Überraschung im Kleinhirn
Cerebellum kontrolliert viel mehr als nur unsere Bewegungen
Unterschätzte Hirnregion: Das Kleinhirn ist offenbar doch nicht nur für die Steuerung von Bewegungsabläufen zuständig. Stattdessen scheint dieser Teil des Gehirns entgegen bisheriger Annahme an so gut wie jeder höheren kognitiven Funktion beteiligt zu sein – von der Aufmerksam- keit bis hin zur Entscheidungsfindung. Demnach übernimmt das Kleinhirn für all diese Prozesse offenbar eine Art Qualitätskontrolle, wie Forscher im Fachmagazin "Neuron" berichten.
Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass das Kleinhirn vor allem eines tut: die Motorik steuern. Demnach ist dieser oberhalb des Nackens liegende, stark gefurchte Teil des Gehirns für die Planung und Feinabstimmung von Bewegungen sowie für das Erlernen neuer Bewegungsabläufe zuständig. Wer sich für diese Prozesse nicht interessierte, ließ die in der Fachsprache Cerebellum genannte Region bei der Forschung meist links liegen – ein Fehler?
Blick aufs vermeintliche Bewegungszentrum
In jüngster Zeit zeichnet sich ab, dass das Kleinhirn womöglich doch auch für zahlreiche nicht-motorische Funktionen eine Rolle spielt. Forscher um Scott Marek von der Washington University School of Medicine in St. Louis glauben nun sogar herausgefunden zu haben: Das Cerebellum ist an jeder höheren kognitiven Funktion beteiligt - von der Aufmerksamkeit, über das Gedächtnis bis hin zu Entscheidungsprozessen.
In jüngster Zeit zeichnet sich ab, dass das Kleinhirn womöglich doch auch für zahlreiche nicht-motorische Funktionen eine Rolle spielt. Forscher um Scott Marek von der Washington University School of Medicine in St. Louis glauben nun sogar herausgefunden zu haben: Das Cerebellum ist an jeder höheren kognitiven Funktion beteiligt - von der Aufmerksamkeit, über das Gedächtnis bis hin zu Entscheidungsprozessen.
Für ihre Studie griffen die Wissenschaftler auf Gehirnscans von Kollegen zurück, die sich selbst zu Forschungsobjekten gemacht und sich regelmäßig in den Magnetresonanztomografen gelegt hatten. Jeweils über zehn Stunden Scanmaterial standen ihnen von insgesamt zehn Personen zur Verfügung – genug, um sich das Cerebellum genauer anzusehen. Vom gut erforschten Cortex ist bekannt, dass er über Schaltkreise verfügt, die unterschiedliche Hirnregionen zu funktionellen Netzwerken verknüpfen: Würden sich ähnliche Netzwerke auch im Kleinhirn finden lassen?
80 Prozent für höhere Funktionen
Die Auswertung der Aufnahmen zeigte: Mit den Sinnesfunktionen Sehen, Hören und Tasten assoziierte Netzwerke fehlen im Cerebellum tatsächlich völlig – aber nur 20 Prozent dieses Gehirnteils sind der Bewegung gewidmet. Das ist den Forschern zufolge ähnlich viel wie beim Cortex. Die restlichen 80 Prozent sind dagegen von an höheren Funktionen beteiligten Netzwerken besetzt, wie das Team berichtet.
Bei diesen Netzwerken handelt es sich um das Aufmerksamkeits-Netzwerk und das Default-Mode-Netzwerk, das unter anderem für Tagträume und das Abrufen von Erinnerungen eine Rolle spielt. Außerdem identifizierten Marek und seine Kollegen zwei Netzwerke, die an exekutiven Funktionen wie Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt sind.
Zentrum für Qualitätskontrolle
Interessant dabei: Weitere Analysen offenbarten, dass das Cerebellum immer als letzter Schritt in einer Kette von Gehirnreaktionen aktiv wird. Signale werden von Sinnessystemen empfangen, von Netzwerken im Cortex verarbeitet und danach erst an das Kleinhirn weitergeleitet. Dies deutet nach Ansicht der Forscher daraufhin, dass dieser Teil des Gehirns als Zentrum für eine Art Qualitätskontrolle fungiert.
"In einer Fertigungsstraße wäre das Cerebellum die Person, die das Auto am Ende inspiziert und sagt, 'Das ist gut' oder 'Das muss noch einmal ausgebessert werden'. Hier werden alle Gedanken und Aktionen kontrolliert und präzisiert", sagt Mareks Kollege Nico Dosenbach. "Alle dachten, das Kleinhirn drehe sich nur um Bewegung. Doch genauso wie es eine Qualitätskontrolle unserer Bewegungen durchführt, tut es dies auch für viele andere Dinge."
Neues Verständnis
Diese Erkenntnis könnte beispielsweise erklären, warum betrunkene Menschen nicht nur torkeln, sondern mitunter auch schlechte Entscheidungen treffen. Denn wie die Forscher berichten, reagiert das Kleinhirn sehr sensibel auf Alkohol. Im Rausch gefällte Fehlentscheidungen könnten demnach die Folge einer nicht mehr funktionierenden Qualitätskontrolle exekutiver Funktionen sein.
In Zukunft wollen die Wissenschaftler die Schaltkreise im Kleinhirn näher unter die Lupe nehmen. Klar ist aber schon jetzt: "Unser Verständnis des Cerebellums muss sich verschieben – weg von einem reinen Bewegungszentrum hin zu einem generellen Kontrollbereich für höhere, kognitive Funktionen", konstatiert Marek. (Neuron, 2018; doi: 10.1016/j.neuron.2018.10.010)
(Washington University School of Medicine, 26.10.2018 - DAL)
Nota. - Wenn es die Feinabstimmung und die Schlusskontrolle leistet, sollten sich die Hirnforscher, die bis- her vergeblich nach dem 'Sitz des Ich' gesucht haben, vielleicht einmal das Kleinhirn vornehmen - ich wette, sie waren bisher nur im Großhirn tätig; denn es liegt ja auf der Hand: Die höchste Leistung des Gesamtsys- tems erbringt die Region, die als allerletzte zum Schluss dazugekommen ist.
Ja, das Gehirn ist eben wirklich ein System. Und anscheinend nicht so, dass mit jeder neu hinzukommenden Funktion bzw, der für sie neu ausgebildeten Region das Gesamtsystem rückwirkend umgebaut werden müss- te, sondern eher so, dass bei jeder neu entwickelten Funktion die ältesten Regionen die Finger immer gleich mit im Spiel gehabt haben und die Systemerweiterung jeweils progressiv geschehen konnte. Das eine ist so plausibel wie das andere. Man muss nur erst drauf kommen.
JE