Samstag, 31. Oktober 2015

Ach, die Zeit!


aus Der Standard, Wien, 31.10.2015

Rüdiger Safranski: 
"Rendezvous mit der reinen Zeit"
Innere Uhr, Eigenzeit, Zeitdiktat, Gleichzeitigkeit, Echtzeit und Auszeit: der Bestsellerautor spricht über ein Phänomen, dem niemand entgeht

STANDARD: Ihre Betrachtung der Zeit setzt mit der Langeweile ein: Bei den Romantikern beginne die Karriere der Langeweile als großes Thema der Moderne. Ist die Langeweile das Thema der Moderne und nicht die Beschleunigung?

Safranski: In der Tat ist die Beschleunigung das Problem. Aber sie kommt daher, dass wir in die Eile flüchten, um dem Schrecken der inneren Leere zu entgehen. In der Langeweile, im Rendezvous mit der reinen Zeit, wenn wir das Gefühl haben, dass die Zeit nicht vergehen will, wird diese auf eine existenzielle Augenhöhe gebracht. Man könnte mit dem Philosophen Blaise Pascal antworten. An der Schwelle zur Neuzeit stellte er die These auf, dass wir aus Angst vor der Langeweile in die Zerstreuung fliehen. Die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, hat durch die mediale Verknüpfung abgenommen. Es steigt das Bedürfnis, unterhalten zu werden.

STANDARD: Nach Auffassung des Astrophysikers Paul Davies birgt gerade die eklatante Kluft zwischen physikalischer und subjektiver Zeit das größte ungelöste Rätsel ...

Safranski: Die Zeit berührt uns existenziell. Sie ist der Stoff, aus dem wir gemacht sind. Ich wollte auch keine physikalisch fundierte Spekulation über die Zeit anstellen. Ich will herausfinden, in welchen Konstellationen wir als Zeit erfahrende Wesen die Zeit wahrnehmen. Damit beschäftige ich mich seit langem.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass das Zeitempfinden ein kulturell bestimmtes Phänomen ist?

Safranski: Wir erleben Zeit immer gebrochen durch das Medium der Gesellschaft. Zwischen uns und die Zeit schiebt sich das kulturelle Milieu. Am deutlichsten zeigt sich das an der Uhr. Sie ist ein Messinstrument, auf das man sich gesellschaftlich geeinigt hat. Insofern misst die Uhr nicht einfach die Zeit, sondern ist eine Institution zur gesellschaftlichen Vereinheitlichung der Zeit und wirkt damit auch gesellschaftlich normativ. Sie dient zur Koordination, zwingt zur Pünktlichkeit und steuert unser Verhalten.

STANDARD:Die knappe Zeit habe die Welt erobert, meinte der Literaturwissenschafter Harald Weinrich. Früher habe man Territorien erobert, heute werde der Sieg in der Zeit errungen ...

Safranski: Das westliche industrielle Modell ist mit einem bestimmten Zeitdiktat verknüpft. Es führt zu einer Vereinheitlichung der Zeit. Man kann Räume homogenisieren, indem man Territorialstaaten bildet, und man kann homogene Zeiträume schaffen, in denen eine bestimmte Auffassung der Zeit regiert. Das geschieht im Rahmen der Globalisierung. Wir erleben einen Siegeszug der Uhren, die ihre Herrschaft auch global antreten.

STANDARD: Sie berichten von einem indigenen Stamm im Amazonasgebiet, dessen Grammatik keine zeitlichen Unterscheidungen kennt. Kommt hier ein anderes Zeitempfinden zum Ausdruck?

Safranski: Ein stärkeres Aufgehen in der Gegenwart ist möglich, wenn die Entwicklung einer zukunftsgerichteten Zeiterfahrung keine Rolle spielt. Ich bin dennoch vorsichtig, weil wir schnell bei der Hand sind, solche anderen Erfahrungen zu verklären.

STANDARD: "Der Zyklus dämpft das mögliche Grauen vor einer endlosen Linearität ...", betonen Sie. Fühlt man sich in einer zyklischen Zeitvorstellung besser aufgehoben?

Safranski: Zyklen haben etwas Aufbewahrendes und Stärkendes. Deswegen versuchen wir, Rituale zu etablieren. Sie stabilisieren das Gefühl eines Rhythmus der Wiederholung. Die reine Linearität kann Schrecken bereiten: Wo kommt das her? – Wo endet das? Ereignisse entschwinden, als hätten sie nie stattgefunden. Das gilt insbesondere für eine Epoche, in der die linear gerichtete Zeit nicht mehr, wie es im 19. Jahrhundert war, auf einen Fortschritt zusteuert, sondern ins Unbestimmte läuft. Die Idee des Fortschritts war der Versuch, der linearen Zeit das Bedrohliche zu nehmen. Dieses Denken ist jetzt beschädigt.

STANDARD: Unterliegt Zeitempfinden einem historischen Wandel?

Safranski: Bei Zeitumbrüchen gibt es immer eine Zäsur in der Zeiterfahrung. Denken Sie an die Französische Revolution. Da ging der Fortschrittspfeil richtig los. Im Mittelalter war noch das Neue begründungspflichtig. Dass etwas so bleibt, wie es ist, verstand sich von selbst. Mit der Neuzeit, die eine ähnliche Zäsur wie die Französische Revolution darstellt, begann in der Moderne der Prozess, dass das Alte sich begründen musste.

STANDARD: Haben wir gegenwärtig eine neue Zeiterfahrung?

Safranski: Das Jetzt erhält eine Dominanz. Menschheitsgeschichtlich ist das neu. Die Telekommunikation ermöglicht sowohl in Wort als auch in Bild ein Echtzeiterlebnis der Gleichzeitigkeit. Das ist die Stunde, in der es die Globalität wirklich gibt. Als noch jeder ferne Punkt in seiner Eigenzeit schlummerte, war die Globalisierung nicht vollendet. Darum nahm ich es als Herausforderung, ein Gefühl dafür zu schaffen, wie anders sich das In-der-Welt-Sein anfühlt, wenn man sich in dieser Gleichzeitigkeit befindet. Früher war das, was von der Ferne kam, immer vergangen. Die Vorstellung des konkret erlebten Gleichzeitigen gab es nicht. Das ist das Kennzeichen der modernen Zeiterfahrung. Die jeweilige Gegenwart wird in einem ungeheuren Maß aufgewertet, während die Vergangenheit uninteressanter wird.

STANDARD: Was bedeutet der Wandel des Zeitempfindens für eine alternde Gesellschaft?

Safranski: Wenn die Zeiterfahrungen der älteren Menschen in der Mehrheit sind, müsste in der Kultur spürbar sein, dass man manches geruhsamer angeht. Paradoxerweise ist das nicht der Fall. Sicher ist das Älterwerden nicht mit einer Lebensmüdigkeit verknüpft. Auch wird man mit dem Alter nicht pessimistischer. Vielmehr hält man energisch an seinem Leben fest und erwartet noch etwas. Deswegen habe ich nicht den Eindruck, dass es eine einfache Parallelität zwischen einem Altern der Gesellschaft und der Verbreitung eines Pessimismus gibt.

STANDARD: Sie nennen die Ewigkeit ein Sehnsuchtsbild des Menschen. Ist sie die Kraft, die uns antreibt? Wollen wir Unsterblichkeit?

Safranski: Spuren hinterlassen. Ich nenne die kleine Unsterblichkeit. Es ist der Augenblick der Kunst, wenn der Geist eines verstorbenen Künstlers uns, seinen Nachkommen, einen Raum öffnet. Dieses Bedürfnis, Spuren zu hinterlassen, empfinde ich auch. Der Gedanke ist für mich angenehm, dass ein paar meiner Bücher mich überleben werden. Und wenn ich nach Büchern greife, deren Autoren nicht mehr am Leben sind, erfahren diese Autoren eine kleine Auferstehung. Sie leben, indem ich in ihren Geist eintauche.

STANDARD: Ist die Literatur unsere Rettung, dem Vergehen der Zeit zu entkommen?

Safranski: Sie ist ein wunderbares Asyl. In ihm erfüllt sich der Traum, der Zeit enthoben zu sein, der Vergänglichkeit zu entrücken und sich im Imaginären ein Stück Zeitsouveränität zurückzuerobern. Beim Erzählen können wir mit der Zeit spielen. Die Sprache öffnet uns ein Universum an Zeiten, und es kommt etwas in die Welt, das gewesen ist oder sein wird oder das es nur in der Vorstellung gibt.

STANDARD: "Was also ist die Zeit?" Die Frage des Augustinus kehrt in Ihrem Buch immer wieder. Haben Sie eine Antwort gefunden?

Safranski: Nein. Wir können die Zeit nicht fassen. Das wäre auch keine angenehme Vorstellung. Es würde das Ende der Auseinandersetzung mit ihr bedeuten. 

Interview von Ruth Renée Reif

Rüdiger Safranski, geb. 1945 in Rottweil, studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte. Seine Biografien (u. a. über Heidegger, Schiller und Goethe) sowie seine Auseinandersetzungen mit Grundfragen wie dem Bösen oder der Wahr-heit wurden in 30 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien: "Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen". (Hanser, 2015)


Nota. - Würden die Menschen sich nicht als schlechthin-Tätige auffassen, hätten sie auch keine Zeit. Nur weil ich, um zu handeln, einen Zweck annehmen muss, der noch-nicht-erreicht ist, gibt es für mich vorher und nachher. Ein Tier ist immer in der Gegenwart. Die Vita Contemplativa dagegen ist ohne Zeit.
JE




Donnerstag, 29. Oktober 2015

Wir sind vernünftiger, als man denkt.

institution logoKopf oder Bauch: Wie wir entscheiden, hängt von der Erfahrung ab

Kerstin Skork
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Studie untersucht Entscheidungsverhalten in verschiedenen Alltagsbereichen: Jeans oder Stoffhose? Laptop oder Tablet? Schulmedizin oder Homöopathie? Wie entscheiden Menschen über solche Fragen, wissensbasiert oder intuitiv? Und gibt es den reinen Kopf- und den reinen Bauchentscheider? Diese Fragen untersuchten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und der Universität Basel. Die Studie dazu wurde in der Fachzeitschrift „Journal of Applied Research in Memory and Cognition“ veröffentlicht.

Ob wir im Alltag eher mit dem Bauch oder mit dem Kopf entscheiden, hängt nicht so sehr davon ab, welcher Entscheidungstyp wir sind. Vielmehr spielt vor allem der Inhalt der Entscheidung eine große Rolle und ob wir uns in dem Bereich auskennen. Das zeigen die Ergebnisse einer Studie von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und der Universität Basel.

Während wir bei Kleidung, Restaurants und der Partnerwahl eher intuitiv, also aus dem Bauch heraus, entscheiden, setzen wir bei Themen wie Medizin, Elektronik und Urlaub eher auf wissensbasierte Abwägungen, so die Ergebnisse der Studie. „Somit kann man auch nicht von dem Kopf- oder dem Bauchentscheider sprechen, wie es häufig angenommen wird“, sagt Thorsten Pachur, Erstautor der Studie und Wissenschaftler am Forschungsbereich „Adaptive Rationalität“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Stattdessen bevorzugen Menschen je nach Inhaltsbereich die eine oder die andere Entscheidungsart – ganz unabhängig vom Geschlecht. Das Vorurteil, dass Frauen lieber mit dem Bauch entscheiden als Männer, wurde nicht bestätigt.

Für die Studie befragten die Wissenschaftler 149 Studenten mit einem Altersdurchschnitt von 25,8 Jahren, wovon 102 weiblich waren. Zunächst wurden die Probanden gefragt, wie sie generell Entscheidungen treffen — also ob sie eher intuitiv oder eher wissensbasiert entscheiden. Zusätzlich machten sie Angaben darüber, wie sie bei Entscheidungen, die bestimmte Bereiche des Alltags betreffen, vorgehen würden. Die Forscher fragten dabei nach Partnerwahl, Kleidung, Restaurants, Medizin, Elektronik und Urlaub. Zuletzt schätzten die Teilnehmer ihre eigene Expertise in den jeweiligen Bereichen auf einer Skala von eins bis fünf ein.

Die Ergebnisse machen deutlich: Wie sehr jemand eine Entscheidung lieber aus dem Bauch heraus oder mit dem Kopf trifft, hängt von dem jeweiligen Bereich ab. Wer in einem Bereich ein Kopfentscheider ist, muss dies längst nicht in einem anderen sein. Die bevorzugte Entscheidungsart hängt davon ab, wie man seine eigene Kompetenz in diesem Bereich einschätzt. Sieht man sich in einem Bereich nicht so sehr als Experte, entscheidet man lieber wissensbasiert. „Haben wir in einem bestimmten Bereich aber recht viel Erfahrung, dann vertrauen wir bei solchen Entscheidungen eher auch unserem Bauchgefühl“, erklärt Thorsten Pachur die Ergebnisse. „Dies könnte auch bedeuten, dass ältere Menschen aufgrund ihrer größeren Erfahrung mehr zu Bauchentscheidungen neigen als jüngere.“

Originalstudie
Pachur, T., & Spaar, M. (2015). Domain-specific preferences for intuition and deliberation in decision making. Journal of Applied Research in Memory and Cognition. 
doi:10.1016/j.jarmac.2015.07.006

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wurde 1963 in Berlin gegründet und ist als interdisziplinäre Forschungseinrichtung dem Studium der menschlichen Entwicklung und Bildung gewidmet. Das Institut gehört zur Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., eine der führenden Organisationen für Grundlagenforschung in Europa.

Weitere Informationen: https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/presse/2015/10/kopf-oder-bauch-wie-wir-entsche...

Dienstag, 27. Oktober 2015

Positiv denken macht untüchtig.


aus Süddeutsche.de, 27. 10. 2015

"Positives Denken hindert uns daran, Ziele zu erreichen"
Purer Optimismus hindert Menschen daran, ihre Ziele zu erreichen, meint Psychologieprofessorin Gabriele Oettingen.

Der Pessimismus hat ein Imageproblem. "Denk positiv!", schallt es aus den Ratgeberliteratur-Regalen. Wer Bedenken äußert und auf Hindernisse hinweist, wird schnell als Miesepeter abgestempelt.

Die Psychologieprofessorin Gabriele Oettingen hat das Thema in den vergangenen 20 Jahren wissenschaftlich untersucht. Nach zahlreichen Studien in Deutschland und in USA kommt sie zu dem verblüffenden Ergebnis: Purer Optimismus hindert Menschen daran, ihre Ziele zu erreichen.



SZ: Wann ist Ihnen zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass positives Denken gar nicht zweckmäßig sein könnte?

Gabriele Oettingen: Um ganz ehrlich zu sein, haben mich die Befunde belehrt. Als ich angefangen habe, Ende der 80er Jahre an diesem Thema zu arbeiten, war unumstritten, dass positives Zukunftsdenken sich auch positiv auf das Handeln auswirkt.

Ich wollte den Einfluss von Phantasien und Zukunftsträumen untersuchen. Ich habe eine Studie mit Frauen gemacht, die sich für ein Programm zur Gewichtsreduktion angemeldet hatten. Das Ergebnis: Je positiver sich die Frauen vorab ihren Erfolg vorgestellt haben, je rosiger sie sich ihr neues schlankes Leben ausgemalt haben, desto weniger Kilos haben sie dann tatsächlich verloren.

Sie hatten das Gegenteil vermutet?

Genau. Zunächst dachten wir, wir hätten einen Fehler bei der Auswertung gemacht. Doch dann haben wir das gleiche Ergebnis immer wieder gefunden. Je positiver Hochschulabsolventen darüber phantasiert haben, wie schnell sie nach der Uni einen tollen Job finden, umso länger waren sie zunächst arbeitslos, umso weniger haben sie verdient. Studenten, die sich vorgestellt haben, in einer Prüfung so richtig gut abzuschneiden, haben schlechtere Noten geschrieben als ihre Kommilitonen, die weniger optimistisch waren.

Sogar im zwischenmenschlichen Bereich trat der Effekt auf: Wir haben Personen untersucht, die in jemanden verknallt waren. Je intensiver sich die Verliebten vorgestellt haben, wie es wäre, mit dem Angebeteten zusammenzukommen, umso unwahrscheinlicher wurde eine Beziehung. Positives Denken hindert uns daran, Ziele zu erreichen.

Dabei haben doch über Jahrzehnte die Ratgeber und Lebenshilfe-Autoren "Think pink" gepredigt und den Leuten erzählt: "Wenn du nur positiv denkst, wird alles gut!" Wie kam man denn auf diesen Humbug?


Darüber kann ich nur spekulieren. Wir haben nicht wissenschaftlich untersucht, warum sich diese Überzeugung in den Köpfen festgesetzt hat. Aber Sie können sich ja vorstellen, wie verführerisch das ist. Positiv zu denken ist ja zunächst sehr angenehm und wenn mir dann noch jemand sagt, dass purer Optimismus ganz wunderbare Effekte auf mein Leben hat, dann glaube ich das gern.

Wunschträume und Phantasien sind ja auch durchaus sinnvoll. Sie machen gute Laune, helfen zu entspannen. Aber sie stehen uns im Weg, wenn es darum geht, tatsächlich eine Aufgabe anzupacken, Ziele zu erreichen.

Wer träumt, wähnt sich schon am Ziel

Können Sie erklären, warum das so ist?

Auch das haben wir in experimentellen Studien untersucht. Der Mechanismus funktioniert so: Leute, die sich eine positive Zukunft ausmalen, denken, sie wären schon da, sie hätten ihr Ziel schon erreicht. Während sie sich die Wunscherfüllung vorstellen, entspannen sie sich und genießen das Gefühl der Zufriedenheit: "Ahhhh, der Report ist geschrieben, der Konflikt ist gelöst, ich bin mit meinem Schwarm zusammen - herrlich."

Dabei geht dann aber die Energie runter, die Bereitschaft, die man braucht, um aktiv zu werden und Dinge in die Tat umzusetzen. Tatsächlich ist diese Vorstellung, diese mentale Repräsentation so stark, dass der Blutdruck sinkt.

Damit man doch Ziele erreicht, empfehlen Sie eine Technik, die "mentales Kontrastieren" heißt. Was steckt dahinter?

Auch das habe ich von den Versuchspersonen gelernt. Die Personen, die in unseren Studien am erfolgreichsten waren, haben sich zwar die Erfüllung eines Wunsches vorgestellt, aber dann den Schalter umgelegt und sich gefragt: Was steht mir im Weg, diesen Wunsch tatsächlich umzusetzen? Was hält mich auf? Was stoppt mich? Identifiziert man dieses Hindernisses umd imaginiert es dann, erhält man die nötige Energie, die Sache anzupacken.

"Mentales Kontrastieren" bedeutet also, einem Wunsch die realen Hindernisse gegenüber zu stellen.

Genau. Während die Zukunftsphantasien dem Handeln eine Richtung geben, liefert mir die Vorstellung der Hürden die Energie, sie zu überwinden.

Sie haben ein Modell entwickelt, das WOOP heißt - was steckt hinter den Buchstaben?

Am Anfang steht ein Wunsch - W, wie "wish". Ich formuliere einen Wunsch für die Zukunft, der mir am Herzen liegt. Dann male ich mir das Ergebnis aus - O, wie "outcome". Wie fühlt es sich an, wenn sich der Wunsch erfüllt? Was ist es, was mich daran so reizt?

Dann kommt das Umlegen des Schalters: Welches Hindernis steht mir im Weg? Auf Englisch heißt Hindernis "obstacle" - das ist das zweite O. Als letztes kommt das P für "plan". In diesem Schritt überlegt man sich, wie man das Hindernis überwinden kann. Da macht man sich einen ganz konkreten Wenn-Dann-Plan: "Wenn mir wieder ein Kollege eine Extra-Aufgabe aufs Auge drücken möchte, dann sage ich freundlich, dass ich an einem wichtigen Projekt sitze und daher leider keine Zeit habe."

Wie wichtig ist die Reihenfolge der Schritte?

Die ist essenziell. In unseren Studien haben wir festgestellt, dass schon eine kleine Änderung fatal ist. Wenn man sich zum Beispiel erst das Hindernis vorstellt und dann das Ergebnis, funktioniert die Methode schon nicht mehr so gut.

Der Witz ist nämlich, dass während einer WOOP-Imagination automatische Prozesse ablaufen. Durch das bewusste Vorstellen eines Wunsches und möglicher Hindernisse werden die Zukunft und die Realität miteinander verbunden, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Durch den Plan-Schritt wird dann wiederum ein konkretes Verhalten hinzugefügt. Wenn ich dann an die Zukunft denke, kommt mir automatisch auch die Realität mit in den Sinn und dazu gleich noch das Verhalten, dass ich anwenden möchte, wenn mir ein bestimmtes Hindernis begegnet.

Klären: Was will ich eigentlich?

Für welche Arten von Wünschen ist WOOP geeignet?

Sie können die Methode für die kleinen trivialen Wünsche genauso anwenden, wie für die ganz großen - wichtig ist nur, dass der Wunsch Ihnen wirklich etwas bedeutet. Tatsächlich hilft WOOP aber auch dabei, herauszufinden: Was will ich eigentlich? Denn wenn ich mich intensiv mit einem Wunsch beschäftige, stelle ich vielleicht fest: Das wäre zwar ganz nett, aber es ist doch nicht meins. Klar wäre eine Weltreise schön, aber eigentlich geht es mir gerade darum, meinemJob mehr Bedeutung zu geben.

Vielleicht stelle ich im WOOP-Prozess auch fest, dass ein Hindernis zu groß ist, dass mir der Aufwand zu hoch ist. Ich würde vielleicht gerne Spanisch sprechen, aber ich möchte nicht so viel Zeit zum Vokabellernen aufwenden. Dann hilft die Technik dabei, sich von Wünschen zu trennen. Das setzt Kraft frei für die Sachen, die einem wirklich wichtig sind. Wir haben außerdem festgestellt, dass WOOP Stress reduziert und die Zusammenarbeit und Kommunikation verbessert.

Inwiefern?

Wir haben eine Studie mit Angestellten im Gesundheitsbereich gemacht. Die Anwendung hat dazu geführt, dass schon nach drei Wochen die Stress-Symptome weniger wurden. Mit Experimenten der Verhaltensökonomie haben wir herausgefunden, dass Studienteilnehmer integrativere Lösungen für Probleme finden. Das heißt, sie konnten sich besser in andere hineinversetzen, waren kooperativer und auch fairer.

...

Gibt es auch Risiken und Nebenwirkungen? Sollte die Technik in bestimmten Situationen nicht angewendet werden?

Wenn ich keine Handlungsmöglichkeiten habe, dann muss ich auch nicht "woopen". Wenn die Bewerbung schon abgeschickt ist zum Beispiel. Man darf es sich nicht vorstellen wie eine Pille. Ich sehe es eher als Instrument. Der Wunsch geht auch nicht unbedingt am nächsten Tag magisch in Erfüllung, aber der Ansatz hilft, überhaupt in den Prozess der Wunscherfüllung einzutreten.

Wenn es nicht klappt, kann ich es nochmal probieren und überlegen: Habe ich das richtige Hindernis erwischt, den Plan richtig formuliert? Das ist eine Entdeckungstour in die eigenen Wünsche, ins eigene Leben.


2014 hat Gabriele Oettingen in den USA "Rethinking Positive Thinking: Inside the New Science of Motivation" veröffentlicht. Gerade ist das Buch auf Deutsch unter dem Namen "Die Psychologie des Gelingens" im Pattloch-Verlag erschienen. Weitere Informationen zu WOOP sind auf der Internetseite woopmylife.orgzusammengestellt. Eine kostenlose App zum WOOP-Verfahren kann für Apple-Geräte und Android heruntergeladen werden.

Sonntag, 25. Oktober 2015

Das Als-ob ist das Maximum, das der Mensch erreichen kann.

aus Der Standard, Wien, 24.10.2015

Philosophin Pia Jauch: 
"Noch nie aß jemand mit der Liebe zu Mittag"
Die Schweizer Philosophin Ursula Pia Jauch über Vernunftbesessenheit, das Schnurren von Katzen und ihre erste legale Droge

INTERVIEW Renate Graber

STANDARD: Ah, da steht Otto, Ihr altes Holzdreirad. Sie haben viele antiquierte Spielsachen hier: Ihr Tribut an Schiller, der sagte, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt?

Jauch: Das Spielerische gehört sicher zum Anthropologischen. Die Besessenheit auf die Vernunft ist ja eine Krankheit, auch eine der Philosophen. Die Vernunft ist nicht zuletzt deswegen ein so großes Thema, weil sie fehlt. Das zeigt die Weltgeschichte gerade jetzt: Da gewinnt man nicht den Eindruck, dass vieles so läuft, wie es uns die Vernunft, nach der wir seit 2.000 Jahren suchen, erzählen würde. Im Grunde kommt alles, was wir tun, aus einer tiefen, relativ experimentellen Seinslage. Versuch und Spiel sind eigentlich der Normalfall des Menschen.

STANDARD: Wir spielen immer?
Jauch: Das Spielen ist eine etwas heiterere Vorstellung als die von Trial and Error. Was immer wir tun: Wir machen nur Versuche. Dieses schöne Wort von Kleist über die allmähliche Verfertigung des Denkens beim Reden, das in der Kurzfassung lautet "Ich red ja nur", zeigt das auch: Wir spielen mit Gedanken, was herauskommt, ist ziemlich ungewiss. (Eine Birmakatze kommt herbeispaziert.)
STANDARD: Ist das Rinaldo?
Jauch: Rosina, seine Schwester.
STANDARDSie haben einen Essay geschrieben, "Warum Katzen schnurren". Man weiß aber nicht, warum sie das tun ...
Jauch: Stimmt. Wir nehmen an, dass sie schnurren, weil sie sich wohlfühlen, aber faktisch haben wir keine Ahnung, wir können ja nicht in die Katze reinsehen. Das meiste, das wir vorgeben zu wissen, supponieren wir  – außer beim Axiomatischen wie in der Mathematik. Wir sehen das jetzt in der Weltgeschichte: Wir hatten Pläne, aber es kam alles ganz anders. Hätte jemand gedacht, dass Religionswissenschafter wieder wichtig werden? Wir haben zum Ende des 20. Jahrhunderts die definitive Säkularisierung ausgerufen, jetzt beschäftigen wir uns mit den primären Fragen des religiösen Fundamentalismus. Die Prognosefähigkeit der Menschen ist begrenzt.
STANDARD: Die Einsicht, nicht viel zu wissen, ist das Geschäft der Philosophen ...
Jauch: Das Fragezeichen ist das Erkenntnis-Mal der klugen Philosophie. Und die Befähigung, dass der Mensch es schafft, diese Fragezeichen auszuhalten. Wir wissen über sehr viel Entscheidendes in unserem Leben nicht Bescheid, eines davon ist die Situation der Endlichkeit, sind Grenzsituationen: Wir wissen nicht, wie alt wir werden, wie wir sterben werden, ob unser Haus in zwei Jahren noch stehen wird. Mit dieser Unkenntnis müssen wir leben. Genau deshalb setzt unsere Gesellschaft so sehr auf Sicherheit: um diese primäre Angst vor dem Nichtwissen ein bisschen zu kompensieren.
STANDARDWas wären Sie, wären Sie nicht Philosophin?
JauchGute Frage. Etwas aus der Abteilung: nachdenken können und etwas mit den Händen tun ... Wobei: Ich habe mir nicht vorgenommen, Philosophin zu werden, ich habe mir gar nichts vorgenommen. Als ich Philosophie studiert habe, war das Studieren an den Hochschulen noch viel breiter als heute, man hatte große Freiheiten. Die starke Änderung an den Hochschulen macht mich sehr unglücklich. Diese Phase, in der man sich orientieren konnte, in der das gezielte Herumirren der Bildung und der substanziellen Charakter- und Persönlichkeitsbildung dient, diese Phase gibt es nicht mehr. Die Studierenden stecken in einem Extremkorsett aus Zielgerichtetheit, obwohl doch die Verwertungslogik aus der Wirtschaft, wonach jeder Zeitaufwand einen Creditpoint gibt, in der Bildung eigentlich nichts zu suchen hat.
STANDARDDen Verwertungsgedanken gibt es doch überall. Alles wird gemessen, alles bekommt eine Funktion und wird zum Geschäftsmodell.
Jauch: Ja, und statt Ökonomie haben wir überall Betriebswirtschaft. Die ersten Ökonomen waren meist Theologen und haben auch die Frage nach Ethos und Verteilungsgerechtigkeit gestellt. Genau die Fragen, die heute in der Betriebswirtschaft fehlen. Nehmen Sie die VW-Krise: Wenn die Betriebswirtschaft das Ethos nicht eliminiert hätte, wäre das nicht so ein großes Thema.
STANDARD: Haben Sie es als Philosophin, die all die Fragezeichen akzeptiert, eigentlich leichter im Leben?
JauchManchmal, wenn man das Gefühl hat, man könne sich mit seiner eigenen Weisheit selbst trösten. Oft ist das aber auch nicht der Fall. Der Schweizer Literat und Nobelpreisträger Carl Spitteler schrieb den klugen Satz: "Der Philosoph kriecht mit der Philosophie hinter die Philosophie zurück, und wenn wir Glück haben, kommt er wieder hervor." Der Philosoph kann sich auch im Gespinst von Fragen verlieren. Es gibt zudem Leute, die Philosophen für verschrobene Menschen halten, weil sie Dinge hinterfragen, die für andere sonnenklar sind. Vielleicht ist der Hang zur Philosophie eine besondere Form der inneren Gedankenschwere – und die ist nicht sehr lebensdienlich.
STANDARDWelche Eigenschaft braucht ein Philosoph gar nicht?
JauchEitelkeit. Die Gefahr, dass man sich für bedeutend hält, nur weil man mal einen Kommentar zur Weltlage abgibt. Und jeder will sein eigenes System bauen und zeiht den anderen des Nichtverstehens.
STANDARD: Waren Philosophen früher denn anders?
Jauch: Der Philosoph ist zu einer irrlichternden Gestalt geworden, die fast nicht mehr existiert. Wir haben Universitätsphilosophen mit ihren Lehrstühlen, und die müssen sich im Gerede halten. Im Grund genommen waren Philosophen doch Figuren, die irgendwann einmal unangenehm aufgefallen sind, weil sie rückgefragt haben, dann hatten sie Narrenposten im positiven Sinne an den Unis. In meinen Augen ist unsere akademische Philosophie an einem toten Punkt angelangt. Dass sie zur derzeitigen Weltlage fast gar nichts sagt, hat wesentlich damit zu tun, dass der Philosophie dieser Impetus zum Unangenehmsein genommen wurde und Eitelkeit an seine Stelle getreten ist.
STANDARD: Der Philosoph muss also Eigensinn und den Mut zum Unbeliebtsein haben?
Jauch: Eigensinn unbedingt, er kann obsessiv eine Frage verfolgen und ist historisch eine Figur, die den anderen auf den Nerv geht. Weil er immer zur Unzeit die richtigen Fragen stellt oder die falschen Fragen zur richtigen Zeit. ...
Jauch: Philosophie wird viel zu hoch gehandelt, als wäre sie etwas Schweres und Schwerblütiges – dabei beschäftigt sie jeden Menschen. Einen Tag, an dem Sie nicht philosophieren, müssen Sie mir zeigen. Sie fragen sich ja auch: Lohnt es sich, zu einem Interview in die Schweiz zu reisen ...
STANDARD: Ich fürchte, dass manche Politiker nie philosophieren.
Jauch: Da hätten sie ihren Beruf verfehlt. Aber ich stelle fest, dass die Unschärfe zwischen der Weltlage und dem Umstand, wie sie wahrgenommen und verwaltet wird, steigt und die Fähigkeit, Probleme zu analysieren und Handlungsdispositionen zu erstellen, unglaublich abnimmt.
STANDARDObwohl wir im Gegensatz zu früher über Echtzeitinformationen verfügen?
Jauch: Ja, aber wir erleben gerade jetzt Grenzsituationen, in denen sich alles unglaublich schnell ändert – und da kann auch die Politik nicht viel planen, muss aber reagieren. Grundsätzlich lässt sich unsere Gegenwart trefflich mit der Figur des Paradoxons beschreiben. Wir haben 320-PS-Autos und stehen damit im Stau. Wir können Mails in einer Tausendstelsekunde nach Nordostchina schicken, kommen aber nicht dazu, unsere Mails abzufragen, weil wir so viele bekommen. Wir haben eine hochgradig präzise Informationstechnologie – und wissen trotzdem nicht, was wir tun sollen. Alles paradox.
STANDARD: Und unvernünftig.
Jauch: Die Vernunft ist für vieles sehr gut geeignet, hilft aber nicht bei der Frage, wie man leben soll. Vieles im Leben ist nicht rationalisierbar.
STANDARD: Europa weiß auch nicht, wie man die Flüchtlingskrise lösen soll. Nützt da Vernunft? Angela Merkel begegnet der Krise zum Teil mit Empathie und Emotion.
Jauch: Mit Kalkül und Algorithmen können wir diese menschlichen Probleme jedenfalls nicht lösen, weil der Mensch ein Wesen mit Empathie und Gefühlen ist. Da fängt man mit Algorithmen nichts an. ...
Jauch: Da müsste man klären, was Liebe ist. Noch nie hat jemand mit der Liebe zu Mittag gegessen 
STANDARDMit der großen Liebe schon.
Jauch: Wie lange hat's gehalten? (lacht) Ich habe Schwierigkeiten mit den ganz großen Dingen: die große Liebe, das große Geld, die große Karriere, die Großprofessur. Ich halte es mehr mit dem menschlichen Maß: Also große Liebe muss es nicht sein, aber eine empathische Beziehung zwischen den Menschen, die miteinander zu tun haben, wäre klug. In Abwandlung zu Kant möchte ich so sagen: Wir können nicht beweisen, dass es Liebe gibt, aber wir können so handeln, als ob es sie gäbe. Wir können nicht beweisen, dass es Gerechtigkeit gibt, aber wir können so handeln, als ob es sie gäbe. Dieses Als-ob ist das Maximum, das der Mensch erreichen kann. Ich weiß, draußen herrschen Neid und Gier, aber ich kann trotzdem so handeln, als ob Menschlichkeit möglich wäre. Das ist eine schöne Lösung gegen dieses leichte Verzweifeln, das einen gern befällt.
STANDARD: Es geht auch profaner. Man kann seinen Garten bestellen, wie Sie, die begeisterte Gärtnerin.
Jauch: Stimmt, ich könnte nicht sein ohne Garten. Früher hatte ich einen Schrebergarten; nun habe ich einen größeren Garten angelegt und heuer meine ersten drei Äpfel geerntet. Der Garten ist ja auch eine Metapher fürs Leben: Man muss sein Leben pflegen wie einen Garten, sagt schon Candide.
STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?
Jauch: Darum, das Leben zu bestehen – und zwar mit einer gewissen Sinnenfreude. Denn das Leben ist schon eine Aufgabe.  

Ursula Pia Jauch (56) lehrt Philosophie an der Uni Zürich. Sie wuchs auf dem Land auf, zog mit 16 von daheim aus und studierte Philosophie, Linguistik und Ältere Deutsche Literatur in Zürich. Ihre Dissertation schrieb sie über Immanuel Kant, ihre Habilitation über den französischen Arzt und Philosophen Julien Offray de La Mettrie. Sie arbeitete für die Neue Zürcher Zeitung, führte TV-Interviews für "Sternstunde Philosophie" und war in der Jury des Philosophicums Lech. Die begeisterte Reiterin und Gärtnerin ist geschieden und lebt in der Nähe von Zürich.

Freitag, 23. Oktober 2015

Einsteins Fehler.

aus Der Standard, Wien, 12.10.2015

Einsteins Fehler – und was sich daraus lernen lässt
Gravitationslinsen und Schwarze Löcher folgen aus Einsteins Theorie, obwohl er nicht an sie glaubte

Wien – Alle Physiker machen Fehler, manche sogar eine ganze Menge. Doch nur wenige geben sie so offen zu wie Albert Einstein. Vor allem an der Allgemeinen Relativitätstheorie zeigt sich: Was in der vollendeten Form wie eine perfekte Theorie erscheint, stellt sich in der historischen Perspektive als eine Geschichte von Umwegen und Irrwegen dar. Besonders für Einsteins Fehler und Fehleinschätzungen gilt: Es lässt sich daraus einiges lernen.

"In der Endphase der Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie wurde über Albert Einstein behauptet: Der korrigiert jede Woche, was er in der Vorwoche gesagt hat", berichtet der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn. Sieht man sich Einsteins Arbeiten von 1915 an, bestätigt sich dieser Eindruck. Während sich Einstein im Wettstreit mit dem Mathematiker David Hilbert wähnte, der zeitgleich an der Theorie arbeitete, veröffentlichte er, was er gerade hatte – und das war nicht immer richtig. Selbst als er die Allgemeine Relativitätstheorie fertiggestellt hatte, saß er Fehleinschätzungen zu ihren Konsequenzen auf. "So hat er geglaubt, dass seine Theorie ein statisches Universum beschreibt", sagt Renn. Das stellte sich als falsch heraus.



Eine seiner größten Fehleinschätzungen betrifft wohl einen Effekt der Allgemeinen Relativitätstheorie, der sich Gravitationslinsen nennt. Während Einstein den Effekt für bedeutungslos hielt, zählt er heute zu den wichtigsten Anwendungen der Allgemeinen Relativitätstheorie in der Kosmologie (siehe "Durch die Linse der Gravitation")


Eine kleine Rechnung

Die 1936 in "Science" erschienene Arbeit, in der die Idee der Gravitationslinsen vorgestellt wird, begann Einstein mit dem Satz: "Some time ago, R. W. Mandl paid me a visit and asked me to publish the results of a little calculation which I had made at his request." Rudi Mandl war ein tschechischer Ingenieur, der zu dieser Zeit als Tellerabwäscher arbeitete. Er hatte Einstein gebeten, zu berechnen, wie sich Lichtstrahlen in der Nähe massiver Objekte verhalten.


Einsteins "kleine Rechnung" ergab, dass bei großen Massen eine Bündelung der Lichtstrahlen einsetzt – ähnlich einer Linse. Er erkannte zwar den Effekt, nahm aber an, dass dieser so klein sei, dass er nicht beobachtet werden könne. Einstein glaubte nicht an die Expansion des Universums und an Schwarze Löcher, bei Gravitationswellen war er unentschieden – dennoch hat sich all das aus seiner Theorie ergeben. Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn sieht seine Fehleinschätzungen allerdings nicht als persönliche Schwäche, sondern als Charakterzug von Wissenschaft: "Bei wirklich tiefen neuen Einsichten zeigt sich erst im Nachhinein, was da alles drinsteckt." (trat,)



Dienstag, 20. Oktober 2015

Schneller als das Licht.


Der Metamaterial-Chip zwingt Licht zu einer konstanten Phase mit unendlicher Wellenlänge

aus scinexx

Chip macht Licht unendlich schnell

Metamaterial mit Brechungsindex Null manipuliert Licht auf besondere Weise

Nur scheinbar unmöglich: Forscher haben einen Chip konstruiert, in dem Licht unendlich schnell wird – seine Phasengeschwindigkeit übertrifft sogar die Lichtgeschwindigkeit. Dies gelingt, weil ein Metamaterial den Lichtstrahl auf spezielle Weise manipuliert. Der große Vorteil: Ein solcher Chip kann das Licht verformen, quetschen oder sonstwie manipulieren, ohne dass dieses beim Übertragen Energie verliert, wie die Forscher im Fachmagazin "Nature Photonics" berichten.

Lichtgeschwindigkeit ist eine Naturkonstante, wie wir seit Einsteins Relativitätstheorie wissen. Dass diese aber weniger absolut ist, als man seither dachte, belegen Experimente, in denen Forscher das Licht abbremsen, für kurze Zeit stopppen oder sogar in den Rückwärtsgang zwingen.

Phasengeschwindigkeit schneller als die Lichtgeschwindigkeit

Aber es geht noch seltsamer: Unter bestimmten Bedingungen kann das Licht schneller werden als die Lichtgeschwindigkeit. Das klingt unmöglich, ist aber kein Widerspruch zu Einstein, weil es in diesem Falle nicht um die Gesamtgeschwindigkeit des Lichts geht, sondern um die Phasengeschwindigkeit – das Tempo, mit dem sich ein einzelner Wellenberg bewegt. Dieses entspricht zwar im Vakuum der Lichtgeschwindigkeit, in bestimmten Materialien aber kann die Phasengeschwindigkeit abweichen.

Lichtbrechung an einem normalen Material: Die Phasengeschwindigkeit nimmt ab. Beim Metamaterial wird sie unendlich groß.

Einen Extremfall davon haben nun Yang Li von der Harvard University und seine Kollegen entwickelt: Einen Chip aus einem Metamaterial, dessen Brechungsindex gleich Null ist. "Wenn dies der Fall ist, dann wird die Phasengeschwindigkeit unendlich", erklären die Forscher. "An diesem extremen Limit wird die Wellenlänge im Material unendlich groß und die Phase ist überall konstant." Die Wellenberge und Täler dieses Lichts oszillieren nur noch in der Zeit, nicht aber im Raum.

Silizium-Säulen im Polymer

Der neuartige Chip besteht aus einer quadratischen Fläche eines speziellen Polymers, in das winzige Silizium-Säulchen eingebettet sind. Jede Säule ist 690 Nanometer hoch und 211 Nanometer dick. Oberhalb und unterhalb dieser lichtleitenden Schicht dient eine Goldauflage als Begrenzung. Ein Silizium-Wellenleiter führt den Lichtstrahl in dieses Metamaterial hinein. "Dieser Chip kann dadurch mit Standard-Komponenten photonischer Chips und Leiter verbunden werden", so die Forscher.<

Dieser eigentlich simple Aufbau reicht aus, um das Licht auf neuartige Weise zu manipulieren: Licht mag es normalerweise nicht, gequetscht oder manipuliert zu werden", erklärt Seniorautor Eric Mazur von der Harvard University. "Aber dieses Metamaterial erlaubt es, Licht zu quetschen, bieten, zu verdrehen und den Durchmesser eines Strahls vom makroskopischen in den Nanobereich zu verkleinern."

Manipulation ohne Energieverlust

Der Clou dabei: All diese Manipulationen sind möglich, ohne dass das Licht dabei seine Energie verliert. "Bisherige optische Schaltkreise werden durch die schwache und ineffektive Energieerhaltung der konventionellen Silizium-Wellenleiter gehemmt", erklärt Li. "Das Metamaterial mit Null-Brechungsindex sorgt dagegen durch seine hohe innere Phasengeschwindigkeit für volle Übertragung – egal wie das Material konfiguriert ist."

Ein weiterer Vorteil: Das Metamaterial lässt sich mit herkömmlichen Verfahren relativ leicht und in viele Varianten herstellen, wie die Forscher betonen. Zudem ist es problemlos mit konventionellen integrierten optischen Schaltkreisen kombinierbar. Es könnte daher schon jetzt in bestehende Systeme integriert werden.

Der neuartige Chip ermöglicht eine ganze Reihe von neuen Anwendungen, von Oberflächen-emittierenden Lasern über neuartige Kopplungsformen elektromagnetischer Strahlung bis hin zur besseren Verschränkung von selbst weit entfernten Quantenbits. "Dieses on-Chip-Metamaterial eröffnet uns einen Weg, die Physik des Null-Brechungsindexes du seine Anwendungen zu erkunden", so Mazur. (Nature Photonics, 2015; doi: 10.1038/nphoton.2015.198)

(Harvard University, 20.10.2015 - NPO)

Freitag, 16. Oktober 2015

Das Gehirn 'nimmt' nicht 'wahr', sondern interpretiert - und manchmal zu viel.

aus scinexx

Wie Halluzinationen entstehen
Gehirn ergänzt unvollständige Seh-Informationen zu gut
Halluzinationen sind keineswegs die Folge eines "kaputten" Gehirns. Im Gegenteil: Wer solche Trugbilder sieht, bei dem arbeitet das Gehirn sogar zu gut. Es interpretiert mehr in das Gesehene hinein als drinsteckt, wie ein Experiment nun belegt. Das Spannende daran: Der Übergang zwischen dem normalen Ergänzen unvollständiger Seh-Informationen und der Halluzination ist fließend – und keineswegs eine Domäne psychisch kranker Menschen.

Die Informationen, die unsere Augen oder anderen Sinnesorgane wahrnehmen, sind oft unvollständig. "Erst unser Gehirn lässt die Welt entstehen, die wir sehen", erklärt Erstautor Christoph Teufel von der Cardiff University. "Es füllt die Lücken und ignoriert die Dinge, die nicht passen. Dadurch präsentiert es uns ein Bild der Welt, das bereits bearbeitet ist und zu dem passt, was wir erwarten." Diese selbstständige Ergänzung ist auch für optische Täuschungen oder das Funktionieren des Daumenkinos

Teufel und seine Kollegen belegen nun, dass die "Einmi-schung" des Gehirns in unsere Wahrnehmung auch bei Halluzinationen eine entscheidende Rolle spielt. "Ein vorausschauendes Gehirn zu haben ist sehr nützlich – es bedeutet aber auch, dass wir nicht sehr weit davon entfernt sind, Dinge wahrzunehmen, die gar nicht vorhanden sind."

 Können Sie erkennen, was dieses Schwarz-Weiß-Bild darstellt?

Schwarz-Weiß-Bilder als Test 

Um das zu prüfen, zeigten die Forscher 18 Versuchsper-sonen im Frühstadium einer Psychose und 16 gesunden Menschen eine Reihe von halbabstrakten, unvollstän-digen Schwarz-Weiß-Bildern, ähnlich dem oben gezeig-ten. Die Probanden sollten angeben, auf welchen Bildern ein Mensch zu erkennen war und auf welchen nicht – eine nahezu unmögliche Aufgabe.

Doch die Teilnehmer bekamen Hilfe: Als nächstes zeigten die Forscher ihnen Farbfotos, unter denen auch die Vorlagen für die verfremdeten Schwarz-Weiß-Bilder waren. Die Frage war: Würde das Gehirn der Probanden diese Information nutzen, um später dann die Schwarz-Weiß-Bilder wiederzuerkennen und korrekt zu interpretieren? Tatsächlich verbesserte sich die Trefferquote der Teilnehmer in einem erneuten Durchgang.

Gehirn schmückt zu viel aus

Dabei gab es jedoch auffällige Unterschiede: Die Probanden, die an einer frühen Psychose litten, schnitten etwa doppelt so gut ab wie die Kontrollpersonen. "Sie können offensichtlich das zuvor erworbene Wissen besser abrufen", so die Forscher. Ihrer Ansicht sind Halluzinationen nur eine Folge eines übersteigerten "Einmischens" des Gehirns: Es interpretiert so viel in die visuellen oder akustischen Reize hinein, dass wir Dinge oder Personen zu sehen oder hören glauben, die Wirklichkeit nicht vorhanden sind – wir leiden an einer Halluzination.

Nachdem Sie dieses Farbfoto gesehen haben, dürfte es Ihnen leichter fallen, das obige Schwarz-Weiß-Bild zu enträtseln.

"Das deutet darauf hin, dass diese Symptome und Erfahrungen nicht ein 'kaputtes' Gehirn widerspiegeln, sondern eines, das auf sehr natürliche Weise versucht, sich einen Reim aus den von außen eintreffenden Reizen zu machen", erklärt Koautor Naresh Subramaniam von der University of Cambridge.

Fließender Übergang

Dass der Übergang vom normalen Interpretieren unserer Sinneswahrnehmungen zu krankhaften Halluzinationen dabei fließend sein kann, machte eine Wiederholung des Experiments mit 40 weiteren gesunden Freiwilligen deutlich. Diese schnitten nach dem Sehen der Farbbilder ebenfalls leicht unterschiedlich ab. Am besten konnte dabei diejenigen die Aufgabe lösen, die in einem vorherigen Test der Psychoseanfälligkeit die höchsten Werte erzielt hatten.

"Das zeigt, dass veränderte Wahrnehmungen keineswegs auf Menschen mit psychischen Erkrankungen beschränkt sind", betont Teufel. "Stattdessen sind sie in milderer Form sogar in der gesamten Bevölkerung ziemlich verbreitet. Viele von uns haben vermutlich schon einmal Dinge gesehen oder gehört, die nicht da sind." Nach Ansicht der Forscher bestätigt dies, dass Psychosen nur ein Extrem auf einer fließenden Skala mentaler Zustände sind, zu dem auch die "Normalität" gehört. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2015 doi: 10.1073/pnas.1503916112

(University of Cambridge, 13.10.2015 - NPO)

Donnerstag, 15. Oktober 2015

Nebelkerze: Intelligenz hängt sehr wohl von der Größe des Gehirns ab.

aus Die Presse, Wien, 15. 10. 2015

Intelligenz hängt doch an der Größe des Gehirns
Psychologen der Uni Wien haben bestätigt, dass größere Gehirne bessere Gehirne sind. So steht es in der Publikation. In der Pressemitteilung steht es eher umgekehrt, vielleicht zum Heben der Aufmerksamkeit.

Von Jürgen Langenbach

„Unzweifelhaft gibt es einen sehr engen Konnex zwischen der absoluten Größe des Gehirns und den intellektuellen Kräften und Funktionen des Geistes.“ Das publizierte Friedrich Thielemann, Anatom in Heidelberg, 1836 in England: „On the Brain of the Negro, compared with that of the European and the Orang-Utan.“ Der Titel führt leicht in die Irre: Thielemann war alles andere als Rassist, für ihn hatte Intelligenz nichts mit Hautfarbe zu tun, und bei Schwarzen hatte er gleiche Hirngrößen gefunden wie bei Weißen. In England publizierte er, um das Land dafür zu loben, dass es 1833 die Sklaverei abgeschafft hatte.

Aber stimmt die Prämisse, hängt die Intelligenz an der absoluten Größe des Gehirns? Viele Forscher bestätigten den Konnex schon im 19. Jahrhundert, aber da konnte man beides noch kaum messen, sowohl die Größe des Gehirns – zumindest: des lebenden – wie die Intelligenz. Für Ersteres behalf man sich mit dem Schädelumfang, Letztere will man seit 1905 in IQ-Tests erheben.

Das Hirnvolumen wird seit den 90er-Jahren mit bildgebenden Verfahren präziser erfassbar. Auf dieser Ebene wurde Thielemann 1991 erstmals bestätigt, der Befund wurde oft repliziert, vor zehn Jahren kamen erste Zweifel, ob nicht allerlei „bias“ – Verzerrung – dabei mitgespielt habe, etwa ein „publication bias“, der dafür sorgt, dass manches an die Öffentlichkeit gelangt und anderes nicht.

„Signifikante positive Assoziationen“

Deshalb hat eine Gruppe um Jakob Pietschnig (Psychologie, Uni Wien) die Literatur gesichtet und 88 Studien in einer Metaanalyse ausgewertet (Neuroscience and Biobehavioral Reviews 9. 10.). Der Befund ist eindeutig: „Unsere Resultate zeigten signifikante positive Assoziationen zwischen Hirnvolumen und IQ.“ So steht es im Abstract, so wird es im Text variiert, sowohl, was das größere Tierreich angeht als auch das Reich der Menschen.
Demnach hat sich generell ein „robuster Zusammenhang“ zwischen Hirngröße und intellektueller Selbstkontrolle „über 36 Arten hinweg“ gezeigt, „inklusive Vögel, Nager, Raubtiere, Elefanten und Primaten“. Unter Letzteren haben wir die größten Gehirne – aber die gleiche „Architektur“, „unser Gehirn ist lediglich eine aktualisierte Version“ – und unter Menschen ist der Konnex auch so klar, dass ein Kapitel fragt: „Warum ist Hirngröße mit Intelligenz assoziiert?“

Offenbar hält Thielemanns Befund, auch ein „publication bias“ will sich so recht nicht zeigen. Dafür springt ein anderer bias ins Auge: Die Pressemitteilung der Uni Wien trägt den Titel „Ein großes Gehirn ist kein Garant für Intelligenz“, die APA nimmt es gern auf: „Größeres Gehirn macht nicht intelligenter.“ Na ja, der Briefträger kommt auch nur in die Schlagzeilen, wenn er den Hund beißt.


Nota. - Statistische Untersuchungen haben schon lange ergeben, dass die große Mehrzahl von Falschmeldungen und verzerrenden Übertreibungen in der öffentlichen Berichterstattung über wissenschaftliche Resultate nicht von den Redakteuren der Zeitungen stammen, sondern aus den Forschungsinstituten selbst.
JE

Dienstag, 13. Oktober 2015

Bin ich mein Konnektom?

aus derStandard.at, 12. Oktober 2015, 18:31

Denkmuster sind individuell wie ein Fingerabdruck
Hirnscans verraten auch, wie gut man logisch denken kann

New Haven – Es gibt etliche Merkmale unseres Körpers, die so individuell sind, dass sie zur eindeutigen Identifikation dienen können: der Fingerabdruck ebenso wie die Iris oder unsere DNA. Nun haben US-Forscher mittels neuer bildgebender Verfahren ein weiteres Merkmal entdeckt, das ähnlich einzigartig ist: nämlich unsere Hirnverbindungen.

Diese neuronalen Verbindungen werden im Rahmen des sogenannten Human Connectome Project untersucht, um bessere Aufschlüsse über ihre genaue Funktionsweise zu erhalten. Ein Team um Emily Finn von der Universität Yale (New Haven) hat bei 126 Probanden dieses Programms jeweils sechs Hirnscans gemacht, als die Testpersonen Denkaufgaben bewältigen mussten.

Den Forschern gelang es, aus den Daten einerseits hochindividuelle Denkmuster zu rekonstruieren, die sich zur Identifikation eignen. Zum anderen konnten sie, wie sie im Fachblatt Nature Neuroscience berichten, auch Rückschlüsse auf die Fähigkeit zum logischen Denken ziehen. (tasch,)

Abstract
Nature Neuroscience: "Functional connectome fingerprinting: Identifying individuals using patterns of brain connectivity"


Nota. - Das ist ja zunächst einmal eine gute Nachricht: Mit dem Gedankenlesen durch bildgebende Verfahren wird es also nix; sie müssten meine Hirnaktivitäten ein paar Jahrzehntelang gescannt und mit den Gedanken verbunden haben, die ich mir dabei gemacht habe. Dann könnten sie ein neues Bild womöglich mit einem älteren Bild vergleichen - aber ob auf denselben Wegen jedesmal wieder dasselbe 'gemeint' wurde, wissen sie doch noch nicht. -

Zweitens ist auch ein wissenschaftliches Dogma vom Tisch: Wolf Singer meinte, dass einer jeden Vorstel-lung ("Begriff", sagte er gar) ein und nur ein Verschaltungsmuster zugehöre; so dass mit dem Hören des Wortes die dazugehörige Verschaltung 'determiniert' würde - und also 'der Geist' 'die Materie' kommandier-te. Nun wissen wir aber: Ich schalte ganz anders als jeder andere auf der Welt - und wenn ich auch dassel-be meine.
JE


Freitag, 9. Oktober 2015

Die Vorstellung von der 'Natur' als einem Haushälter stammt von Aristoteles.









aus Neue Zürcher Zeitung, 22. 10. 2010

von Klaus Bartels

Im alten Latein bezeichnete die natura, ein Spross des Stammworts nasci, «geboren werden», nichts weiter als die «Geburt» von Mensch und Tier und entsprechende Organe. Erst als Cicero das griechische Begriffspaar physis und téchne mit natura und ars, «Natur» und «Technik» alias «Kunst» wiedergab, ist jene alte natura im weitesten Sinne zur «Natur» geworden. Mit diesem Begriffspaar hatte zuvörderst Aristoteles zwei mächtige Weltbereiche in den Blick genommen: auf der einen Seite die natürliche Welt, wie wir sie um uns vorfinden, von der Erde vor unseren Füssen bis zu den Sternen am Himmel, auf der anderen Seite die künstliche Welt, mit der wir uns, wie es einmal bei Cicero heisst, «mit unseren Händen in der Natur gleichsam eine zweite Natur zu schaffen versuchen», «nostris manibus in rerum natura quasi alteram naturam efficere conamur».

Für den grossen Philosophen und Zoologen ist die griechische physis – eigentlich: «das Werden, das Wachsen»* – der Inbegriff des selbsttätigen Naturprozesses, mit dem die Gestirne am Himmel «von selbst» ihre immergleichen Kreise ziehen, Erdiges, also Schweres, «von selbst» zu Boden fällt und Feuriges, also Leichtes, emporsteigt, der Same sich «von selbst» zur Pflanze, das Ei sich zum Huhn entwickelt und der Mensch über all das «von selbst» ins Staunen und Fragen gerät. Zugleich erkennt Aristoteles in dieser physis die ingeniöse Werkmeisterin alles Lebenden, mit seiner Formel: eine «handwerkende physis», die alle Artgestalten vom Menschen bis hinab zu den Pflanzen ursprünglich organisiert hat und fortwährend reproduziert. 

In seiner vergleichenden Morphologie der Tiere schreibt Aristoteles dieser «handwerkenden Physis», die wir nun getrost gross schreiben wollen, allgemeine Konstruktionsprinzipien zu, die heute jedem Automobilkonzern Ehre machen würden. «Wie ein intelligenter Mensch», sagt er da, «teilt die Physis jedes Organ einzig dem zu, der es gebrauchen kann» – und erklärt so, dass einzig der intelligente Mensch die speziell zum Werkzeugge-brauch dienlichen Hände erhalten hat. Wie jeder Volkswagen vom Phaethon bis zum Polo das seiner Leistungsstufe Entsprechende, so erhält hier jede Tiergattung vom Menschen bis zu den Seegurken das ihrer Lebensstufe Entsprechende. Hie und da gibt es ein Sondermodell: Dem vermeintlich amphibischen planschfreudigen Elefanten hat diese Physis die Nase zu einem Schnorchel ausgebildet und mit einem zweiten Geniestreich die Greiffunktion von den klobigen Vordergliedmassen auf den biegsamen Rüssel übertragen. 

Die Regel, dass diese Physis «nichts Unnützes und nichts Überflüssiges» schaffe, gilt insbesondere für die Angriffs- und Verteidigungswaffen. So deutet Aristoteles, dass keine Gattung der grossen Vierbeiner zugleich über Hörner und Reisszähne verfügt: «Mehrere jeweils für sich ausreichende Rüstungsorgane hat die Natur ein und derselben Gattung nicht gegeben.» Also kein Overkill: Von dieser superintelligenten alten Physis könnte auch ihr intelligentes Topmodell noch etwas lernen. 

Auch in puncto Schonung der Ressourcen und Recycling der Abfälle ist diese aristotelische Physis ihrer Zeit weit voraus. In seiner gelehrten embryologischen Schrift rühmt der «Sekretär der Natur» die Öko-Qualitäten seiner Meisterin: «Wie ein guter Haushalter – wie ein guter oikonómos – pflegt die Physis nichts wegzuwerfen, woraus sich noch etwas Brauchbares machen lässt.» Im modernen Euro-Wortschatz lebt die griechische physis von der «Physik» bis zur «Neurophysiologie» vielfältig fort, und mit ihrer lateinischen Lehnübersetzung natura hat sie das weite Feld von «Natur» und «Naturwissenschaft» besetzt.

Aber der Begriff einer schöpferischen, sozusagen am Reissbrett gestaltenden Natur, wie Aristoteles ihn als Erster geprägt hat, hat sich aus der Naturwissenschaft seither doch völlig verflüchtigt; Klopstocks Anruf – am Anfang seiner Ode an den Zürchersee – «Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht» sieht heute ziemlich alt, ja geradezu antikisch aus. Dafür ist die «Natur» unter dem Zeichen der unerhörten Akzeleration und Globalisierung des Kulturprozesses zu einem scharf geschliffenen politischen Hieb- und Stichwort geworden. Neu steht da jetzt nicht mehr die aristotelische «handwerkende» natura fabra einem entsprechend handwerkenden Homo faber, sondern eine bedrängte, leidende «Natur» mit allem, was da grünt und blüht, kriecht und fliegt, einem grassierenden Raubbau und Kahlschlag und allerlei Luft und Meer verpestenden Emissionen und Immissionen, «Auspuffungen» und «Einpuffungen», gegenüber. 

*) von gr. φυω = (er)zeugen


Nota. - Ist es nicht bemerkenswert, wie gut das animistisch inspirierte ‘holistische’ Naturgeraune des Aristoteles zum ganz nüchternen Krämergeist des kapitalistischen Zeitalters passt? Die Natur, ein “Haushälter”! Der Bourgeois hätte, ganz “natürlich”, auch nichts dagegen gehabt, das Kapital als eine “Entelechie” und das Geld als eine causa finalis alias “Zweckursache” aufzufassen. Doch tatsächlich verschwendet niemand so großzügig wie ‘die Natur’. 

Nota II. - Sicher wird die Vorstellung von der Natur als einem Landwirt und Haushälter von Aristoteles nicht "stammen"; sie wird, wie die Entelechien und die Vorstellung vom Kosmos als einem Organismus, schon lange latent in den Vorstellungen (wessen?) gewebt und gewirkt haben. Aber Aristoteles hat sie deutlich ausgesprochen, indem er sie für die Mit- und Nachwelt aufgeschrieben und zum Bestandteil unseres geistesgeschichtlichen Erbes gemacht hat.
JE