Erneuert sich unser Gehirn doch nie?
Die jüngste Analyse fand Neurogenese, Bildung neuer Hirnzellen, nur bei Kindern. Dann kommt nichts mehr.
Das wurde so Allgemeingut, dass Joseph Altman, als er 1962 bei Ratten doch neue Hirnzellen fand, die Publikation in Science so überschrieb: „Are new neurons formed in the brains of adult mammals?“ (135, S. 1127). Bald war es keine Frage mehr, und in den 1990ern fand sich auch im Hippocampus, einer für Lernen und Erinnern zuständigen Hirnregion, Neurogenese, 2013 konnte die Größenordnung abgeschätzt werden, mithilfe der Atombombentests der 1950er: Das dabei freigesetzte Kohlenstoffisotop 14C kam über die Nahrung in den Körper, und alle früher und später entstandenen Hirnzellen hatten es nicht. Daraus leitete Jonas Frisen (Stockholm) ab, dass pro Tag 700 neue Zellen kommen (Cell 153, S. 1219).
Das ist zwar verschwindend wenig – der Hippocampus hat Zigmillionen Zellen –, weckte aber große Hoffnungen, man könne das Gehirn von Leiden heilen bzw. etwa durch Sport fit halten. Aber nun hat Arturo Alvarez-Buylla (UC San Francisco) 59 Hirnproben von Menschen verschiedensten Alters analysiert und kräftige Neurogenese nur im ersten Lebensjahr gefunden. Dann wird sie schwach, und nach dem Alter von 13 Jahren zeigt sich gar nichts mehr: „Neurogenese im Hippocampus setzt sich in erwachsenen Menschen nicht fort, oder sie ist extrem selten“ (Nature, 7. 3.).
Das löste Kritik aus: Viele der Proben stammten von Toten, und die Marker, nach denen Alvarez-Buylla suchte, könnten von konservierenden Chemikalien zerstört worden sein. Der Einwand übersieht nur, dass sich bei Kindern durchaus Neurogenese gefunden hat. Hat also Ramón y Cajal nach 90 Jahren doch recht? Es könnte sein, dass das erwachsene Menschengehirn so komplex verschaltet ist, dass Neues nur verwirren würde.
aus derStandard.at, 8. März 2018, 13:51
Entstehen im Gehirn Erwachsener doch keine Nervenzellen mehr?
Ab
dem 13. Lebensjahr bilden sich bei Menschen keine neuen Neuronen mehr
im Hippocampus, berichten Forscher. Das widerspricht bisherigen Annahmen
von David Rennert
San Francisco/Wien – Es ist ein umstrittenes wie relevantes Thema in den Neurowissenschaften: Bis zu welchem Alter und in welchen Regionen bildet das menschliche Gehirn neue Nervenzellen? Ließe sich dieser Prozess irgendwie unterstützen, um Erkrankungen und Alterserscheinungen entgegenzuwirken? Während man lange Zeit annahm, die sogenannte Neurogenese im Gehirn sei schon im Säuglingsalter vollständig abgeschlossen, entdeckten Forscher in den 1960er-Jahren erstmals gegenteilige Hinweise. In den folgenden Jahrzehnten wurde zunächst bei Nagetieren, später auch bei anderen Säugetieren inklusive Primaten festgestellt, dass es zumindest in manchen Hirnregionen auch im Erwachsenenalter zur Neurogenese kommt.
Die wohl am besten untersuchte Hirnregion, bei der man von Nervenzellenwachstum im Erwachsenenalter ausgeht, ist der sogenannte Gyrus dentatus im Hippocampus, einem Areal, das bei der Gedächtniskonsolidierung eine zentrale Rolle spielt. Ende der 1990er-Jahre berichteten Forscher dann, dass Neurogenese auch im erwachsenen menschlichen Hippocampus stattfindet. Eine große Untersuchung im Jahr 2013 kam schließlich zur Einschätzung, dass dort täglich etwa 1.400 neue Neuronen nachgebildet werden.
Überraschende Ergebnisse
Nun aber zieht eine neue Studie diese Annahme massiv in Zweifel: Forscher um Arturo Alvarez-Buylla von der University of California in San Francisco berichten im Fachblatt "Nature", dass in Gewebeproben aus den Gehirnen von 59 Probanden keinerlei Hinweise auf Neurogenese im erwachsenen Gyrus dentatus gefunden werden konnten. Die älteste Person, bei der sie die Bildung neuer Nervenzellen im Hippocampus nachwiesen, war demnach 13 Jahre alt.
"Unsere Untersuchungen zeigen, dass Neurogenese im erwachsenen Hippocampus beim Menschen wenn, dann ein extrem seltenes Phänomen ist", sagte Alvarez-Buylla und betonte, vom Studienergebnis selbst völlig überrascht gewesen zu sein: "Wir haben erwartet, viele junge Nervenzellen zu finden – doch wir konnten keine entdecken." Das werfe neue Fragen über die Funktion und das Regenerationspotenzial der Neurogenese im Gehirn auf, so der Forscher.
Vorhersehbare Debatte
Die Gewebeproben, die Alvarez-Buylla und Kollegen aus China und Spanien untersuchten, wurden entweder postmortal oder im Zuge von Gehirnoperationen entnommen und stammten aus unterschiedlichsten Altersstufen: von Ungeborenen bis zu Personen im Alter von 77 Jahren. Dabei fanden sich deutliche Hinweise auf Neurogenese in pränatalen und neonatalen Proben, schon im ersten Lebensjahr nahm die Nervenzellneubildung jedoch stark ab. Im Alter von sieben und 13 Jahren fanden sich nur noch vereinzelt junge Neuronen, im Gewebe älterer Probanden gar keine.
In einem ebenfalls in "Nature" erschienenen Kommentar zeigt sich der Hirnforscher Jason Snyder von der University of British Columbia überzeugt, dass die Studie eine wissenschaftliche Kontroverse auslösen werde. Das Ergebnis sei aber nicht völlig überraschend: In letzter Zeit habe es vermehrt Hinweise darauf gegeben, dass sich die Neurogenese bei ausgewachsenen Nagetieren stark verlangsame.
Kritische Stimmen
Unabhängige Experten mahnten indes zur Vorsicht. Jonas Frisén vom Karolinska Institut in Stockholm, dessen Team 2013 die Neurogenese im Hippocampus Erwachsener quantifiziert hatte, ist von der aktuellen Studie nicht überzeugt. Die täglich neugebildeten 1.400 Neuronen kämen unter den zig Millionen existierenden Hippocampuszellen einer Nadel im Heuhaufen gleich, sagte er zum "Scientific American". "Vielleicht haben sie einfach nicht genau genug nachgesehen." Zweifel äußerte etwa auch Fred Gage vom Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla. "Neurogenese ist ein Prozess, kein Ereignis. In der Studie wurde aber nur totes Gewebe in einem bestimmten Moment untersucht."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen