aus Der Standard, Wien, 7. 10. 2015
Gekrümmte Räume und Einsteins kühnste Träume
Vor 100 Jahren vollendete der damals 36-jährige Albert Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie, die bis heute unser Weltverständnis prägt
von Tanja Traxler
Wien – Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Aufzug, der sich im freien Fall befindet. Spüren Sie in dieser Situation Ihr eigenes Gewicht? Was wie das Szenario eines Albtraums klingt, ist der Ursprungsgedanke einer der elegantesten Theorien der Naturwissenschaft. 1915 gelang dem Physiker Albert Einstein der entscheidende Schritt bei der Fertigstellung seiner Allgemeinen Relativitätstheorie. Das Gedankenexperiment mit dem Aufzug, das ihn zur Entwicklung der Theorie angeregt hatte, bezeichnete er später als seinen "glücklichsten Gedanken".
Gekrümmter Raum
100 Jahre später ist die Allgemeine Relativitätstheorie kein historisches Relikt, sondern immer noch das anerkannte Modell zur Beschreibung des Universums und Gegenstand aktueller Forschung. Während in der Vorgängertheorie von Isaac Newton die Gravitation als Kraft zwischen Körpern aufgefasst wurde, wird sie in der Allgemeinen Relativitätstheorie als Effekt der Struktur des Raums verstanden.
Am Beispiel eines Apfels, der vom Baum fällt, heißt das Folgendes: Laut Newton fällt der Apfel – und fliegt nicht etwa in die Höhe -, weil er durch die enorme Masse der Erde von ihrer Schwerkraft angezogen wird. Nach Einstein führt die Masse der Erde dazu, dass sich die Raumzeit krümmt und gewissermaßen eine Mulde bildet, in die der Apfel wie von selbst hineinrollt.
Gravitation ist sozusagen in die Struktur des Universums eingeschrieben. Sie wirkt wie eine Landschaft: Flüsse fließen den Berg hinab und nicht umgekehrt. Raum und Zeit sind dadurch nicht länger absolute Größen, sondern sie verändern ihre Struktur abhängig von den Körpern.
Vorangegangen war dem Modell Einsteins Spezielle Relativitätstheorie von 1905. Darin wird Zeit analog zum Raum gedacht, wodurch sich eine vierdimensionale Raumzeit ergibt. Zudem postuliert sie die Lichtgeschwindigkeit als Maximalgeschwindigkeit. Das provozierte die Konfrontation mit Newtons Theorie, in der Gravitation sofort wirkt und damit schneller als Lichtgeschwindigkeit. Trotz des Widerspruchs glaubten selbst Freunde und Kollegen nicht an die Sinnhaftigkeit von Einsteins Bemühungen, Newton vom Thron zu stoßen. So warnte ihn etwa der Physiker und spätere Nobelpreisträger Max Planck: "Als alter Freund muss ich Ihnen davon abraten, weil Sie einerseits nicht durchkommen werden. Und wenn Sie durchkommen, wird Ihnen niemand glauben."
Die Jahre der Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie von 1907 bis 1915 waren für Einstein auch eine Zeit, die stark von äußeren Ereignissen beeinträchtigt war – wie dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem aufkommenden Antisemitismus, durch den sich Einstein zunehmend isoliert sah.
Krieg und Antisemitismus
Zudem ist er in acht Jahren viermal umgezogen: 1908 von Bern nach Zürich, wo er eine Assistenzprofessur antrat. 1911 übersiedelte er nach Prag, wo er ordentlicher Professor wurde, 1912 zurück nach Zürich. 1914 nach Berlin, wo er Direktor an der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde. Was ihn vor allem nach Berlin gezogen hatte, war die Affäre mit seiner Cousine Elsa Löwenthal, die er später heiratete.
So führte der Umzug auch zur Trennung von seiner ersten Frau Mileva Maric. Aus dieser Zeit stammt ein Brief von Einstein an Maric, in dem man den großen Denker kaum mehr zu erkennen vermag. Um die Ehe aufrecht zu halten, stellte er etwa folgende Bedingungen: "Du sorgst dafür, 1) dass meine Kleider und Wäsche ordentlich im Stand gehalten werden, 2) dass ich die drei Mahlzeiten im Zimmer ordnungsgemäß vorgesetzt bekomme." Oder auch: "Du hast weder Zärtlichkeiten von mir zu erwarten noch mir irgendwelche Vorwürfe zu machen."
1915 beschleunigten schließlich zwei tickende Uhren Einsteins Anstrengungen: Er wähnte den Mathematiker David Hilbert, dem er im Sommer die Grundzüge der Theorie erklärt hatte, der Lösung nahe. Außerdem hatte er zugesagt, vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften im November einen Vortrag über seine Theorie zu halten, für den er die chaotischen Puzzlestücke zusammenführen musste.
Als der 36-Jährige seine vollkommen neue Theorie der Gravitation schließlich vervollständigt hatte, war der Krieg voll im Gange, seine Ehe gescheitert, doch Einstein war überglücklich ob der Fertigstellung, wie etwa aus einem Brief an seinen Freund Michele Besso hervorgeht: "Die kühnsten Träume sind nun in Erfüllung gegangen."
Seinem Sohn Hans Albert in Zürich schrieb er in diesen Tagen: "Du kannst viel Schönes und Gutes von mir lernen, was Dir nicht so leicht ein anderer bieten kann. Was ich mir durch so viel anstrengende Arbeit erworben habe, soll nicht nur für fremde Menschen da sein, sondern ganz besonders für meine eigenen Buben. Dieser Tage habe ich eine der schönsten Arbeiten meines Leben fertiggemacht; wenn Du einmal größer bist, erzähle ich Dir davon."
Über Nacht zum Star
Die Physiker zeigten zwar Interesse an der neuen Theorie, doch 1915 war Einstein in der Öffentlichkeit noch nicht der, der er heute ist. Das dauerte bis 1919, als bei einer Sonnenfinsternis die Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie zur Krümmung des Lichts beobachtet – und bestätigt werden konnten. Einstein wurde über Nacht zum Star. Sein unkonventionelles Auftreten und seine pointierten Aussagen machten ihn zum Liebling der Medien. Ein Beispiel für seine Gabe, Wissenschaft zu popularisieren, liefert eine Anekdote, wie er seinem Sohn Eduard erklärte, warum er so berühmt sei: "Siehst du, wenn ein blinder Käfer über die Oberfläche einer Kugel krabbelt, merkt er nicht, dass der Weg, den er zurücklegt, gekrümmt ist. Ich hingegen hatte das Glück, es zu merken."
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