Sonntag, 10. Januar 2016

Begriffe vor der Sprache?

aus Die Presse, Wien, 9. 1. 2016

Die universellen Begriffe der Menschen im Gehirn
Es gibt Tausende Sprachen. Jede kennt Begriffe, die für die Kommunikation und die evolutionäre Entwicklung des Denkens essenziell sind. Eine Datenbankenanalyse zeigt, wo diese im Gehirn abgespeichert sind.

Mama, Papa, oben, unten, eins, zwei, vier, wenige, viele, ich, mich, du, dich sind Begriffe, die in allen Sprachen der Menschen vorkommen. Nicht immer steht ein Wort oder ein Laut für einen Begriff. In manchen Sprachen braucht es Wortkombinationen, um diese Begriffe auszudrücken. Dennoch gibt es in Tausenden untersuchten Sprachen etwa 60 Bezeichnungen, die überall vorkommen. Es handelt sich hier um die wichtigsten Ausdrücke der Kommunikation.

Das bedeutet zudem, dass es Sprachfunktionen gibt, die für jeden Menschen auf der Welt, an jedem Ort und zu jeder Zeit essenziell sind, waren und sein werden: „Schon vor Tausenden Jahren war und in Tausenden Jahren wird die kleine Liste aus etwa 60 Begriffen für die Menschen relevant sein“, sagt Guilherme M. de O. Wood, Neuropsychologe der Karl-Franzens-Universität Graz. In dem von der Uni Graz finanzierten, unkonventionellen Forschungsprojekt „Genetische und evolutionäre Aspekte des Denkens“ will er gemeinsam mit seinem holländischen Mitarbeiter Jan Willem Koten herausfinden, wo diese Begriffe im Gehirn neuronal vernetzt sind.

Begriffe fördern das Denken

Das sei wichtig, da diese Begriffe das Denken erst möglich machten. Diese seien womöglich schon vor der Entwicklung von Sprachen da gewesen. Das habe der Menschheit in der Evolution einen Vorteil gebracht: Sobald diese Begriffe ausgedrückt werden konnten, vermittelten Menschen Zusammenhänge, Verhältnisse und komplexe Sachverhalte. Das habe die Möglichkeit eröffnet, sich in Gesellschaften zu organisieren sowie genau und effizient Informationen auszutauschen: „Ohne diese Begriffe wäre die Kommunikation ineffizient, ohne diese Begriffe gäbe es keine relevante Botschaft“, sagt der Projektleiter Wood. Das hieße zudem, dass die Menschen weltweit und zu allen Zeiten irgendwie miteinander verbunden waren.

Die Forscher untersuchen nun die genetische Korrelation. Dazu müssen sie wissen, um welche Gene es sich handelt, denn eine gewisse Anzahl von Genen muss sich daran beteiligt haben, wenn sich diese Begriffe konsistent über Zeit und Raum sowie in alten und modernen Kulturen in „unseren“ Köpfen eingemeißelt haben. Die Forscher wollen wissen, welche Netzwerke geschaltet werden, welche Grundgesamtheit an Gehirnregionen aktiviert werden, wenn die Begriffe verwendet werden. Am Ende sollen Grundkategorien beim Denken gefunden werden, die universell für alle Menschen sind.

Schon René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz diskutierten darüber, ob es in der Philosophie und Metaphysik universelle Begriffe braucht und gibt. Darüber wird noch heute gestritten. Wood will nun erstmals empirische Daten für die Philosophen liefern.

Dazu analysiert er riesige Datenbanken. Erstens durchsucht er die Literatur, wo Kernbegriffe vorkommen. Zweitens speist er bereits abgedruckte Gehirnbilder in einen Computer ein, der dann betroffene Regionen herausfiltert.

Eine molekulare Datenbank aus den USA liefert ihm drittens vergrößerte Aufnahmen, die das Gehirn in Gewebe auflöst, die DNA zählt und vergrößert und jedes Gen untersucht. Wood sieht sich viertens ein Zwillingsregister aus Holland an, das Genome, Gehirnstrukturen und EEG-Daten Zehntausender Zwillinge gespeichert hat. Der Vergleich aller Daten ist der letzte Schritt des Projektes, das noch zwei Jahre lang läuft. (por)



Nota. - Die faktische Universalität einzelner Begriffe gibt nur Auskunft über deren Nützlichkeit im Verlauf der Gattungsevolution. Über deren "Wahrheit" sagt sie aber nichts. Eingeboren mögen sie sein, aber histo-risch zufällig sind sie doch. 

Doch dass die Menschen zu allen Zeiten weltweit irgendwie miteinander verbunden waren, beweist sie schon gar nicht. Denn entweder könnten sie schon aus Afrika mitgebracht worden sein, oder es hätte, da sich die menschlichen Kooperationsweisen zunächst nicht wesentlich unterschieden, überall ähnliche 'Sachverhalte' geben können, die ähnlich abgebildet werden mussten; das hätte an allen Orten parallel geschehen können.
JE


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