Sonntag, 21. August 2016
Was uns Lemuren lehren.
aus Die Presse, Wien, 21.08.2016
Lemuren als Lichtbringer
Die Besiedelung Madagaskars ist voller Rätsel. Viele Bewohner mussten über das Meer, Tiere kamen vom Westen, Menschen weit aus dem Osten.
von Jürgen Langenbach
Trinkfest sind sie, die Fingertiere, Angehörige jener Primaten, die seit etwa 60 Millionen Jahren auf Madagaskar leben – nur dort –, und ihrer nächtlichen Lebensweise und ihres spukhaften Aussehens wegen von Linné nach den römischen Schattengeistern der Verstorbenen benannt wurden: Lemuren. Bei den Fingertieren ist es mit dem Namen einfacher: Ihre Finger ziehen sich in eine Länge, die grotesk anmutet, aber einen guten Grund hat: Mit ihnen klopfen sie morsches Holz auf Maden ab und holen sie heraus, deshalb heißen sie auch Primaten-Spechte. Aber sie schätzen auch anderes, den Nektar vom Baum der Reisenden etwa.
Der wird von den Fingertieren bestäubt, mit den Fingern, an denen klebt dann die Belohnung, der zuckerhaltige Saft, oft vergoren: Alkohol. Den mögen sie, Samuel Gochman (Dartmouth College) hat es getestet: Höherprozentiges wird bevorzugt (Royal Society Open Science 19. 7.). Die Fingertiere vertragen das, weil sie von ADH4, einem alkoholabbauenden Enzym, eine Variante haben, die die Effizienz um das 40-Fache erhöht. Diese Variante haben auch die großen Affen und wir, da kam sie mit dem Verzehr von vergärendem Obst. Wozu sie bei den Fingertieren kam, war umstritten, nun ist es geklärt.
So weisen sie mit ihren langen Fingern bzw. ihrer höchst spezialisierten Ernährung auf eines der großen Rätsel ihrer Heimat: Dort gibt es nur vier Ordnungen von Säugetieren, aber die haben sich in unzählige Arten aufgespalten und jede Nische genutzt, bei den anderen Landtieren ist es ebenso. Und: Alle sind klein. Große haben den Weg nicht geschafft, Gazellen oder Löwen etwa, nur das Zwergflusspferd kam auf die Insel, es ist ein guter Schwimmer.
Die Lemuren sind keine, wie kamen sie und die anderen? Madagaskar, die viertgrößte Insel der Erde, liegt 430 Kilometer vor Afrika, und das seit etwa 120 Millionen Jahren, da zerbrach der Superkontinent Gondwana. Primaten gab es noch nicht. Und eine spätere Landverbindung gab es auch nicht, zumindest gibt es keine Belege dafür, und wenn es doch eine gegeben hätte, hätten auch größere Tiere sie genutzt. Bleibt der Seeweg. Ihn schlug 1915 der Paläontologe William Matthew vor, später baute George Simpson es zur Glücksspiel-Hypothese aus: Höchst selten sei es Tieren gelungen, den weiten Weg auf Treibholz zu überleben.
Aber das geht nicht, der Geografie und der Meteorologie wegen: Madagaskar liegt östlich von Afrika, die Winde blasen in die Gegenrichtung, mit den Meeresströmungen ist es ebenso. Dieser gordische Knoten wurde erst 2010 gelöst, von einem Klimatologen, Matthew Huber (Purdue): Afrika und Madagaskar lagen vor 60 Millionen Jahren viel weiter im Süden, 1650 Kilometer, dann wanderten sie. Das fütterte Huber in Klimamodelle – und die zeigten, dass Winde und Meeresströmungen früher bzw. im Süden in die richtige Richtung gingen, es blieb so bis vor 20 Millionen Jahren, da schloss sich das Zeitfenster (Nature 453, S. 653).
Einwanderer aus Borneo.
20 Millionen Jahre? Einen Inselbewohner gab es da auch noch nicht, er erhob sich erst vor fünf, sechs Millionen Jahren und in Afrika zum aufrechten Gang. Wann und wie kam er auf die Insel? Auf der geht es nicht nur bei Tieren wunderlich zu, Madagassen spielen etwa das Xylofon. Und all ihre Dialekte haben einen austronesischen Kern. Das Xylofon stammt aus Südostasien, dort spricht man auch den Dialekt, in Borneo, im Inselinneren, Seefahrer gab es da nie. Das war der nächste gordische Knoten.
Aber Seefahrer brauchte es nicht: Als im Zweiten Weltkrieg Schiffe bei Indonesien versenkt wurden, tauchten Wrackteile später 6500 Kilometer weiter im Westen auf, an der Küste Madagaskars, sogar ein Rettungsboot samt Überlebendem trieben Wind und Strömung dorthin. So könnte es um das Jahr 200 v. Chr. auch gewesen sein, als die ersten Siedler kamen: Die Indizien der Instrumentengeschichte und Linguistik wurden von Marrey Cox (Massey University) in einer Genanalyse bestätigt: Die Einwanderer waren eine kleine Gruppe mit etwa 30 gebärfähigen Frauen aus Indonesien (Proc. Roy. Soc. B 2012.0012). Das erhärtete Alison Crowther (Brisbane) gerade mit einer Genanalyse der Nutzpflanzen: Auch sie stammen aus Indonesien, Reis, Bananen, Kokosnüsse, Mungobohnen (Pnas 30. 5.). Etwas später als die Ostasiaten kamen auch Afrikaner. Und was taten sie alle als Erstes? Das Gleiche, was Menschen überall taten, wo sie hinkamen: Sie rotteten die großen Tiere aus. Manche gab es doch auf Madagaskar, zu Riesen gewordene Lemuren und fluglos gewordene Vögel, drei Meter hoch, 400 Kilo schwer: Elefantenvögel. Die überlebten die Ankunft der Siedler nicht lang, aber sie hinterließen etwas, Eierschalen. Auch die Gene darin sind analysiert, von Michael Bunce (Perth), vielleicht kann man die Tiere wieder erwecken (Proc. Roy. Soc. B 277, S. 1991).
Und was taten die Menschen sonst? Überliefert ist es nicht, aber Lemuren können helfen: Heute ist Madagaskar im Osten und Westen bewaldet, im Zentrum eher offenes Grasland. Es gibt den Verdacht, dass großflächig gerodet wurde. Aber Mäuselemuren sprechen den Menschen frei: Sie leben in Wäldern, und sie wanderten zwischen den Küsten, auch dazu brauchen sie Wald. Der wich vor 50.000 Jahren, Anne Yoder (Duke) hat es in den Genen der Lemuren gelesen: Die wanderten dann nicht mehr, der Wald war weg, wohl durch einen Klimawandel (Pnas 18. 7.).
Und noch etwas bezeugen Lemuren: Auf Madagaskar gibt es keine Giftschlangen. Die haben der Snake Detection Theory zufolge anderswo für die Entwicklung der Primaten bis zum Menschen gesorgt: Sie hätten zum Wahrnehmen der Gefahr die Augen nach vorn gerichtet und geschärft und das Gehirn vergrößert und in ihm ein Gefahrenzentrum („fear module“) eingerichtet, das Pulvinar (Journal of Human Evolution 51, S. 1). Alle Primaten haben es, nur die Lemuren nicht, sie brauchten es nicht. Vielleicht löst das noch ein Rätsel der Insel: Ein früher Lemur, Hadropithecus stenogratus – ein Gigant mit 100 Kilo, heutige Lemuren haben maximal sechs –, hatte einen Schädel, der stark an den eines unserer Ahnen erinnert: Homo erectus. Der erhob sich, vielleicht auch des besseren Blicks auf Schlangen wegen, Hadropithecus tat es nicht, er blieb Lemur.
Nota. - Das Interessanteste steht im letzten Absatz, deshalb bringe ich den Artikel: Von der Rolle der Giftschlangen bei der Hominisation erfahre ich hier zum ersten Mal. Man lernt nie aus.
JE
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen