Samstag, 2. Mai 2015

Textur.

aus nzz.ch, 28.4.2015, 05:30 Uhr

Stichwort
«Text»

von Klaus Bartels

«Zwar ist's mit der Gedankenfabrik / wie mit einem Weber-Meisterstück, / wo ein Tritt tausend Fäden regt, / die Schifflein herüber hinüber schiessen, / die Fäden ungesehen fliessen, / ein Schlag tausend Verbindungen schlägt . . .» So empfiehlt Mephistopheles «in Fausts langem Kleide» dem schüchternen Erstsemester zunächst einmal das klassische Collegium Logicum mit seinem festen Gefüge von «vorausgeschickten» Prämissen und daraus «erschlossenen» Konklusionen. Wer heute diese Verse aus Johann Wolfgang von Goethes poetischem Studienführer vor Augen bekommt, könnte leicht meinen, sie deuteten auf ein allerjüngstes Collegium Neurophysiologicum mit seinem unentwirrbaren Gewebe von verzweigten Neuronen und «verbindenden» Synapsen.

Drei Kettfäden

Unsere «Gedankenfabrik» – eine klappernde, ratternde Weberwerkstatt, ein Text wie dieses «Stichwort» hier –, ein buntes Gewebe aus Kette und Schuss: Das handwerkliche Bild ist in der Spätantike aufgekommen und seither unter dem bildhaften Wort «Text» so selbstverständlich geworden, dass wir das Bild im Wort gar nicht mehr wahrnehmen, dass wir unter einem «Text» nichts weiter als eine Folge alphanumerischer Zeichen verstehen. So viele tausend Fäden ein Tritt da auch regt, so viele Verbindungen ein Schlag da auch schlägt: Zwischen den «Texten», die der Werbetexter für die neue Sommerkollektion textet, und ebendiesen «Textilien» schiesst in unserem Sprachzentrum kein flinkes Gedankenschifflein mehr hin und her.

Die drei reissfesten Kettfäden, die hier aus dem alten Latein über zwei, drei Jahrtausende bis in die neuen Sprachen durchlaufen, sind zunächst das Verb texere, «weben, flechten», mit dem Partizip Perfekt Passiv textus, «gewoben, geflochten», sodann das Substantiv textus mit dem lang auslautenden Genitiv textus, «Gewebe, Geflecht», das in unserem Euro-Wortschatz einzig noch in der vom Stofflichen aufs Sprachliche übertragenen Bedeutung fortlebt, und schliesslich das Adjektiv textilis, «gewoben, geflochten», dessen Neutrum Plural textilia zu unseren «Textilien» und in der Fachsprache der Branche zu einer Vielzahl von «Textil»-Komposita geführt hat.

Cicero und andere

Soweit wir sehen, hat im ersten vorchristlichen Jahrhundert der grosse Webermeister Marcus Tullius Cicero als Erster zunächst das Verb texere vereinzelt aufs Schreiben übertragen. Anders als eine gerichtliche oder politische Rede, bemerkt er in einem Freundesbrief, «pflegen wir Briefe mit alltäglichen Worten, in alltäglicher Sprache zu weben». Ein Jahrhundert später hat der Star-Rhetor Quintilian dann auch das Substantiv textus einmal auf den fortlaufenden «Text» eines Satzgefüges im Gegensatz zu seinem kunstvoll rhythmisierten Abschluss bezogen. Mehrfach und schon ganz geläufig erscheint die Übertragung in der spätantiken Zeitgeschichte des Ammianus Marcellinus. Einmal geht es da um eine niederträchtige Fälschung: Da wird der unverfängliche Wortlaut eines Empfehlungsschreibens bis auf die Unterschrift mit einem feuchten Schwämmchen ausgewischt und stattdessen ein hochverräterischer textus eingesetzt. Die wiederholte Wendung «Hier müssen wir wieder zum textus zurückkehren», mit der Ammianus Marcellinus sich von einer Abschweifung zum Hauptstrang der Darstellung zurückruft, wirft ein Licht auf den Vergleichspunkt: Es ist der fortlaufende, festgefügte Zusammenhang der Gedanken und Bezüge, der den Text zum «Text» gemacht hat.

Weber und Spinner

In den anderthalb Jahrtausenden seither ist alles Geschriebene zum «Text» geworden, und wie im Allgemeinen von der elektronischen Datenverarbeitung, so sprechen wir heute im Besonderen von einer elektronischen Textverarbeitung. Wer will, mag sich jetzt von der klappernden Tastatur nostalgisch an den klappernden, ratternden Webstuhl, von der unermüdlich hin und her laufenden Maus an jene «herüber hinüber» schiessenden Weberschifflein von Goethes Mephisto erinnern lassen. Aber jedenfalls können wir textenden Texter uns freuen, dass die Sprache mit ihrer so ungleichen, ungerechten Einschätzung des Spinners und seiner Spinnerei auf der einen und des Webers und seiner Weberei auf der anderen Seite uns doch den besseren Teil zugehalten hat.


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