Samstag, 10. Februar 2018

Wozu der Sex in die Welt kam.

Rubens, Boreas entführt Oreithya
aus derStandard.at, 9. Februar 2018

Sex diente zunächst der Reparatur von genetischen Schäden
Wissenschafter präsentierten neue Theorie zur Entwicklung der geschlechtlichen Vermehrung

Wien/Göttingen – Die sexuelle Fortpflanzung hat zweifellos ihre Vorteile, sie ist allerdings auch ziemlich kompliziert und ressourcenraubend. Daher ist es bis heute nicht gänzlich geklärt, warum sich die meisten höheren Lebewesen auf diese Art vermehren. Eine Forschergruppe mit österreichischer Beteiligung hat nun eine neue These dazu vorgestellt: Sex könnte demnach ursprünglich eine Maßnahme gegen Erbgut-Schäden gewesen sein.

Worin sich der evolutionäre Siegeszug dieses komplexen und damit auch fehleranfälligen biologischen Vorganges tatsächlich begründet, ist eine oftmals diskutierte Forschungsfrage. Die aus Österreich stammende Biologin Elvira Hörandl von der Universität Göttingen und ihr Kollege Dave Speijer von der Universität Amsterdam setzten in ihrer Untersuchung vor rund zwei Milliarden an. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt entstanden erste Lebewesen mit Zellkern (Eukaryonten).

Waffe gegen Sauerstoffradikale

Damals – so vermuten Wissenschafter – vereinigten sich zwei unterschiedliche Einzeller. Aus einem wurde das Mitochondrium, das seitdem in der Zelle für die Energiezufuhr verantwortlich zeichnet. Das tut es, indem es die Sauerstoffatmung in die zelluläre Wohngemeinschaft einbringt. Damit konnten die beiden in Symbiose vereinigten Einzeller zwar auf deutlich mehr Energie zurückgreifen, die Sauerstoffradikale, die dadurch in die Zelle gelangten, waren allerdings eine Gefahrenquelle, da sie das Erbgut schädigen können.

Gerade in Stresssituationen reichten dann die ursprünglichen Strategien zum Schutz der DNA oft nicht mehr aus, so die im Fachblatt "Proceedings of the Royal Society B" geäußerte Theorie von Hörandl und Speijer. Daher entstand schon in den ersten Eukaryonten die Meiose (Reduktions- und Rekombinationsteilung), bei der das Erbgut zweier Zellen und Zellkerne durchgemischt wird, als effizienter DNA-Reparaturmechanismus. "Sex ist also eine physiologische Notwendigkeit, als Folge eines sauerstoffbasierten Stoffwechsels bei allen höheren Organismen", sagte Hörandl.

In komplexen Organismen nahm Sex dann seine Rolle als genetischer Erneuerungsprozess ein, mit dem auch Mutationen gezielt eliminieren werden können. Ihre Hypothese sieht Hörandl durch "zahlreiche genomische, karyologische und biochemische Untersuchungen der vergangenen Jahre unterstützt". (APA)


Abstract
Proceedings of the Royal Society B: "How oxygen gave rise to eukaryotic sex."



Courbet, L'origine du monde
aus Die Presse, Wien, 8.02.2018

Noch ein Anlauf zur Lösung eines der größten Rätsel: Wozu Sex?
Geschlechtliche Reproduktion ist erklärungsbedürftig, weil sich in ihr nur die Hälfte der Population vermehrt. Aber erklärt ist sie trotz vieler Hypothesen bisher nicht. Nun kommt eine neue: Sex soll verhindern, dass Zellen durch ihre eigenen Energiezentren geschädigt werden.
Wozu sind die Männer da? Man weiß es nicht. Aber irgendeinen Grund muss es schon geben, einen starken. Denn 99 Prozent aller Tiere reproduzieren sich sexuell, obwohl das den einfachsten Gesetzen der Mathematik widerspricht, und denen der Biologie auch. In der geht es um eine möglichst hohe Zahl von Nachkommen, und die würde erreicht, wenn jedes Individuum sich fortpflanzt. Beim Sex tut das aber nur die weibliche Hälfte der Population, die männliche assistiert, und der halbe Nachwuchs ist wieder männlich, der Theoretische Biologe John Maynard Smith nannte das 1971 die „zweifachen Kosten von Sex“. Die hatten hundert Jahre früher schon einen anderen geplagt: „Über den Grund der Sexualität haben wir nicht einmal das geringste Wissen“, bedauerte Darwin 1862, „das ganze Gebiet ist noch in Dunkelheit verborgen.“

Daran hat sich wenig geändert, es gibt nur Hypothesen, sie sind Legion, wurden aber von John Logsdon (University of Iowa) in drei Gruppen gegliedert: „the good, the bad and the ugly“. Das „Gute“ am Sex könnte darin liegen, dass die Gene neu gemischt werden – erst und vor allem in der Entstehung der Keimzellen (Eizellen und Spermien) und dann noch einmal in ihrer Vereinigung –, so wird eine bessere Anpassung an sich wandelnde Umwelten möglich. Alternativ könnte Sex das „Böse“ abwehren, gefährliche Mutationen wieder aus dem Genpool hinaus schaffen. Das „Hässliche“ schließlich bezieht sich auf Bedrohungen von außen, durch das ganze Heer der Parasiten, die mit immer neuen Genkombinationen in Schach gehalten werden müssen.

Ganz befriedigen kann keine der Alternativen, deshalb versuchen Elvira Hörandl (Göttingen) und Dave Speijer (Amsterdam) einen neuen Zugang. Sie finden ihn früh in der Geschichte des Lebens: Vor etwa zwei Milliarden Jahren nahm ein Einzeller einen anderen in sich auf, sie taten sich zusammen und teilten die Arbeit so, dass der Aufgenommene zur Energiezentrale wurde, zum Mitochondrium. Das steigerte die Energieversorgung, das legte auch die Grundlage für Mehrzeller. Aber das brachte auch eine neue Gefahr: In den Energiezentralen wird Sauerstoff verarbeitet, dadurch fallen Sauerstoffradikale an, das sind hoch reaktive Moleküle, die Gene schädigen und Mutationen in sie hinein bringen können.

Mutationen aus dem Genpool schaffen

Die dürfen sich nicht über Generationen akkumulieren, deshalb wird zwischen ihnen die normale Zellteilung („Mitose“) durch die abgelöst, in der die Keimzellen gebildet werden („Meiose“) und deren Durcheinanderwürfeln der Gene die Mutationen wieder aus dem Genpool schafft: „Sex ist also eine physiologische Notwendigkeit, als Folge eines sauerstoffbasierten Stoffwechsels bei allen höheren Organismen“, schließen die Forscher (Proc. Roy. Soc. B 7. 2.).

Aber in diesem Schluss stimmt etwas nicht: Es reproduzieren sich eben nicht alle sexuell, sondern nur 99 Prozent. Zum Rest gehören etwa die bdelloiden Rotiferen der Rädertierchen. Sie gelten als „Skandal der Evolution“, weil sie sich seit 80 Millionen Jahren ohne Sex vermehren und immer noch gedeihen. Und vor etwas über 20 Jahren tauchte ein noch spukhafteres Lebewesen auf, der Marmorkrebs, der in seinem lateinischen Namen – Procambarus virginalis – zeigt, dass er sich asexuell vermehrt, durch Parthenogenese: Jungfernzeugung.

Wie und wo er in die Welt kam, ist nicht recht klar, aber Genanalysen zeigen nun, dass ihm eine eigentümliche Kreuzung zweier Everglades-Sumpfkrebse drei Chromosomensätze beschert hat (Nature Ecology & Evolution 5. 2.). In denen steckt offenbar so hohe Vielfalt, dass der Marmorkrebs sich zu Millionen in ganz Europa und halb Afrika ausgebreitet, an die unterschiedlichsten Lebensräume angepasst und alle dort heimischen sexuellen Krebse verdrängt hat. Und das, obwohl die Marmorkrebse alle Klone sind: identische Genome haben.

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