aus derStandard.at, 22. Dezember 2017, 07:00
Wie sich Informationen über unseren Schlaf gewinnen lassen
Mit immer genaueren Werkzeugen lässt sich nachweisen, dass das Gehirn auch im bewusstlosen Zustand erstaunlich aktiv ist
Ein Aufschrecken beim Eindösen, Träume von Verfolgungsjagden, beim Aufwachen das Gefühl, von einem fernen Ort zurückzukehren: Der Schlaf ist nach wie vor weitgehend unbekanntes Terrain in der Ergründung der menschlichen Natur. Ein Zustand, in dem das Gehirn Körperfunktionen einschränkt, aber keineswegs inaktiv ist. Ein Prozess, der den Körper regeneriert und das Gehirn neu verschaltet. Ein Ausflug in skurrile und geheimnisvolle Traumbilder mit ihrer schwer ergründbaren Aussage über die menschliche Psyche. Und eine Katastrophe, wenn die Fähigkeit, Ruhe zu finden, auf Dauer gestört ist. Wie schaut man also in den schlafenden Kopf hinein, um die wundersame Welt darin zu entdecken?
"Hirn, Auge, Muskel", lautet die Antwort von Manuel Schabus, Leiter des Labors für Schlaf-, Kognitions- und Bewusstseinsforschung der Universität Salzburg. "Um den Schlaf professionell zu klassifizieren, benötigt man grundsätzlich Informationen über Gehirnströme, Augenbewegungen und Muskelaktivität." Traumphasen haben Auswirkungen auf Augenbewegungen. Muskeln werden vom Gehirn sozusagen gelähmt, damit Träume nicht körperlich ausgelebt werden. Bei der genauen Verortung von Gehirnaktivitäten können auch Kernspintomografen zum Einsatz kommen, die Abbilder des Organs generieren.
Der Teufelskreis des Leistungsdrucks
Bei der Diagnose von Schlafstörungen helfen weitere Werkzeuge: die Überwachung der Atmung mit Sensoren an Brust, Bauch und Nase etwa oder Infrarotkameras, die Auffälligkeiten wie das Ausleben von Träumen (REM Behavior Disorder) oder Schlafwandeln aufdecken. Die am stärksten zunehmenden Schlafstörungen haben für Schabus übrigens mit Stress zu tun. "Nicht abschalten zu können ist ein Hauptproblem unserer Gesellschaft. Man kann nicht schlafen und bekommt Panik, dass man am nächsten Tag nicht leistungsfähig sein wird, was den Schlaf erst recht verhindert – ein Teufelskreis."
Schabus und Kollegen gehen bei ihrer Arbeit aber weit über die Diagnose von Krankheiten oder das Erkennen von Schlafphasen hinaus. Beispielsweise haben sie in einer Studie untersucht, welche Informationen über die Außenwelt noch in das schlafende Gehirn einzudringen vermögen und dort verarbeitet werden. Die Antwort: erstaunlich viele.
Die Sinne des Schlafenden
"Obwohl man komplett ohne Bewusstsein ist, unterscheidet man zwischen relevanten und nichtrelevanten Reizen", erklärt Schabus. Die Sinneskanäle werden offen gehalten, die einlaufenden Informationen aber stärker gefiltert. "Wir haben herausgefunden, dass das schlafende Gehirn einen Unterschied macht, ob der Name des Schlafenden oder ein beliebiger anderer gerufen wird", gibt der Schlafforscher ein Beispiel. "Genauso macht auch die Stimme selbst einen Unterschied. Auf jene der Mutter reagiert ein schlafendes Kind anders als auf eine fremde Frauenstimme."
In einer weiteren Publikation widmete sich Schabus dem Schlaf von Menschen mit eingeschränkten Gehirnfunktionen, die aus einem Koma erwacht sind, aber keineswegs in einem voll bewussten Zustand sind. "Die Komplexität der Schlafmuster nimmt hier extrem ab", fasst Schabus zusammen. "Bei einem jungen Erwachsenen sind die Muster sehr komplex, alle Schlafphasen vom leichten Schlaf bis zum REM-Schlaf mit den schnellen Augenbewegungen werden innerhalb von 90 Minuten durchgespielt. Bei hirngeschädigten Patienten kann eine tiefschlafähnliche Aktivität 24 Stunden andauern oder praktisch gar nicht mehr variieren."
AI in der Schlafforschung
Ein Merkmal ist hier die Häufigkeit sogenannter Schlafspindeln – das Gehirnstrommuster entsteht durch die Kommunikation zweier Gehirnregionen, dem Thalamus und der Großhirnrinde, und deutet unter anderem auf eine gute "Vernetzung" des Gehirns hin. Am Elektroenzephalogramm (EEG), das die Ströme abbildet, zeigt sich dabei ein kurzes Oszillieren mit 12-15 Schwingungen pro Sekunde. Bei gesunden Menschen sind Schlafspindeln etwa beim Einschlafen zu beobachten und insgesamt häufig. Bewiesen ist, dass ein häufiges Auftreten mit einer besseren Gedächtnisleistung am Folgetag zusammenhängt. "Wir konnten aber auch sehen, dass postkomatöse Patienten ohne Schlafspindeln in einem sehr schlechten Zustand sind bzw. eine schlechtere Prognose haben", hebt Schabus die Relevanz des Phänomens hervor.
Das Erkennen von Mustern im EEG war bisher erfahrenen Ärzten vorbehalten. Immer öfter übernehmen künstliche Intelligenzen diese Aufgabe. Das Salzburger Schlaflabor kooperiert etwa, unterstützt vom Wissenschaftsfonds FWF, mit Stefan Wegenkittl und Peter Ott, Experten für Signalverarbeitung und maschinelles Lernen der FH Salzburg. "Wenn man in einem sechsstündigen EEG mit 128 Kurven nach Mustern sucht, ist das eine Sisyphusarbeit", erklärt Wegenkittl. Um sie zu automatisieren, werden mithilfe von maschinellem Lernen sowohl EEG-Daten als auch die entsprechenden Annotationen erfahrener Experten verarbeitet.
Muster erkennen
Der Computer soll ausgehend vom Gelernten die Mustererkennung so gut "generalisieren", dass er ähnliche Muster richtig zuordnet – auch wenn sie, wie bei den Postkomapatienten, stark verzerrt sind. Zuvor müssen die Daten bereinigt und von Störsignalen befreit werden, die etwa von Muskelbewegungen im Schlaf herrühren.
Die Forscher griffen bei der Signalverarbeitung bisher auf Methoden zurück, die beispielsweise Entropien nützen, also Kennzahlen, die den "Grad einer lokalen Unordnung" messen, und verbinden diese mit Ansätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung. "Es ist wie bei einem Brettspiel à la Mensch ärgere dich nicht: Position sowie Ziel sind bekannt, und der Zufall spielt eine Rolle", veranschaulicht es Wegenkittl. Künftig will man dank Deep Learning auf vorgegebene Kennzahlen verzichten. "Die Idee ist, dass man den Computer nur anhand der Daten selbst typische Muster erkennen lässt", sagt Wegenkittl. "Das ist dieselbe Technologie, die auch in autonom fahrenden Autos steckt."
Seismograf für Wohlbefinden
Und was ist nun mit den Träumen? Können sie auf psychische Zustände oder Störungen verweisen? "Wissenschaftlich ist das noch eine wenig beantwortete Frage, auch wenn in der Praxis öfter entsprechende Zusammenhänge auffallen – etwa wenn essgestörte Menschen von nichtpassender Kleidung träumen", sagt die Psychologin und Psychotherapeutin Brigitte Holzinger, die an der Med-Uni Wien einen postgraduellen Kurs für Schlafcoaching leitet. Der Ansatz, der Schlafstörungen vorbeugen und Heilungsprozesse anstoßen soll, basiert auf der Gestalttherapie, einer Spielart der Psychotherapie.
Schlafstörungen sind für Holzinger ein "Seismograf" für das Wohlbefinden des Menschen, gerade auch bezüglich Stress und Burnouts. Eine Säule des Schlafcoachings ist die Traumarbeit, etwa bei wiederkehrenden Albträumen. Für Holzinger ist hier das luzide Träumen ein Königsweg. Demnach ist es erlernbar, sich während des Traums bewusst zu sein, dass man träumt. Holzinger: "Man kann sich dann im Albtraum entscheiden, sich zu retten, den Traum zu beenden oder aufzuwachen."