherteam zunächst auf traditionellem Weg eine Hand voll Mäuseneuronen, indem sie einen genetisch kodierten Fluoreszenzfarbstoff in diese Zellen einschleusten. Mit Hilfe mikroskopischer Methoden verfolgten sie anschließend, wie sich die Zellen von der primären Sehrinde (der Gehirnregion, in der die visuellen Informationen des Auges ankommen) zu ihren Zielorten in anderen Hirnarealen ausbreiteten. Die Wissenschaftler entdeckten, dass sich die Axone der Nervenzellen verzweigten und ihre Signale gleichzeitig an mehrere Gehirnbereiche weiterleiteten – ein Resultat, das die Theorie einer Eins-zu-eins-Zuordnung von Neuronen und speziellen Hirnregionen eindeutig widerlegt.

Als Nächstes untersuchten die Forscher, ob die neuronalen Projektionen ein bestimmtes Muster erkennen ließen. Mit Hilfe von MAPseq spürten sie 591 Nervenzellen nach, während diese unter Ausbildung zahlreicher Verästelungen verschiedene Zielregionen innervierten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass die Ausbreitung der Axone nach einem bestimmten Schema erfolgte: Einige Nervenzellen sandten zum Beispiel ihre Fortsätze immer in die Hirnregionen A, B und C, innervierten jedoch nie die Bereiche D oder F.

V isuelles System weit komplexer als gedacht

Diese Ergebnisse deuten an, dass das visuelle System verwirrend viele Ebenen von Quervernetzungen aufweist, deren Verbindungsmuster weitaus komplizierter sind als die ursprünglich angenommene Eins-zu-eins-Verschaltung. »Die höheren visuellen Zentren erhalten nicht nur Informationen, die speziell auf sie zugeschnitten sind«, erläutert Kebschull, sondern sie empfangen vielfach dieselben Eingangssignale. »Ihre Informationsverarbeitungsprozesse könnten daher eng miteinander verknüpft sein.«

Die Tatsache, dass bestimmte Zellen gezielt in definierte Hirnareale projizieren, bedeutet jedoch auch, dass in der Sehrinde spezialisierte, bislang unidentifizierte Zellen vorhanden sind. Kebschull hat die von ihm und seinen Forscherkollegen erstellte Hirnkarte mit einem Bauplan des Gehirns verglichen, der es zukünftigen Wissenschaftlern ermöglichen wird, die Funktion jener unbekannten Zellen herauszufinden. »MAPseq gibt uns eine Gelegenheit, die Hardware des Gehirns zu skizzieren. Wenn wir mit dieser vertraut sind, können wir uns im nächsten Schritt mit der Software und den Vorgängen bei der Informationsverarbeitung befassen«, so der Neurowissenschaftler.

Der Wettbewerbsvorteil, den MAPseq solchen Forschungsarbeiten im Hinblick auf Schnelligkeit und Kosten verleiht, ist beträchtlich. Laut Zador sollte diese Methode in der Lage sein, innerhalb von ein bis zwei Wochen eine Probenmenge von etwa 100 000 Neuronen zu bewältigen – zu einem Preis von nur 10 000 US-Dollar (knapp 8500 Euro). Das Verfahren wäre also weitaus schneller als die gängigen Kartierungsverfahren und würde zudem nur einen Bruchteil der Kosten verschlingen.

Angesichts dieser Vorteile ließen sich eine Kartierung der Nervenbahnen zahlreicher Gehirne und eine anschließende vergleichende Untersuchung in Zukunft deutlich leichter realisieren. Die Erforschung psychischer Erkrankungen und neurologischer Entwicklungsstörungen wie Schizophrenie oder Autismus, die vermutlich aus einer anderen Verschaltung im Gehirn resultieren, hat den beteiligten Forschern in der Vergangenheit oft frustrierende Erfahrungen beschert, da die zur Verfügung stehenden Werkzeuge die neuronalen Vernetzungen nicht ausreichend erfassten.

Hoffnung für die Erforschung psychischer Erkrankungen

Es ist durchaus vorstellbar, dass Wissenschaftler künftig in der Lage sein werden, solche Erkrankungen und Entwicklungsstörungen im Mausmodell detaillierter zu erforschen, indem sie Hirnkarten von Versuchstieren erstellen und diese mit denen gesunder Tiere vergleichen; gleichzeitig könnten die Ergebnisse ihrer Studien den Grundstein für weitere Forschungsprojekte legen. »Eine Vielzahl psychischer Störungen werden durch Probleme auf neuronaler Verschaltungsebene verursacht«, unterstreicht Hongkui Zeng, geschäftsführende Direktorin der Abteilung für strukturierte Wissenschaft am Allen Institute for Brain Science. »In Zukunft werden uns die Verschaltungswege sagen, worauf wir unser Augenmerk richten müssen.«

Die Hirnkartierung im Hochdurchsatzverfahren verschafft Forschern zugleich die Möglichkeit, eine Vielzahl weiterer neurologischer Daten zu sammeln und nach Mustern zu suchen, die allgemeine Prinzipien der Arbeitsweise unseres Gehirns widerspiegeln. »Tonys Blick auf das Gehirn ist völlig unvoreingenommen«, konstatiert Sreekanth Chalasani, Experte für molekulare Neurobiologie am Salk Institute in La Jolla, Kalifornien. »Genauso wie die Karte des menschlichen Genoms als ein Gerüst fungiert, an dem Wissenschaftler ihre Hypothesen überprüfen und nach Gensequenz- und Funktionsmustern Ausschau halten, könnte Tonys Verfahren ein vergleichbares Hilfsmittel für die Gehirnforschung bedeuten.«

Selbst wenn die Entschlüsselung des menschlichen Genoms nicht dazu geführt hat, dass sich auf einen Schlag sämtliche Geheimnisse der Biologie erklären ließen, lieferte sie dennoch eine molekularbiogische Stückliste, die ihrerseits den Weg für zahlreiche weiterführende Forschungsvorhaben bereitete. Und auch MAPseq kann, zumindest nach derzeitigem Entwicklungsstand, noch keinerlei Informationen über die Funktion oder die exakte Position der im Rahmen dieser Methode markierten Zellen liefern, oder etwa nachweisen, welche Zellen miteinander kommunizieren. Zador allerdings möchte seine Technik schon bald um derartige Möglichkeiten erweitern. Zudem arbeitet er eng mit Wissenschaftlern zusammen, die definierte Bereiche des Gehirns, etwa die der Angstkonditionierung zu Grunde liegenden neuronalen Schaltkreise, genauer erforschen.

»Meiner Meinung nach lassen sich aus neuronalen Verschaltungswegen durchaus gewisse Erkenntnisse ableiten, aber erst die Möglichkeiten, die sie eröffnen, machen sie für die zukünftige Forschung so bedeutsam – ähnlich wie Gensequenzen, die an sich ja auch ziemlich uninteressant sind. Und das ist es, was mich so enthusiastisch macht«, gesteht Zador. »Ich bin zuversichtlich, dass unser Verfahren das nötige Rüstzeug für die nächste Generation von Arbeiten auf diesem Forschungsgebiet bereitstellen wird.«

Von Spektrum der Wissenschaft übersetzte und redigierte Fassung des Artikels New Brain Maps With Unmatched Detail May Change Neuroscience aus Quanta Magazine, einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.