Dienstag, 23. Februar 2016

Ungeduldig und kurzlebig.



aus Die Presse, Wien, 23.02.2016

Kurzes Leben, kurze Geduld, aber wie herum?
Es gibt eine Korrelation zwischen der Länge der Telomere, die vermutlich bei der des Lebens mitspielen, und der des Geduldsfadens. Man weiß nur nicht, was Ursache ist und was Wirkung.

von Jürgen Langenbach

Ob im Supermarkt oder in der U-Bahn beim Aussteigen: Oft kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Ungeduld der Menschen mit ihrem Alter wächst. Das ist natürlich eine ganz unsystematische private Beobachtung, „anecdotal evidence“. Immerhin, die TV-Werbung hat es aufgenommen, jene für ein elektronisches Zahlungsmittel: Mit der Chipkarte in der Hand wippt an einer Kasse eine alte Dame immer drängender von einem Fuß auf den anderen, weil der junge Mann vor ihr so endlos mit dem Bargeld braucht.

Das ist natürlich eine Persiflage. Aber irgendwie haben Alter und Geduld doch etwas miteinander zu tun, und zwar ganz tief in der Biologie: in den Telomeren. Das sind die Endstücke der Chromosomen, man kann sie sich wie die Kappen an den Ende von Schnürsenkeln vorstellen.

Bei den Chromosomen schützen sie die Enden nicht nur, sie bestimmen auch ihre Lebensdauer bzw. die der jeweiligen Zelle: Bei jeder Zellteilung werden sie ein wenig kürzer, und wenn sie einen Schwellenwert überschritten haben, teilt die Zelle sich nicht mehr, diese Uhr bietet wohl Schutz gegen das Anhäufen von zu vielen Mutationen. Telomere bestimmen also über die Lebensdauer von Zellen, und viele Forscher vermuten, dass sie auch bei der Lebensdauer ganzer Organismen tun. Umgekehrt ist der Zusammenhang gesicherter: Stress verkürzt Telomere, auch und vor allem ganz früher Stress, selbst der im Uterus.

Ab wann lieber die Taube auf dem Dach?

Und Richard Ebstein (Singapur) vermutet, dass kurze Telomere auch mit der kurzen Geduld zusammen-hängen, die man eben an älteren Menschen oft beobachtet und die leicht zu überhasteten Entscheidungen führt – ökonomischen etwa –, die die ergrauenden Gesellschaften in Probleme bringen könnte. Getestet hat er das an jungen Menschen, chinesischen Studenten seiner Universität. Bei ihnen hat er die Länge der Telomere gemessen – an weißen Blutzellen: Leukozyten-Telomer-Länge (LTL) –, dann hat er ihnen einen in der Psychologie gängigen Geduldstest vorgelegt, den des Delay Discounting.

Bei dem wird erhoben, wie hoch oder gering man die Zukunft schätzt: Man bekommt Geld angeboten, 100 Dollar sofort, oder in einem Monat etwas mehr, 101 etwa oder 110 oder 120. Der Schwellenwert, ab dem man lieber die Taube auf dem Dach wählt als den Spatz in der Hand, heißt „Minimales akzeptiertes Angebot“ (MAA), und wer einen hohen MAA hat – also einen hohen Anreiz braucht –, hat nicht nur wenig Geduld, sondern auch wenig Selbstdisziplin und eine ganze Reihe weiterer Eigenschaften, die das Leben schwer machen, bis hin zu Suchtgefahr und dem Risiko psychischer Leiden.

Der Zusammenhang zeigt sich klar – kurze Telomere, kurze Geduld –, ist bei Frauen stärker, vermutlich deshalb, weil sie stärker auf Stress reagieren, darauf deutet auch, dass ihr Geduldsfaden durch Hormone moduliert wird, die Stress bzw. seine Folgen dämpfen, Östrogen und Oxytocin (Pnas 22. 2.). Allerdings zeigte sich der Zusammenhang eben als Korrelation: Es ist ganz unklar, ob kurze Telomere zu kurzer Geduld führen, oder ob umgekehrt der Stress der Ungeduld die Telomere verkürzt.

Dass alles kausal von den Telomeren ausgeht, vermutete Melissa Bateson (Newcastle) in einer früheren Studie des gleichen Phänomens an ganz anderen Lebewesen, Staren: Wenn die unter hohem Stress aufwachsen und entsprechend kurze Telomere haben, entscheiden sie rasch – mit hohem Risiko –, sie müssen überleben, können sich Geduld und Sorgen um ferne Zukunft nicht leisten (Proc. Roy. Soc. B 282: 20142140). Ob das wirklich so ist und ob es auch bei Menschen so ist, muss Ebstein vorerst offen lassen.


Nota. - Es ist noch nicht lange her, da erkannte man einen aufgeklärten Menschen mit weitem Horizont daran, dass er in Sachen menschliches Verhalten den Grundsatz vertrat: alles erworben, alles erlernt, die Sozialisation ist an allem schuld. Inzwischen macht die ernüchterte Einsicht die Runde: Das ist die Berufsideologie des Pädagogenstandes; sie träumen von der Allmacht und wollen mehr Posten.

Und nun findet die Vorstellung Gehör, dass die Physiologie auch bei der Charakterbildung und dem Verhalten des Einzelnen ihre Finger im Spiel hat. Wenn's mal nur nicht wieder ins andere Exptrem umschlägt! Die Anlagen, die einer mitbringt, sind eins; was er dann daraus macht, ist ganz was anderes.
JE 

Montag, 15. Februar 2016

Gibt es von der Literatur eine Wissenschaft?

aus Tagesspiegel.de, 15. 2. 2016

Debatte um die Geisteswissenschaften
Wie wissenschaftlich ist die Literaturwissenschaft?
Sie edieren Texte, kommentieren und interpretieren. Eine illustre Germanisten-Runde in Berlin befand jetzt, schon das zeichne ihr Fach als wahre Wissenschaft aus.

Von 

Helle Aufregung: Wissenschaftler haben erstmals die von Albert Einstein nur theoretisch beschriebenen Gravitationswellen direkt beobachtet. Heureka! Als Literaturwissenschaftlerin beäugt man den Trubel ein bisschen skeptisch. So eine tolle Romananalyse kann man gar nicht schreiben, dass man damit auf die Seite eins einer Zeitung geriete. Naja, entgegnet der Forscher im weißen Kittel, derweil es im Reagenzglas anschaulich blubbert, ist das überhaupt richtige Wissenschaft, was ihr da macht – Bücher interpretieren?

Germanistengrüppchen. Das Format: Wie immer. Podiumsdiskussion. Der Ort: Kreuzberger Hinterhofschick. Eingeladen hatte die Indiana University, die in Berlin vor Kurzem ihren europäischen Ableger eröffnete. Die Gäste: Peter-André Alt (Präsident der Freien Universität), Eva Geulen (Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung), Ethel Matala de Mazza (Humboldt-Universität), Jutta Müller-Tamm (FU).

"Alles was wir tun, kann gelernt und gelehrt werden"

Die Leitfrage, worin eigentlich die „Wissenschaft der Literaturwissenschaft“ bestehe, zwang zum Konsens. Ist doch alles handfest, was wir machen, sagte Alt: Texte edieren, kommentieren, interpretieren. Literaturgeschichte untersuchen, Erzählperspektiven typologisieren. All das ergebe ein „verbindliches Propädeutikum“. Die Selbstreflexion, „Ethos“ des Faches, ermögliche es außerdem, das eigene methodische Vorgehen zu hinterfragen. Das betonte auch Geulen: Die Aufmerksamkeit für Texte und stichhaltige Argumente sei „eine Sache der Einübung. Alles, was wir tun, kann gelehrt und gelernt werden“. Die Quasi-Provokation von Alt, der fand, man solle die positivistischen Tendenzen des Faches nicht immer verleugnen, verpuffte etwas. Ein Positivismus, der à la 19. Jahrhundert wissenschaftliche Erkenntnisse in seinen kulturellen Trägern (Archivfunde!) materialisiert sehen will, ist einfach nicht mehr en vogue.

Die Kakaphonie der Meinungen ist kein Gegenbeweis

Allerdings wird die Wissenschaftlichkeit der Disziplin gerade deshalb gern infrage gestellt, weil ein modischer Methodenpluralismus herrsche. Wie soll man bei solch intellektueller Promiskuität zu validen Ergebnissen kommen? Ein Missverständnis, fand Matala de Mazza. Die „Kakophonie der Meinungen“ sei kein Beweis gegen, sondern für die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit: „Es gibt keine homogene Richtigkeit der Dinge. Es geht in unserem Fach um vieles, und dieses Viele kann nicht intellektuell monopolisiert werden.“ Im Übrigen, warf Geulen ein, solle man bloß nicht denken, in den Naturwissenschaften sei das anders: „Auch der Bienenforscher hat seine Idiosynkrasien.“

Was bewirkt der eigene Schreibstil der Interpreten?

Alle Forschungsfragen seien geprägt von „Denkstilen“, wie der Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck das genannt hat. Eine echte Herausforderung sei deswegen die Gegenwartsliteratur, sagte Müller-Tamm. Sie sei näher an uns dran als kanonisierte Autoren. „Verhindert oder ermöglicht der Präsenzcharakter dieser Literatur unsere Erkenntnis?“ In der Frage, ob die Literaturwissenschaftlerin selbst – ihr Erkenntnishorizont, ihr Schreibstil – eigentlich von ihrem untersuchten Gegenstand zu trennen sei, verhakte sich das Podium ein wenig. Ist Forschung noch reproduzierbar, wenn die Argumentation eines literaturwissenschaftlichen Textes mit seiner ästhetisch reizvollen Stilistik verschmilzt? Man schloss dann wieder auf die nötige Selbstreflexion zurück. „Wir müssen plausibel machen, welche Begriffe uns richtig erscheinen“, sagte Matala de Mazza. Alt fand, die Individualität des Stils sei auch Teil der „habituellen Positionierung“ im Forschungsfeld und komme in allen Fächern vor.

Mit auf dem Podium saß eine Handvoll Gewährsmänner: Kant, Hegel, Dilthey, Blumenberg, Szondi. Dass die Literaturwissenschaft auf Selbstbefragungsdiskurse mit Historisierung reagiert, ist freilich alles andere als unwissenschaftlich. Sondern nur eine andere Form der Relativitätstheorie.


Nota. - Das ist doch, mit Verlaub, läppisch. Dass sich Literaturkritik im weitesten Verständnis wissen-schaftlich, nämlich nach allgemeingültigen, überprüfbaren akademischen Standards betreiben lässt, welcher verständige Mensch wollte es bestreiten? Das war aber nicht die eingangs gestellte Frage. Die war: ob sie selber eine Wissenschaft ist. Das würde nicht nur bedeuten, dass sie in jedem ihrer einzelnen Schritte nicht nur nach Gründen fragt und in der Egel auch welche findet; sondern dass sie als Ganze begründet ist. 

Sie ist es natürlich, aber sie ist, im Einzelnen wie im Ganzen, in ästhetischen Urteilen begründet - und die haben die bemerkenswerte Eigenart, dass sie ihrerseits nicht begründbar sind. So dass jeder literatur- oder sonst kulturwissenschaftliche Streit jederzeit auf den Punkt stoßen kann, wo nur noch festzustellen bleibt: Du hast deine Meinung, ich hab meine Meinung.

Damit ist ja schon viel gewonnen, wenn das Wortgestrüpp auf die Meinungen zurückgeführt wird, in denen es - dieser Strauch hier, jener Strauch dort -  'gründet'. Das ist Kritik, und die öffnet Augen, Ohren und Ver-ständnis. Aber Wissenschaft in dem Sinne, dass die Kontroversen so entschieden werden könnten, dass eine Seite die andre überzeugt, indem sie das letzte Wort behält - nein, das ist sie nicht.
JE

Sonntag, 14. Februar 2016

Gedächtnis - Auf die richtige Menge kommt es an.

aus derStandard.at, 13. Februar 2016, 14:55

Wie das Gehirn das Speichern von Informationen kontrolliert
Neuronaler Schaltkreis aktiviert genau die richtige Anzahl an Zellen – Sind es zu viele, kann die Speicherung gestört werden

Genf – Die Fähigkeit unseres Gehirns, Erinnerungen zu speichern und abzurufen, ist immer noch nicht bis ins letzte Detail geklärt. Nun haben Wissenschafter der Universität Genf neue Aspekte dieser komplexen Mechanismen enthüllt: Die Forscher haben an Mäusen herausgefunden, wie das Gehirn genau die richtigen Nervenzellen aktiviert – und zwar keine zu viel.

Das Netzwerk von Zellen, das eine Erinnerung speichert, bezeichnen Hirnforscher als Engramm. Wie genau eine Erinnerung einem bestimmten Ensemble von Nervenzellen zugeordnet wird, ist eines der Rätsel, mit denen sich Gedächtnisforscher beschäftigen. Die Schweizer Wissenschafter entdeckten bei ihren Versuchen mit Mäusen einen Schaltkreis aus Nervenzellen, der die Größe eines Engramms kontrolliert, wie die Hochschule in Genf am Donnerstag mitteilte. Ihre Ergebnisse erscheinen im Fachjournal "Neuron".

Die Zahl muss stimmen

Das Ensemble aus Zellen, das einer Erinnerung entspricht, formiert sich beim Abspeichern. Es wird gefestigt, indem genau die richtige Anzahl von Zellen aktiviert wird. Sind dabei zu viele aktiv, kann die Speicherung von Informationen gestört sein. Indem die Wissenschafter gezielt Zellen im Hippocampus von Mäusen aktivierten, konnten sie zeigen, wie die Nervenzellen eines Engramms die umliegenden Neurone lahmlegen, und zwar indem sie unterdrückende Zellen aktivieren. Dadurch wird die Größe des Engramms und somit auch die Stabilität der Erinnerung kontrolliert.

Größere Engramme, bessere Erinnerungen?

Die Untersuchung habe ergeben, dass eine Erinnerung umso besser behalten werde, je größer das Engramm sei, erklärte der Studienleiter Pablo Mendez in der Mitteilung. "Das gilt aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Ist dieser überschritten, funktioniert die Erinnerung nicht mehr." Als nächstes möchten die Forschenden entschlüsseln, wie Erinnerungen genau funktionieren, also welche Zellen an welcher Erinnerung beteiligt sind und welche Neurone tatsächlich eine Erinnerung verschlüsseln. (APA, red)

Abstract
Neuron: "Hippocampal Somatostatin Interneurons Control the Size of Neuronal Memory Ensembles."


Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Samstag, 13. Februar 2016

Ernst Mach zum 100. Todestag.

aus Der Standard, Wien,13. Februar 2016

Einsteins österreichischer Seelenverwandter 
Einer der einflussreichsten Denker rund um 1900 starb vor hundert Jahren. 
Auch Albert Einstein verehrte ihn 

von Karl Sigmund 

Wien – Das Ende kam nicht unerwartet: "Seien Sie nicht zu sehr überrascht", hatte Ernst Mach seinem jungen Anhänger geschrieben, dem Physiker Friedrich Adler, "wenn Sie hören, ich hätte mich in das Nirwana zurückgezogen, wozu es ja eigentlich schon Zeit wäre." 

Auf dem Partezettel, den Mach eigenhändig verfasst hatte, stand: "Bei seinem Ausscheiden aus dem Leben grüßt Professor Ernst Mach alle, die ihn kannten, und bittet, ihm ein heiteres Andenken zu bewahren." Heiter hatte er sich auch bei seinem Abschied aus Wien von der Akademie der Wissenschaften abgemeldet: "Sollte dieser Brief mein letzter sein, so bitte ich nur anzunehmen, dass Charon, der alte Schalk, mich nach einer Station entführt hat, die noch nicht dem Welt-Post-Verein angehört." 

Die letzten drei Jahre hatte Mach in häuslicher Pflege bei seinem Sohn Ludwig in der Nähe Münchens verbracht. Mach starb am 19. Februar 1916, am Tag nach seinem 78. Geburtstag. Friedrich Adler veröffentlichte einen mehrseitigen Nachruf für die von seinem Vater Victor Adler herausgegebene "Arbeiter-Zeitung". Auch zahlreiche andere Zeitungen widmeten Machs Leben und Werk umfangreiche Betrachtungen. Sie verdrängten die üblichen Schlachtberichte von den ersten Seiten. Das Toben des Weltkriegs habe Ernst Mach in seiner Einsamkeit nur mehr ganz schwach vernommen, schrieb Friedrich Adler, "abseits von jener Welt, in der alle Furien der Barbarei entfesselt sind". 

Auch Albert Einstein – gleich alt wie sein Studienfreund Friedrich Adler – ließ es sich nicht nehmen, einen Nachruf auf Mach zu verfassen, und zwar für das Fachblatt "Die Naturwissenschaften". Einstein hatte nur wenige Monate zuvor sein Meisterwerk vollendet, die allgemeine Relativitätstheorie. Nun erklärte er, dass Mach "schon ein halbes Jahrhundert zuvor nicht weit davon entfernt gewesen war, eine allgemeine Relativitätstheorie zu fordern". Ja, Einstein schrieb: "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Mach auf die Relativitätstheorie gekommen wäre, als er jugendfrischen Geistes war." 

Besuch beim Hofrat 

Einstein hatte Mach ein einziges Mal getroffen. Das war im September 1910, als Einstein, soeben nach Prag an Machs ehemaliges Physikinstitut berufen, im zuständigen Wiener k. u. k. Ministerium vorsprach. Der junge Gelehrte, knappe dreißig und seit fünf Jahren in kometenhaftem Aufstieg begriffen, ließ es sich nicht nehmen, dem legendären alten Hofrat Mach einen Besuch abzustatten – und übrigens am selben Nachmittag auch Victor Adler, dem nicht minder berühmten Vater seines Freundes. 

Sowohl Einstein als auch Friedrich Adler waren weniger von den Entdeckungen des Experimentalphysikers Mach fasziniert als von dessen philosophischen Überlegungen, die um die Frage kreisten, was Physik denn eigentlich sei. Lange hatte Mach das Gefühl, "allein gegen den Strom zu schwimmen". Doch sein 1883 erschienenes Buch "Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt" bedeutete den Durchbruch für Machs antimetaphysische Wissenschaftsphilosophie. Naturgesetze sind nichts als umfassende, verdichtende Berichte von Tatsachen. Wissenschaft bezweckt die ökonomische Darstellung der Erfahrungen. 

1895 wurde Mach als Philosoph nach Wien berufen, obwohl er bestritt, ein Philosoph zu sein "oder auch nur heißen zu wollen". Er wolle keine neue Philosophie schaffen, erklärte er immer wieder, "sondern eine alte, abgestandene daraus entfernen". Vielen ging er darin zu weit. So waren Atome für Mach "bloße Gedankendinge", da nicht unmittelbar wahrnehmbar. 

Das stieß auf heftigen Widerspruch seines Wiener Kollegen Ludwig Boltzmann. Ihre "Atomdebatte" ging in die Wissenschaftsgeschichte ein. Eine der ersten Arbeiten Einsteins entschied diese Frage zugunsten Boltzmanns. Mach leistete zwar hinhaltenden Widerstand, aber Einstein gegenüber gab er zu, dass man von der Existenz von Atomen sprechen könne, solang es keine natürlichere denkökonomische Alternative gebe. Das klang nicht hundertprozentig überzeugt. 

Bei der Relativität jedoch standen Mach und Einstein Seite an Seite. Machs Untersuchung von Newtons Prinzipien hatte klargemacht, wie viel Metaphysik hinter den Begriffen von absolutem Raum und absoluter Zeit steckt. Solch eine leere Bühne für die Vorgänge dieser Welt ist grundsätzlich der Erfahrung nicht zugänglich. Häufig wies Einstein darauf hin, wie wichtig Machs Einsichten für ihn gewesen seien. 

Als ihn Einstein 1910 besuchte, lebte Mach zurückgezogen in Gersthof. Wenige Jahre nach seiner Berufung an die Universität Wien hatte er einen Schlaganfall erlitten, der ihn halbseitig lähmte. Geistig blieb er rege. Seine Schriften brachte er mit der linken Hand zu Papier, auf einer umgebauten Schreibmaschine. Und die Mathematik hinter Einsteins spezieller Relativitätstheorie ließ er sich von jüngeren Kollegen erklären. 

Geschwindigkeit spüren 

Grundlage der speziellen Relativitätstheorie war die Einsicht, dass physikalische Gesetze für Beobachter, die sich mit konstanter Geschwindigkeit zueinander bewegen, dieselbe Gestalt haben müssen. Ob einer ruht oder nicht, lässt sich nicht sagen. Keiner "spürt" seine Geschwindigkeit, solange sie unverändert bleibt. 

Doch wenn sich die Geschwindigkeit ändert, in Betrag oder Richtung, so spürt man die Beschleunigung als Trägheit oder Fliehkraft. Für Beobachter, die sich beschleunigt zueinander bewegen, ändern sich die physikalischen Gesetze. Wie, das sollte die allgemeine Relativitätstheorie klären. Dabei berief sich Einstein auf eine Idee, die er als "Mach'sches Prinzip" bezeichnete: Trägheits- und Fliehkräfte hängen von der Verteilung der Massen im Weltall ab. Die Kräfte, die bei Beschleunigungen auftreten, sind Gravitationskräfte. 

"Wenn meine allgemeine Relativitätstheorie stimmt", schrieb Einstein 1913 begeistert an Mach, "so erfahren Ihre genialen Untersuchungen über die Grundlagen der Mechanik eine glänzende Bestätigung." Einsteins Jubel war verfrüht – er musste noch zwei Jahre um die richtigen Gleichungen kämpfen -, aber er korrespondierte mit Mach und bedankte sich für dessen "freundliches Interesse". Die zwei Physiker-Philosophen verband eine Seelenverwandtschaft. 

Einsteins Zuneigung 

In Einsteins Nachruf spürt man diese Zuneigung: "Bei Mach war die unmittelbare Freude am Sehen und Begreifen so stark vorherrschend, dass er bis ins hohe Alter hinein mit den neugierigen Augen eines Kindes in die Welt guckte, um sich wunschlos am Verstehen der Zusammenhänge zu erfreuen." Umso schlimmer dann die Überraschung, als 1921, fünf Jahre nach Machs Tod, dessen lang erwarteter Band zur "Optik" erschien. Im Vorwort verwehrte sich Mach barsch dagegen, dass ihm "die Rolle eines Wegbereiters der Relativitätstheorie zugedacht wird". Diese Theorie werde "immer dogmatischer"; er bezweifle, dass sie in der Geschichte der Wissenschaft mehr als eine geistreiche Randbemerkung darstellen werde; und er lehne "mit Entschiedenheit ab, den Relativisten vorangestellt zu werden". 

Für Einstein, der gerade den Höhepunkt seines Ruhms erreicht hatte, musste das Vorwort, das Mach ihm quasi aus dem Grab oder besser Nirwana nachschickte, wie eine brüske Replik auf seinen Nachruf klingen. Zwar unterstrich Einstein weiterhin, wie sehr Mach ihn beeinflusst hatte, doch wies er zunehmend auf dessen "geniale Einseitigkeit" hin. "Guter Mechaniker, aber deplorabler Philosoph", entfuhr es ihm bei einem Vortrag in Paris. Sein Verdikt wäre nachsichtiger ausgefallen, hätte Einstein geahnt, dass es sich beim Mach'schen Vorwort um eine Fälschung handelte. Das wurde, Jahrzehnte nach Einsteins Tod, vom Wissenschaftshistoriker Gereon Wolters überzeugend nachgewiesen: Ludwig Mach, guter Sohn, aber deplorabler Physiker, hatte das Vorwort 1921 geschrieben und auf 1913 rückdatiert.

Karl Sigmund ist emeritierter Professor für Mathematik an der Universität Wien und Autor des Buches "Sie nannten sich Der Wiener Kreis" (Springer Spektrum 2015), das zum österreichischen Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt wurde.

Nota. - Was Karl Sigmund den Lesern des Wiener Standard nicht extra mitteilen musste: Ernst Machs Freund Victor Adler war der Gründer und langjährige Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokratie. Sein Sohn (und Einsteins Freund) Friedrich galt als eines der Häupter des Austromarxismus, der Marx unter Berufung auf Ernst Mach mit der Kant'schen Transzendentalphilosphie verbinden wollte. Zugleich war er der Frontmann des linken Parteiflügels und erschoss im besagten Jahr 1916 als Manifestation gegen die Unterstützung der Parteimehrheit für den Krieg den österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgk. 

Was aber auch den Wiener Zeitungslesern vielleicht nicht präsent ist: Es waren die Bemühungen der Austromarxisten um Friedrich Adler, die Lenin veranlassten, seine giftige Philippika Materialismus und Empiriokritizismus loszulassen, deren vornehmste Zielscheibe kein anderer als Ernst Mach war.
JE


Mittwoch, 10. Februar 2016

Verstehen Pferde menschlichen Gemütsausdruck?

aus scinexx

Pferde erkennen unseren Gesichtsausdruck
Erster Beleg für ein artübergreifendes Mimik-Verständnis auch beim Pferd
Auge in Auge: Pferde können erkennen, ob wir sie anlächeln oder grimmig dreinschauen. Diese Fähigkeit zum artübergreifenden Verstehen von Mimik belegt nun erstmals ein Experiment britischer Forscher. Sehen die Pferde das Foto eines wütenden Gesichts, reagieren sie prompt: Ihr Herzschlag beschleunigt sich und sie wenden den Kopf nach rechts ab – eine typische Reaktion der Huftiere auf negative Reize.

Unser Gesichtsausdruck verrät viel über unsere Stimmung – entsprechend genau achten wir auf die Mimik unserer Mitmenschen. Und auch die Mimik und Körpersprache unserer Haus- und Nutztiere haben wir im Laufe unserer Evolution gelernt, zu interpretieren. Aber wie ist es umgekehrt? Bisher weiß man nur von Hunden, dass sie nach ein wenig Training das Lächeln ihrer Besitzer von einem neutralen oder bösen Gesichtsausdruck unterscheiden können.

Fotostunde für Reitpferde

Ob jedoch Pferde ebenfalls dazu fähig sind, in unseren Gesichtern zu lesen, war bisher unbekannt. Deshalb haben Amy Smith und ihre Kolleginnen von der University of Sussex in Brighton dies in einem Experiment mit 28 Pferden aus verschiedenen Reitställen untersucht. Die Pferde wurden dafür am Führseil in die Reithalle geführt.

Dort zeigte man ihnen entweder ein Foto eines ihnen unbekannten lächelnden menschlichen Gesichts oder eines der gleichen Person mit grimmigem, zähnefletschenden Ausdruck. Die Wissenschaftlerinnen beobachteten die Reaktion der Pferde und maßen ihren Herzschlag. Sie konnten dabei nicht erkennen, welches Gesicht das Pferd gerade sah.

Das linke Auge ist für Gefahren

Das Ergebnis: "Die Reaktion auf die wütenden Gesichtsausdrücke waren besonders deutlich", berichtet Smith. "Es gab einen Anstieg des Pulses und die Pferde bewegten ihren Kopf, um die wütenden Gesichter mit ihrem linken Auge zu mustern." Ähnlich wie Hunde neigen Pferde dazu, negative, potenziell bedrohliche Reize verstärkt mit ihrem linken Auge zu beobachten. Die darüber aufgenommene Information gelangt direkt in die rechte Hirnhälfte und wird dort verarbeitet, wie die Forscherinnen erklären. Auf die freundlichen Gesichter reagierten die Pferde dagegen kaum.

"Eine Erklärung dafür könnte sein, dass es für Tiere wichtiger ist, potenzielle Bedrohungen in ihrer Umwelt zu erkennen", sagt Smith. "In diesem Zusammenhang ist das Erkennen von wütenden Gesichtern eine Art Warnsystem, das die Pferde darauf vorbereitet, negatives Verhalten von dem Menschen zu erwarten, wie beispielsweise ein grober Umgang."

Artübergreifendes Erkennen

Die Reaktion der Pferde belegt, dass diese Tiere auch über die Artgrenze hinaus Emotionen erkennen können, so die Forscherin. "Wir wissen schon seit langem, dass Pferde über ein komplexes Sozialverhalten verfügen", erklärt Smith. "Aber dies ist der erste Nachweis, dass sie auch zwischen positiven und negativen menschlichen Gesichtsausdrücken unterscheiden können." Dies sei auch deshalb beachtlich, weil die Morphologie der Gesichter von Mensch und Pferd ziemlich verschieden sei.

Warum die Pferde unsere Mimik verstehen, ist noch nicht eindeutig geklärt. Eine Möglichkeit wäre, dass Pferde von vornherein ein gutes Mimikverständnis für ihre Artgenossen besitzen und diese Fähigkeit dann bei ihrer Domestikation auf den Menschen übertragen haben. "Es kann aber auch sein, dass die Pferde im Laufe ihres Lebens und durch eigene Erfahrungen gelernt haben, die Gesichtsausdrücke des Menschen zu interpretieren", meint Seniorautorin Karen McComb. Bei Hunden ist bereits bekannt, dass solche Erfahrungen eine Rolle für die Mimikerkennung spielen. (Biology Letters, 2016; doi: 10.1098/rsbl.2015.0907)

(University of Sussex, 10.02.2016 - NPO)


Nota. - Verstehen Pferde unsern Gesichtsausdruck? Keiner, der je mit einem Pferd zu tun hatte, käme auf die Idee, dass es nicht so sein könnte. Was ist also der Informationswert dieser Forschung? 'Einen bösen Gesichtsausdruck interpretieren sie als Bedrohung.' Das wäre gewöhnliches Reiz-Reaktions-Lernen wie bei einer verstärkten Taube. Eine Meldung wäre, dass Pferde ein Lächeln als Freundlichkeit interpretieren; allerdings keine überraschende, weil wir das alle vermuten. 

Eine Nachricht wäre gewesen: Pferde verstehen unseren Gesichtsausdruck, weil sie sich in uns hineinver-setzen. Das wäre Perspektivwechsel und ein erster Funke von theory of mind. Auch das würden wir erwar-ten, aber das haben die Forscherinnen nicht einmal erfragt.
JE 




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Dienstag, 9. Februar 2016

Hunde geben Auskunft über unsere Intelligenz

aus scinexx

IQ-Test für Hunde
Die Intelligenz der Vierbeiner ist ähnlich strukturiert wie die unsrige
Vierbeiner im Test: Die Intelligenz von Hunden lässt sich wie die unsrige in einem IQ-Test vergleichen und messen. Das zeigt ein spezieller Intelligenztest für Hunde, den britische Forscher entwickelt haben. Wie sich zeigte, ergab die Anwendung dieses Tests bei Border-Collies durchaus Parallelen zum Menschen. Die Intelligenz der Hunde ist demnach ähnlich strukturiert wie die unsrige, so die Forscher im Fachmagazin "Intelligence".

Hunde haben sich schon in vielen Tests als relativ intelligent erweisen: Sie erkennen sich in einer Art Spiegeltest, sie folgen unseren Blicken und finden so Futter, erkennen unsere Gesichter auf Fotos und können zählen – wenn auch schlechter als Wölfe. In all diesen Tests geht es jedoch meist um die Frage, ob Hunde solche Aufgaben grundsätzlich beherrschen, nicht aber um die individuellen Unterschiede.

Hierarchische Intelligenz?

Um das zu ändern, haben Rosalind Arden von der London School of Economics und Mark Adams von der University of Edinburgh nun einen IQ-Test für Hunde entwickelt. Mit diesem wollten sie feststellen, wie die Intelligenz der Hunde innerhalb einer Rasse variiert und auch, ob dies ähnlich wie bei uns Menschen geschieht. 

"Beim Menschen sind kognitive Fähigkeiten wie die räumliche Orientierung, das Leseverständnis und das Zahlenverständnis positiv korreliert – eine Person, die in einem Gebiet überdurchschnittlich abschneidet, ist meist auch in den anderen gut", erklären die Forscher. Der gängigen Theorie nach liegt dies daran, dass die menschliche Intelligenz hierarchisch aufgebaut ist. Über allen in Tests abgefragten verschiedenen Manifestationen der Intelligenz steht demnach eine Art Grundintelligenz.

Navigation, Gestenverständnis und Zählen

Für den Hunde-IQ absolvierten 68 Border Collies drei verschiedene Arten von Aufgaben. Im ersten Test sollten sie möglichst schnell verschiedene Hindernisse umlaufen und überwinden, um an ihr Futter zu gelangen. Ein Labyrinth testete zudem ihre räumliche Orientierung. In der zweiten Aufgabe ging es darum festzustellen, wie gut und schnell die Hunde einer Zeigegeste zum Futter folgten. Im letzten Test sollten die Hunde abschätzen, welcher Futternapf besser gefüllt war und den volleren auswählen.

Das Ergebnis: "So wie Menschen beim IQ-Test unterschiedlich gut abschneiden, ist es auch bei Hunden der Fall", sagt Arden. Auch innerhalb einer Hunderasse gebe es messbare Unterschiede im IQ. Dabei schnitten die vierbeinigen Probanden, die die Aufgaben schnell bewältigten, meist auch richtiger ab als ihre zögerlicheren Artgenossen.

Übergeordnete Intelligenz auch bei Hunden

Aber nicht nur das: "Ein Hund, der schnell und akkurat in einem Test abschneidet, hat die Tendenz, auch in den anderen schnell und richtig zu liegen", berichten die Forscher. Sie schließen daraus, dass Hunde ähnlich wie wir Menschen eine übergeordnete, allgemeine Intelligenz besitzen. Sie führt dazu, dass ein Hund mit gute Fähigkeiten in einem Aufgabenbereich auch in den anderen besser abschneidet.

Interessant ist dies auch deshalb, weil Experimente zeigen, dass Hunde ihre Problemlöse-Fähigkeiten nicht so einfach von einer auf eine andere Aufgabe übertragen können wie wir es tun. Diese Form des mentalen Transfers fällt ihnen schwer. Daher spreche das gleichmäßige gute Abschneiden in verschiedenartigen Tests erst recht für eine übergeordnete, individuell unterschiedliche Intelligenz, so die Forscher.

"Nur der erste Schritt"

"Dies ist aber nur der erste Schritt", betont Adams. Denn er und seine Kollegin wollen die IQ-Tests für Hunde noch weiter ausbauen und durch weitere Aufgaben ergänzen. "Wir wollen einen IQ-Test für Hunde schaffen, der verlässlich und aussagekräftig ist und relativ schnell absolviert werden kann." 

Im Prototyp-Test hatten die Hunde eine Stunde Zeit, um alle Aufgaben zu absolvieren – das ist bereits relativ schnell gemessen an sonstigen Verhaltensstudien. "Hunde sind für diese Art der Forschung besonders gut geeignet", sagt Adams. "Denn sie sind willige Teilnehmer und scheinen Spaß an diesen Tests zu haben." (Intelligence, 2016; doi: 10.1016/j.intell.2016.01.008)

(London School of Economics (LSE), 09.02.2016 - NPO)


Nota. - Das ist nun gar nicht banal. Dass unsere Intelligenz "hierarchisch aufgebaut" ist, erfahren wir hier ganz nebenbei. Selbstverständlich ist es aber nicht. Bisher hieß es immer, dass die Leistungen, die in den IQ-Tests gemessen werden, rein pragmatisch danach ausgewählt und gewichtet würden, was im Alltags-verstand eben unter einem 'intelligenten Menschen' verstanden wird; eine wissenschaftliche Aussage dazu, 'was Intelligenz eigentlich ist', sei nicht impliziert.

Das müsste ja nun berichtigt und die IQ-Tests müssten wenigstens hinsichtlich der Gewichtung der einzelnen Leistungen neu erarbeitet werden, wenn es tatsächlich ein Grundvermögen gibt, von dem alle anderen mehr oder weniger direkt abstammen. Einer Definition dessen, 'was Intgelligenz ist', würde man dann doch einen Schritt näher kommen.
JE





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.