aus Die Presse, Wien, 31. 1. 2016
Wir, Meister des Schlafs?
Eine Hypothese will erklären, wie der Mensch Mensch geworden ist: durch die Kürze und Intensität seiner Nachtruhe. Aber das ist eher Spekulation.
von Jürgen Langenbach
Der entscheidende Schritt in der Geschichte der Menschheit war der von den Bäumen herab, auf Dauer, auch in der Nacht, dann sind unsere nächsten Verwandten meist hoch oben. Dieser Schritt sorgte für ein großes Gehirn und eine geschickte Hand – und im Zusammenspiel beider eine höhere Kultur –, er brachte all das, was uns eigen ist. Unternommen hat ihn vor etwa 1,8 Mio. Jahren Homo erectus; der noch frühere Australopithecus nur war gelegentlich unten, sein Körperbau zeigt es.
Aber wie kam H. erectus dazu, und was war das Entscheidende an diesem Schritt? Wo die Unterschiede zwischen uns und unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, herrühren, ist unklar, in den Genen haben sich nur zwei Kandidaten gefunden, beide helfen beim Sprechen, einer im Gehirn (Foxp2) und einer, der unsere Kiefer von Muskelwülsten befreit hat. Das ist schon fast alles, der Rest der Differenz liegt im Dunkeln. Und just von dort soll sie kommen, die Differenz, aus dem Dunkel, das ist die jüngste Idee zur Menschwerdung des Affen, sie stammt von David Samson und Charles Nunn (Duke) und heißt Sleep Intensity Hypothesis: Ihr zufolge hat der Mensch sich selbst erschlafen, indem er sich auf die Erde bettete und weniger, aber besser genutzte Zeit mit Ruhen verbrachte als alle anderen Primaten. Das konnte er, weil er seinem Schlaf eine Architektur gab, die die Intelligenz keimen ließ (Evolutionary Anthropology 24,S. 225).
Gemach! Nichts liegt so im Dunkeln wie der Zustand, in dem wir ein Drittel unseres Lebens verbringen: „Um das Wesen des tiefen dunkeln Schlafs weiß man nichts in Ost und West“, bedauerte der japanische Mönch Mubaisai Ekirin 1597 in seiner „Haushaltsenzyklopädie“. Und Mitte des 20. Jahrhunderts setzte Allan Rechtschaffen, einer der führenden Schlafforscher, fort: „Wenn Schlaf nicht eine absolut lebenswichtige Funktion erfüllt, dann ist er der größte Fehler, den die Evolution je gemacht hat.“ Lebenswichtig ist er, der Schlaf, so viel weiß man, allerdings nur ex negativo: Ratten sterben an seinem Entzug rascher als an dem von Nahrung, auch Menschen brechen darunter rasch zusammen, Folterer aller Zeiten wussten und wissen es, und man selbst fühlt sich nach einer Nacht ohne rechten Schlaf „wie gerädert“.
Warum? Das weiß man nicht, man weiß nicht einmal, was Schlaf ist, es gibt nur eine vage Definition, sie kreist um die Ruhe. Aber es ruht fast nichts, Herz und Lunge pumpen – gottlob –, nur die Skelettmuskulatur ist erschlafft – auch gottlob, man würde im Bett herumspringen und sich und andere gefährden –, und die Sinne haben die Aufmerksamkeit gedämpft. Im Gegenzug wird ein Organ höchst aufgeregt, das Zentralorgan: 1953 beobachtete Eugene Aserinsky Menschen beim Schlafen und sah heftiges Augenrollen in Phasen, in denen das Gehirn ähnlich aktiv wie im Wachzustand ist, man nannte das den paradoxen Schlaf, bekannter als REM (Rapid Eye Movement).
Hirnmüllabfuhr.
Heute ist das Bild komplexer, viele Phasen wechseln einander ab, aber wozu? Über die alte Lebensweisheit, man möge wichtige Entscheidungen überschlafen, ist man kaum hinaus: Irgendwie lernt man im Schlaf – ob nur in REM oder auch sonst, ist umstritten –, man geht den Tag noch einmal durch, verfestigt Wichtiges, entsorgt Unwichtiges. Und zwar nicht nur metaphorischen Müll, das ist einer der raren Funde der Schlafforschung: Das Gehirn hat ein Entsorgungssystem für überflüssige bis gefährliche Stoffwechselprodukte, aktiv ist es im Schlaf, Maiken Nedergaard (Rochester) hat das 2013 bemerkt (Science 342, S. 372).
Das gilt wohl nicht nur für uns: Viele Tiere schlafen, ob alle, ist wieder unklar, und von jenen, die schlafen, tun es nicht alle gleich: Manche halten immer ein Auge offen und die zugehörige Hirnhälfte wach. Man kannte diesen unihemisphärischen Schlaf schon von Delfinen und Enten, nun hat ihn John Lesku (Melbourne) auch bei Krokodilen bemerkt. Er vermutet, dass dieser Schlaf die Norm ist, und der uns Vertrautere, der der Säugetiere, die Ausnahme (Journal of Experimental Biology 218, S. 3175).
Aber auch der der Säugetiere ist uns nicht wirklich vertraut, das beginnt bei der Dauer: Winzige Fledermäuse schlafen 20 Stunden am Tag, riesige Giraffen ganze vier, Faultiere 15 bis 20, das sind häufig zitierte Eckdaten, sie haben wenig Belang, sind oft an Tieren in Gefangenschaft erhoben, die sicher und wohl versorgt sind: In der Natur schlafen Faultiere nur 9,6 Stunden, man bemerkte es spät. Noch weniger weiß man über die Qualität des Schlafs, seine Architektur; für die Details braucht man EEGs.
Immerhin, Samson hat sieben Monate lang seine Nächte zu Tagen gemacht und den Schlaf von Orang-Utans im Zoo von Indianapolis protokolliert: Sie schlafen etwas länger als wir, verbringen aber nur zwölf Prozent der Zeit in REM, bei uns sind es 22, es folgen Makaken mit etwas über und Schimpansen mit etwas unter 20.
Das ist das Fundament, auf ihm türmen Samson/Nunn ein luftiges Gerüst: Warum schlafen Menschen nicht mehr oben? Es liege an ihrer Körpergröße, sie habe die Gefahr des Herabfallens erhöht! Aber Orang-Utans sind auch nicht schmal, sie schlafen immer oben. Andere hingegen halten es wie wir, manche Schimpansen bleiben unten, Kathelijne Koop (Cambridge) bemerkte es (American Journal of Physical Anthropology 148, S. 351). Aber wir sind doch die Meister des REM!? Unter Primaten vielleicht, sonst bei Weitem nicht, das Schnabeltier weist über 50 Prozent REM auf, sonderlich klug ist es davon nicht geworden, merkt Schlafforscher Jerome Siegel (UC Los Angeles) in den „New York Times“ zu Samson/Nunn an.
Kommt hinzu, dass der Entschluss zum Hinabsteigen vor der Tat fallen musste: also oben. Kommt noch hinzu, zentral, dass es den Schlaf des Menschen nicht gibt: Nur wir schlafen acht Stunden am Stück, auch das nur im mittleren Alter, Spanier teilen den Schlaf in zwei Phasen – Siesta –, Japaner in viele, Nickerchen am Tag, wo und wann immer möglich. Leonardo da Vinci versuchte noch eine Variante – alle vier Stunden eine Viertelstunde –, ihm folgte keiner. Wie auch immer: Die Hypothese hat Charme, aber um das Wesen des tiefen dunklen Schlafs weiß man so wenig in Ost und West, dass man sie am besten überschläft, in aller Ruhe.
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
Sonntag, 31. Januar 2016
Samstag, 30. Januar 2016
Nicht Benjamin Libet wurde widerlegt, sondern seine tendenziösen Interpreten.
Unter der Überschrift Endlich befreit! berichtet Joachim Müller-Jung in der heutigen FAZ über die Versuche, die der Hirnforscher John-Dylan Haynes unlängst an der Berliner Charité durchgeführt hat. "Die Libet-Experimente sind obsolet", zitiert er den Forscher.
Dies hatten die Experimete von Bejamin Libet seinerzeit ergeben: "Gut eine Sekunde, bevor Probanden sich bewusst entschlossen, ihre Hand zu bewegen, war in den Hirnstromkurven das 'Bereitschaftspotential' dafür schon zu finden." Hirnforscher aus der ganzen Welt hatten daraus eilig gefolgert, der Wille des Menschen sei doch nicht frei, weil das Gehirn seine Entscheidungen längst getroffen habe, bevor das Bewusstsein davon etwas weiß.
Das habe Haynes nun widerlegt: "Das gemessene 'Bereitschaftspotential' sei jedenfalls kein Beweis dafür, dass der Mensch seine Entscheidungen durch das Gehirn diktiert bekommt. "Diesen Determinismus gibt es nicht."
"Der Hirnforscher, der am Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité seit Jahren mit allen möglichen bildgebenden und elektrophysiologischen Verfahren in die Entscheidungszentren unseres Gehirns zu blicken versucht, hat schon viele "vorbereitende Hirnwellen" identifiziert. Tatsächlich hinterlassen viele Handlungen mitunter zehn Sekunden vor der Entscheidung des bewussten Ichs eine elektrische Spur in bestimmten Hirnarealen.
Der entscheidende Punkt aber ist: Nichts spricht bisher dafür, dass diese Hirnströme das Handeln steuern, dass unser freie Wille eine Illusion ist. In den jüngsten Experimenten, seinen, wie Haynes sagt, 'wichtigsten Versuchen der letzten dreißig Jahre', hat er zusammen mit Benjamin Blankertz und Matthias Schulze-Kraft von der TU Berlin gezeigt: Das ominöse Bereitschaftspotential kann quasi überstimmt werden, die vermeintlich vorbestimmte Handlung noch willentlich und aktiv gestoppt werden."
Endlich befreit soll eben heißen: Endlich befreit von Benjamin Libets Experiment. Davon kann nun aber keine Rede sein. Libet hatte nur das Bereitschaftspotenzial experimentell nachgewiesen. Deterministische Schlussfolgerungen hat er selber gar nicht daraus gezogen, sondern hat im Gegenteil vermutet, in der kurzen Spanne wischen dem Auftreten des Bereitschftspotenzials und der bewussten Entscheidung habe das Gehirn 'die Freiheit, nein zu sagen'. Aber beweisen konnte er das in seiner Versuchsandordnung nicht. Das hat John-Dylan Haynes nun, nach gut fünfunddreißig Jahren, nachgeholt. Löblich, dass die FAZ davon berichtet. Gar nicht löblich ist, dass sie an Stelle einer alten Legende eine neue Legende setzt. Nicht Benjamin Libet ist widerlegt, sondern die voreiligen Interpreten seiner bis heute gültigen Experimente.
Donnerstag, 28. Januar 2016
Psychopathie.
aus scinexx
Psychopathen: Testosteron macht es schlimmer
Gestörte Verbindung: Bei Psychopathen ist die Verbindung zwischen dem Kontrollzentrum im Stirnhirn und dem Gefühlszentrum gestört, wie ein Experiment nun nahelegt. Das erklärt, warum diese Menschen zwar kein Mitgefühl empfinden, aber durchaus Wutanfälle und andere Gefühlsausbrüche bekommen können. Interessant auch: Das Geschlechtshormon Testosteron scheint die Störung dieser Kontrolle sogar noch zu verschlechtern.
Sie gelten als gefühlskalt und berechnend: Psychopathen empfinden gängiger Ansicht nach selbst kaum Emotionen und sind unfähig, mit anderen mitzufühlen. Ihre verringerte Fähigkeit zur Empathie verrät sich unter anderem daran, dass sie seltener vom Gähnen anderer angesteckt werden und auch ihre Spiegelneuronen
Woher kommen die Ausbrüche?
Doch wie sich zeigt, macht nicht nur die vermeintliche Gefühlskälte Psychopathen besonders häufig zu Mördern oder Totschlägern – es sind im Gegenteil zu viele Emotionen. Denn diese Menschen fühlen durchaus Wut oder Angst, es fehlt aber die Kontrolle und Dosierung. Als Folge rasten sie im falschen Moment aus.
Warum das so ist, haben nun Karin Roelofs von der Radboud Universität und ihre Kollegen in einem Experiment näher untersucht. Ihr Verdacht: Bei Psychopathen könnte die Verbindung von präfrontalem Cortex und dem Gefühlszentrum, der Amygdala gestört sein. Denn normalerweise sorgt diese Verschaltung dafür, dass unser rationales Entscheidungszentrum im Stirnhirn die Gefühlsausbrüche der Amygdala mäßigt.
Um das zu überprüfen, führten die Forscher ein Experiment mit 15 kriminellen Psychopathen durch, die in einer forensischen Psychiatrie einsitzen. Die Probanden erhielten einen Joystick und ihnen wurden Bilder von fröhlichen oder wütenden Gesichtern gezeigt, während ihre Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografen gemessen wurde.
Die Amygdala ist ein Zentrum für die Gefühlsverarbeitung im Gehirn
Verbindung gestört
Der Clou daran: Bei solchen Bildern besteht die unbewusste Tendenz, den Joystick bei fröhlichen Gesichtern zu sich und bei wütenden von sich weg zu ziehen, wie die Forscher erklären. Im ersten Durchgang ermittelten sie die Reaktionszeit für diese unbewusste Reaktion. Im zweiten Test bekamen die Probanden die Aufgabe, den Joystick bewusst gegen den Reflex zu bewegen - also zu sich hin beim wütenden Gesicht und von sich weg beim fröhlichen.
Das Ergebnis: "Bei den Psychopathen haben wir signifikant weniger Aktivität zwischen dem präfrontalen Cortex und der Amygdala beobachtet als bei gesunden Kontrollprobanden", berichtet Roelofs. "Bei ihnen gibt es offensichtlich weniger Kommunikation zwischen den Kontroll- und Emotionszentren." Diese mangelnde Verbindung könnte die impulsiven Gefühlsausbrüche von Psychopathen erklären.
Testosteron wirkt mit
Aber das Experiment zeigte noch etwas: Je mehr Testosteron das Blut der psychopathischen Probanden enthielt, desto ausgeprägter war die Verbindungsstörung in ihrem Gehirn. Das männliche Geschlechtshormon scheint demnach zu beeinflussen, wie stark ein Psychopath unter unkontrollierten Gefühlsausbrüchen leidet.
"Dieser neuro-hormonelle Zusammenhang unterstreicht, wie wichtig es ist, den Testosteronspiegel von psychopathischen Patienten oder Straftätern zu bestimmen", betonen die Forscher. Denn er gebe einen Hinweis darauf, wie gravierend die Störung sei und auch, welche Behandlung erfolgversprechend sein könnte.
Auf Basis dieser Erkenntnis könnte es sogar sein, dass das Risiko für Wutanfälle und Ausraster sich über eine Hormontherapie vermindern ließe. Denn wenn man den Spiegel des Geschlechtshormons absenkt, dann verbessert sich offenbar auch die regulierende Verbindung zwischen Stirnhirn und Amygdala wieder. Ob und wie das funktionieren könnte, muss jedoch noch untersucht werden. (eNeuro, 2016; doi: 10.1523/ENEURO.0107-15.2016)
(Radboud University, 22.01.2016 - NPO)
Montag, 11. Januar 2016
Semantisches und episodisches Gedächtnis.
aus derStandard.at, 6. Jänner 2016, 05:30
Das Gehirn hat weit schnelleren Zugriff auf Erinnerungen als gedacht
Statt der biblischen Zeitspanne von etwa einer halben Sekunde reichen schon 100 bis 200 Millisekunden
Bochum – Erinnerungen an Erlebtes kann das Gehirn offenbar weit schneller abrufen als bisher angenommen: Die sensorischen Hirnbereiche werden binnen 100 bis 200 Millisekunden aktiv, berichten Neurowissenschafter der Universitäten Konstanz und Birmingham nach einer Reihe von Experimenten im "Journal of Neuroscience".
Hintergrund
Bei Erinnerungen an Erlebtes sind im Gehirn zum großen Teil dieselben Areale aktiv wie beim Abspeichern dieser Erlebnisse. Jede episodische Erinnerung ist einzigartig und an einen bestimmten Ort und Zeitpunkt gebunden. Im Erinnerungsprozess werden die Sinnesinformationen reaktiviert – also zum Beispiel Areale des Sehsinns wieder aktiv. Angenommen wurde, dass das Gehirn länger nach Erinnerungen im Hippocampus suchen müsse.
"Wir gingen bisher von etwa einer halben Sekunde aus. Das ist in den Dimensionen der Gehirntätigkeit sehr lang", sagte Gerd Waldhauser, der inzwischen an der Ruhr-Universität Bochum forscht. Doch er kam mit seinen Kollegen auf ein Fünftel bis weniger als die Hälfte.
Die Untersuchung
Die Wissenschafter baten Probanden zunächst, sich bestimmte Objekte möglichst genau einzuprägen. Später wurden die Erinnerungen wieder abgefragt. Als Analysemethode wurde die Elektroenzephalografie (EEG) verwendet, bei der aus Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche mit hoher zeitlicher Auflösung auf die Aktivität einzelner Hirnbereiche geschlossen werden kann. "Man hat gedacht, dass das Gehirn eine Weile braucht, um im Hippocampus – einer wichtigen Region für das Langzeitgedächtnis – danach zu suchen", erklärte Simon Hanslmayr von der Universität Birmingham. "Unsere Ergebnisse rütteln an dieser Vorstellung, denn sie zeigen eine sehr schnelle Reaktion des Gehirns." Erste Hinweise darauf hätten zuvor bereits andere Studien ergeben.
Episodisches und semantisches Gedächtnis
Gerade diese frühen [?] Prozesse seien entscheidend für das erfolgreiche Erinnern an ein Geschehen, fanden die Forscher zudem heraus. Hemmten sie die frühe Reaktivierung mit sogenannter transkranieller Magnetstimulation (rTMS), störte das den Abruf der Erinnerungen. "Die Ergebnisse helfen uns, das episodische Gedächtnis, also die Erinnerung an Erlebnisse des Menschen, besser zu verstehen", erklärte Waldhauser. Im Unterschied dazu speichert das semantische Gedächtnis Fakten* – wie zum Beispiel, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist.
Einen Nutzen könne möglicherweise die Psychiatrie haben, so die Forscher. "Es wäre hilfreich, in den Abruf von Erinnerungen eingreifen zu können, zum Beispiel bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die von wiederkehrenden unerwünschten Erinnerungen geplagt werden", so Waldhauser. Womöglich könne man in Zukunft einmal gezielt gegen diese immer wieder auftretenden Bilder vorgehen – allerdings seien zunächst weitere Studien nötig. (APA, red.)
Link
Journal of Neuroscience
*Nota. - Semantisch heißt dieser Teil des Gedächtnisses, weil darin Zeichen - gr. semai - gespeichert sind; nein, eben nicht die Zeichen, sondern ihre Bedeutung, die freilich nur durch Zeichen im Gedächtnis ver-zeichnet werden können. Die Bedeutungen sind ohne Raum und Zeit. Der Weg zu ihnen muss im Gedächt-nis über verwandte Bedeutungen gesucht werden, während die Erinnerungen des episodischen Gedächtnis über ähnliche Bilder aufgefunden werden.
JE
Sonntag, 10. Januar 2016
Begriffe vor der Sprache?
aus Die Presse, Wien, 9. 1. 2016
Die universellen Begriffe der Menschen im Gehirn
Es gibt Tausende Sprachen. Jede kennt Begriffe, die für die Kommunikation und die evolutionäre Entwicklung des Denkens essenziell sind. Eine Datenbankenanalyse zeigt, wo diese im Gehirn abgespeichert sind.
Mama, Papa, oben, unten, eins, zwei, vier, wenige, viele, ich, mich, du, dich sind Begriffe, die in allen Sprachen der Menschen vorkommen. Nicht immer steht ein Wort oder ein Laut für einen Begriff. In manchen Sprachen braucht es Wortkombinationen, um diese Begriffe auszudrücken. Dennoch gibt es in Tausenden untersuchten Sprachen etwa 60 Bezeichnungen, die überall vorkommen. Es handelt sich hier um die wichtigsten Ausdrücke der Kommunikation.
Das bedeutet zudem, dass es Sprachfunktionen gibt, die für jeden Menschen auf der Welt, an jedem Ort und zu jeder Zeit essenziell sind, waren und sein werden: „Schon vor Tausenden Jahren war und in Tausenden Jahren wird die kleine Liste aus etwa 60 Begriffen für die Menschen relevant sein“, sagt Guilherme M. de O. Wood, Neuropsychologe der Karl-Franzens-Universität Graz. In dem von der Uni Graz finanzierten, unkonventionellen Forschungsprojekt „Genetische und evolutionäre Aspekte des Denkens“ will er gemeinsam mit seinem holländischen Mitarbeiter Jan Willem Koten herausfinden, wo diese Begriffe im Gehirn neuronal vernetzt sind.
Begriffe fördern das Denken
Das sei wichtig, da diese Begriffe das Denken erst möglich machten. Diese seien womöglich schon vor der Entwicklung von Sprachen da gewesen. Das habe der Menschheit in der Evolution einen Vorteil gebracht: Sobald diese Begriffe ausgedrückt werden konnten, vermittelten Menschen Zusammenhänge, Verhältnisse und komplexe Sachverhalte. Das habe die Möglichkeit eröffnet, sich in Gesellschaften zu organisieren sowie genau und effizient Informationen auszutauschen: „Ohne diese Begriffe wäre die Kommunikation ineffizient, ohne diese Begriffe gäbe es keine relevante Botschaft“, sagt der Projektleiter Wood. Das hieße zudem, dass die Menschen weltweit und zu allen Zeiten irgendwie miteinander verbunden waren.
Die Forscher untersuchen nun die genetische Korrelation. Dazu müssen sie wissen, um welche Gene es sich handelt, denn eine gewisse Anzahl von Genen muss sich daran beteiligt haben, wenn sich diese Begriffe konsistent über Zeit und Raum sowie in alten und modernen Kulturen in „unseren“ Köpfen eingemeißelt haben. Die Forscher wollen wissen, welche Netzwerke geschaltet werden, welche Grundgesamtheit an Gehirnregionen aktiviert werden, wenn die Begriffe verwendet werden. Am Ende sollen Grundkategorien beim Denken gefunden werden, die universell für alle Menschen sind.
Schon René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz diskutierten darüber, ob es in der Philosophie und Metaphysik universelle Begriffe braucht und gibt. Darüber wird noch heute gestritten. Wood will nun erstmals empirische Daten für die Philosophen liefern.
Dazu analysiert er riesige Datenbanken. Erstens durchsucht er die Literatur, wo Kernbegriffe vorkommen. Zweitens speist er bereits abgedruckte Gehirnbilder in einen Computer ein, der dann betroffene Regionen herausfiltert.
Eine molekulare Datenbank aus den USA liefert ihm drittens vergrößerte Aufnahmen, die das Gehirn in Gewebe auflöst, die DNA zählt und vergrößert und jedes Gen untersucht. Wood sieht sich viertens ein Zwillingsregister aus Holland an, das Genome, Gehirnstrukturen und EEG-Daten Zehntausender Zwillinge gespeichert hat. Der Vergleich aller Daten ist der letzte Schritt des Projektes, das noch zwei Jahre lang läuft. (por)
Nota. - Die faktische Universalität einzelner Begriffe gibt nur Auskunft über deren Nützlichkeit im Verlauf der Gattungsevolution. Über deren "Wahrheit" sagt sie aber nichts. Eingeboren mögen sie sein, aber histo-risch zufällig sind sie doch.
Doch dass die Menschen zu allen Zeiten weltweit irgendwie miteinander verbunden waren, beweist sie schon gar nicht. Denn entweder könnten sie schon aus Afrika mitgebracht worden sein, oder es hätte, da sich die menschlichen Kooperationsweisen zunächst nicht wesentlich unterschieden, überall ähnliche 'Sachverhalte' geben können, die ähnlich abgebildet werden mussten; das hätte an allen Orten parallel geschehen können.
JE
Die universellen Begriffe der Menschen im Gehirn
Es gibt Tausende Sprachen. Jede kennt Begriffe, die für die Kommunikation und die evolutionäre Entwicklung des Denkens essenziell sind. Eine Datenbankenanalyse zeigt, wo diese im Gehirn abgespeichert sind.
Mama, Papa, oben, unten, eins, zwei, vier, wenige, viele, ich, mich, du, dich sind Begriffe, die in allen Sprachen der Menschen vorkommen. Nicht immer steht ein Wort oder ein Laut für einen Begriff. In manchen Sprachen braucht es Wortkombinationen, um diese Begriffe auszudrücken. Dennoch gibt es in Tausenden untersuchten Sprachen etwa 60 Bezeichnungen, die überall vorkommen. Es handelt sich hier um die wichtigsten Ausdrücke der Kommunikation.
Das bedeutet zudem, dass es Sprachfunktionen gibt, die für jeden Menschen auf der Welt, an jedem Ort und zu jeder Zeit essenziell sind, waren und sein werden: „Schon vor Tausenden Jahren war und in Tausenden Jahren wird die kleine Liste aus etwa 60 Begriffen für die Menschen relevant sein“, sagt Guilherme M. de O. Wood, Neuropsychologe der Karl-Franzens-Universität Graz. In dem von der Uni Graz finanzierten, unkonventionellen Forschungsprojekt „Genetische und evolutionäre Aspekte des Denkens“ will er gemeinsam mit seinem holländischen Mitarbeiter Jan Willem Koten herausfinden, wo diese Begriffe im Gehirn neuronal vernetzt sind.
Begriffe fördern das Denken
Das sei wichtig, da diese Begriffe das Denken erst möglich machten. Diese seien womöglich schon vor der Entwicklung von Sprachen da gewesen. Das habe der Menschheit in der Evolution einen Vorteil gebracht: Sobald diese Begriffe ausgedrückt werden konnten, vermittelten Menschen Zusammenhänge, Verhältnisse und komplexe Sachverhalte. Das habe die Möglichkeit eröffnet, sich in Gesellschaften zu organisieren sowie genau und effizient Informationen auszutauschen: „Ohne diese Begriffe wäre die Kommunikation ineffizient, ohne diese Begriffe gäbe es keine relevante Botschaft“, sagt der Projektleiter Wood. Das hieße zudem, dass die Menschen weltweit und zu allen Zeiten irgendwie miteinander verbunden waren.
Die Forscher untersuchen nun die genetische Korrelation. Dazu müssen sie wissen, um welche Gene es sich handelt, denn eine gewisse Anzahl von Genen muss sich daran beteiligt haben, wenn sich diese Begriffe konsistent über Zeit und Raum sowie in alten und modernen Kulturen in „unseren“ Köpfen eingemeißelt haben. Die Forscher wollen wissen, welche Netzwerke geschaltet werden, welche Grundgesamtheit an Gehirnregionen aktiviert werden, wenn die Begriffe verwendet werden. Am Ende sollen Grundkategorien beim Denken gefunden werden, die universell für alle Menschen sind.
Schon René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz diskutierten darüber, ob es in der Philosophie und Metaphysik universelle Begriffe braucht und gibt. Darüber wird noch heute gestritten. Wood will nun erstmals empirische Daten für die Philosophen liefern.
Dazu analysiert er riesige Datenbanken. Erstens durchsucht er die Literatur, wo Kernbegriffe vorkommen. Zweitens speist er bereits abgedruckte Gehirnbilder in einen Computer ein, der dann betroffene Regionen herausfiltert.
Eine molekulare Datenbank aus den USA liefert ihm drittens vergrößerte Aufnahmen, die das Gehirn in Gewebe auflöst, die DNA zählt und vergrößert und jedes Gen untersucht. Wood sieht sich viertens ein Zwillingsregister aus Holland an, das Genome, Gehirnstrukturen und EEG-Daten Zehntausender Zwillinge gespeichert hat. Der Vergleich aller Daten ist der letzte Schritt des Projektes, das noch zwei Jahre lang läuft. (por)
Nota. - Die faktische Universalität einzelner Begriffe gibt nur Auskunft über deren Nützlichkeit im Verlauf der Gattungsevolution. Über deren "Wahrheit" sagt sie aber nichts. Eingeboren mögen sie sein, aber histo-risch zufällig sind sie doch.
Doch dass die Menschen zu allen Zeiten weltweit irgendwie miteinander verbunden waren, beweist sie schon gar nicht. Denn entweder könnten sie schon aus Afrika mitgebracht worden sein, oder es hätte, da sich die menschlichen Kooperationsweisen zunächst nicht wesentlich unterschieden, überall ähnliche 'Sachverhalte' geben können, die ähnlich abgebildet werden mussten; das hätte an allen Orten parallel geschehen können.
JE
Montag, 4. Januar 2016
An der Grenze der Wissenschaftlichkeit: Biomedizin.
aus Die Presse, Wien, 5. 1. 2016
Wer hütet den Hort der Intransparenz? Die Biomedizin!
Ausgerechnet auf dem Feld, auf dem es um Leben und Tod geht – und um enorm viel Geld –, zeigen sich so frappante wie enorme Defizite der Forschungspraxis, sowohl bei Tierversuchen wie auch ganz generell. Das Journal „PLos Biology“ reagiert mit Erforschung der Forschung.
Von Jürgen Langenbach
Wenn etwas für Faktentreue, Transparenz und Nachvollziehbarkeit steht, dann ist das die Naturwissenschaft mit ihren Experimenten. Da liegt alles klar zutage, da spielen keine persönlichen Eigenheiten oder gar Interessen hinein – zum Beleg lässt man in manchen Labors noch das Individuum in weißen Kitteln verschwinden –, da wird jeder Schritt säuberlichst dokumentiert und der interessierten Öffentlichkeit oder zumindest den Fachkollegen zugänglich gemacht.
So weit das Bild, mit der Realität hat es wenig zu tun: Im Extrem werden Daten schlicht „fabriziert“, gern auch Fotos. Das sind dann die großen Betrugsfälle: Karl Illmensee erfand in den Achtzigern geklonte Mäuse, Jan Hendrik Schön ersann in den Neunzigern reihenweise Mirakel der Physik, der Südkoreaner Hwang übermittelte 2004 der Welt die Sensation, ihm seien embryonale Stammzellen des Menschen gelungen.
All das fiel irgendwann doch auf, die Korrekturkraft ist groß in den Naturwissenschaften. Aber die Verführungen und Zwänge sind es auch: 2005 fragte Nature die Biomediziner unter seinen Lesern, ob sie schon wissenschaftliches Fehlverhalten („miscoduct“) begangen haben, unter diesem Begriff wurden „Fabrizieren, Fälschen und Plagiieren“ zusammengefasst: 7,4 Prozent bekannten Plagiate, 5,3 Prozent hatten Unpassendes aus Publikationen gestrichen oder die Publikation gleich ganz unterlassen, 0,5 Prozent hatten etwas fabriziert (435, S. 737).
„Where have all the rodents gone?“
Das alles kam unter dem Druck des „publish or perish“ – „veröffentliche oder verrecke“ –, all das geschah aber auch unter zu wenig wachen Augen der Kollegen und Journal-Herausgeber. Die sind in der letzten Zeit vorsichtiger geworden, es gibt nun etwa Software zum Aufspüren von Plagiaten. Aber auch die kann nur sehen, was da ist. Und da ist etwa wieder in der Biomedizin bzw. bei ihren Tierversuchen so wenig, dass Ulrich Dirnagl (Charité Berlin) seinen jüngsten Befund nur mit Galgenhumor quittieren kann: „Where have all the rodents gone?“ (PLoS Biology 4. 1.). So betitelt Dirnagl eine Analyse von 100 Publikationen mit 521 Experimenten zu Hirnschlag und Krebs, durchgeführt an Mäusen. Oft werden sie in Paaren zu je acht getestet, die einen erhalten den Wirkstoff, die anderen dienen der Kontrolle.
Bei klinischen Tests an Menschen ist es im Grunde genauso, und dort ist es ganz selbstverständlich, dass die Zahl der Versuchsteilnehmer dokumentiert wird, bis zum Ende, es können Probanden ausfallen, im schlimmsten Fall durch Exitus. Bei Versuchsmäusen ist das alles andere als selbstverständlich: In zwei Drittel der von Dirnagl gesichteten Studien ist unklar, wie viele Tiere im Lauf des Experiments ausfielen/ausgeschieden wurden. Und schon der Ausfall eines einzigen Tiers kann das Ergebnis beeinflussen, zu falschen positiven Befunden führen.
Dirnagl rechnet es ausführlich vor und schließt, dass in Publikationen ohne ausgewiesene Tierzahlen „die Effekte (getesteter Substanzen) vermutlich überschätzt werden“. – Was Dirnagl im Einzelfall demonstriert, dem geht Johan Ioannidis (Stanford) seit Jahren systematisch nach. Er äußerte schon den Verdacht, dass die Mehrzahl der Befunde der Wissenschaften falsch ist (PLoS Medicine e124), er hat nun 441 biomedizinische Fachartikel von 2000 bis 2014 daraufhin angesehen, wie es um Transparenz und Reproduzierbarkeit bestellt ist: Nicht eine Publikation lieferte alle Daten, eine einzige hatte ein vollständiges Protokoll des Experiments.
Immerhin: Verbessert hat sich die Auskunft über mögliche Interessenkonflikte. Hinweise darauf – auf Geld der Pharmaindustrie etwa – sind häufiger geworden, finden sich aber just bei Beiträgen zur klinischen Medizin nur halb so oft wie andernorts.
Auch das steht in PLoS Biology, und die Herausgeber ergänzen in einem Editorial, dass es nicht nur um Moral geht – eine Schätzung beziffert den Schaden schleißiger Praxis in der Biomedizin auf 85 Prozent des investierten Geldes: 200 Milliarden Dollar weltweit pro anno – und führen ein neues Forschungsfeld ein, das den anderen auf die Finger bzw. Daten sieht: „Meta-Research“.
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