Seit 400 Jahren lassen
Physiker sich bei der Suche nach brauchbaren Theorien über die Natur von
ästhetischen Erwägungen leiten. Heute wird bezweifelt, ob das
grundsätzlich eine gute Idee ist. Zu Unrecht.
Von OLAF L. MÜLLER
Harmonice
Mundi, Weltharmonik. Unter diesem Titel veröffentlichte Johannes Kepler
(1571 bis 1630) vor 400 Jahren ein Werk, das es in sich hatte. Kepler
stand damals auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Schon in jungen Jahren war
er kaiserlicher Hofmathematiker der Habsburger geworden. Nun aber
stellte er eine geradezu ungeheuerliche These auf: In den tiefsten
Strukturen ist das Weltall schön.
Damit hatte er etwas durchaus Präzises im
Sinn: eine Harmonie für das geistige Ohr. Johannes Kepler wollte die
Gesetze, nach denen die Planeten um die Sonne ziehen, als eine
gigantische Partitur lesen. Er trieb die Idee sogar noch auf die Spitze,
indem er den Planeten einzelne Tonintervalle zuschrieb: dem Mars etwa
die Quinte oder dem Saturn die große Terz. Mehr noch, laut Kepler
spielen die Planeten ihre Musik in Dur und Moll, und ein jeder musiziert
in einer eigenen Tonart. Sogar einen vierfachen Kontrapunkt hatte
Kepler in den Sphärenklängen ausgemacht und erklärt, Saturn und Jupiter
sängen im Bass, Erde und Venus im Alt, Mars im Tenor und Merkur im
Diskant.
Man ist heute geneigt, Keplers Sphärenmusik
als esoterische Schwärmerei abzutun. Doch Kepler war nicht irgendwer.
Neben Kopernikus, Galilei und Newton verdanken wir ihm die
entscheidenden Impulse der neuzeitlichen Physik, auf denen wiederum
unsere heutige moderne Physik beruht. Wer dieser vier Genies nun der
Größte war, darüber streiten die Gelehrten. Für die Frage nach der
Schönheit in der Physik ist der Streit müßig, denn hier waren sich alle
vier einig: Weil das Weltall für das geistige Auge schön ist, eignet
sich unser Sinn für Ästhetik ausgezeichnet als Kompass auf der Suche
nach der physikalischen Wahrheit. Warum aber kam jemand wie Kepler auf
diese Idee? Weil er damit erstaunlichen Erfolg hatte.
Die Platonischen Körper sind aus deckungsgleichen Regulären
Vielecken (hellgraue Flächenstücke), also Vielecken mit gleichen Winkeln
und gleichen Kanten, zusammen- gesetzt – und zwar so, dass die Kanten
eines solchen Körpers überall im selben Winkel aufeinandertreffen. Es
gibt nur fünf Körper mit diesen beiden Eigenschaften, nämlich:
Ikosaeder, Dodekaeder, Oktaeder, Würfel und Tetraeder.
Nach Abschluss seines Theologiestudiums, im
Alter von 24 Jahren, hatte Johannes Kepler verstehen wollen, warum es
nicht zwanzig oder hundert, sondern genau sechs Planeten gab – Uranus
und Neptun waren damals noch nicht entdeckt. Seine These dazu war so
bestechend wie kühn. Seit der Antike wusste man, dass es exakt fünf
sogenannte Platonische Körper gibt: Das sind diejenigen räumlichen
Figuren, deren Flächen von einer einzigen Sorte regulärer Vielecke
aufgespannt werden und deren Ecken allesamt gleichartig sind (siehe
Abbildung „Die Platonischen Körper“). Schon für sich allein ist jedes
dieser Gebilde mathematisch schön – einfach der ihnen innewohnenden
Symmetrien wegen. Doch hiermit hielt sich Kepler nicht lange auf;
stattdessen brachte er die fünf Körper zusammen (siehe Abbildung
„Keplers geometrisches Modell des Sonnensystems“) und schuf damit eine
hochkomplexe Einheit: Jeder der fünf Körper umschreibt eine Innenkugel
und wird von einer Außenkugel umschrieben. Daher lassen sich die
Platonischen Körper auf ansprechende Weise ineinander verschachteln; die
Innenkugel des größten ist die Außenkugel des zweitgrößten Körpers,
dessen Innenkugel wiederum als Außenkugel des drittgrößten Körpers
genommen wird, und so weiter. Wie viele Sphären – das heißt: wie viele
Kugeloberflächen – werden dabei insgesamt aufgespannt? Genau sechs. Für
jeden der fünf Platonischen Körper je eine Außenkugel, und dann noch die
Innenkugel des innersten Körpers. Es gibt laut Kepler also deshalb
sechs Planeten, weil die von den Körpern aufgespannten Sphären genau
sechs abgezirkelte Regionen des Weltalls darbieten, in denen die
Planeten jeweils ihren Bewegungsgewohnheiten nachgehen. In einem perfekt
aufgebauten Weltall ist kein Platz für mehr Planeten. Und ein Weltall
mit weniger Planeten wäre Platzverschwendung, mithin ein ästhetisches
Manko.
Keplers geometrisches Modell des Sonnensystems. In die äußere
Kugelschale (in deren Rahmen der Saturn um die Sonne kreist) hat Kepler
den ersten Platonischen Körper - den Würfel - eingeschrieben. Die Schale
seiner Innenkugel bietet dem Jupiter ausreichend Platz für seine
Bewegungen, und diese Sphäre umschreibt den zweiten Platonischen Körper,
den Tetraeder, dessen Innenkugel noch gut erkennbar den Dodekaeder
einhüllt und die Marsbahn beherbergt.
Illustration: Valentine Edelmann nach der Tabella III aus Johannes Keplers „Mysterium Cosmographicum“ (1596)
Doch was ist das für ein lausiges Argument!
Ist es nicht armselig, irgendeine passende mathematische Tatsache
herbeizuzitieren, um die vorab bekannte, zufällige Zahl der Planeten
daraus „abzuleiten“? – Das Schönste kommt erst noch. Jedes physikalische
Modell muss sich in der Prognose dessen bewähren, was man nicht in die
Modellkonstruktion eingebaut hat. Und an diesem Punkt wird die
Geschichte wild. Die ineinandergeschachtelten Körper bestimmen nämlich
exakte Größenverhältnisse der eingeschriebenen Kugeloberflächen. Wie
Kepler sofort klar war, ergibt sich daraus eine Prognose über die
Abstände der Planetenbahnen. So müsste der Jupiterbahn ein exakt dreimal
größerer Radius zukommen als der Marsbahn; und das Verhältnis von
Venus- zu Merkurbahn wäre die Wurzel aus 3 zu 3. Als Kepler seine
Modellzahlen mit den Beobachtungswerten verglich, wurde ihm schwindelig.
In zwei Fällen waren es Volltreffer (mit einem Fehler von weniger als
einem Promille). Und in den übrigen war der Fehler zwar etwas größer,
aber immer noch verblüffend klein.
Wer nun einzig und allein den empirischen
Daten traut, kann über diesen Fehler nicht hinweggehen und muss Keplers
Modell als widerlegt betrachten – Fehler ist Fehler. Aber so
funktioniert Physik nicht. Wenn das Modell nicht zu den Daten passt,
trifft die Schuld nicht notwendig das Modell; sie kann bei den Daten
liegen. Diese werden auch in der Astronomie durch Messung erhoben,
zuweilen unter großen Schwierigkeiten. Da liegt es auf der Hand, dass
sie nicht völlig fehlerfrei sein können. Alles kommt auf das Ausmaß der
Diskrepanz zwischen Modell und Messwert an. Im Fall des Keplerschen
Sphärenmodells war sie winzig. Um ein Gespür für ihre Größenordnung zu
wecken, möchte ich Sie zu einer Lotterie gegen Kepler einladen: Fünf Mal
dürfen Sie aus tausend Losen ziehen, auf denen jeweils eine Nummer
zwischen 0,001 und 1,000 steht – also 0,001, 0,002 und so weiter. Ihre
Losnummer soll jedes Mal Ihre zufällige Schätzung für das Verhältnis
jeweils benachbarter Planetenbahnen darstellen. Wie groß ist nun die
Wahrscheinlichkeit, dass Ihre ausgelosten Zahlen besser zum vermessenen
Sonnensystem passen als die Keplers? Die Antwort: weniger als 1 zu
200 000. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, beim Münzwurf siebzehn
Mal hintereinander Kopf zu werfen. Kepler war Mathematiker genug, um zu
dem Schluss zu kommen: Es kann kein Zufall sein, dass sein ästhetisches
Modell so gut zu den bekannten Daten passt. Warum er sein Leben lang an
der Schönheit als Richtschnur astronomischer Erkenntnis festgehalten
hat, kann man verstehen. Und seither zieht sich dies wie ein roter Faden
durch die Physikgeschichte: Immer wieder setzten bedeutende Physiker
auf Modelle und Theorien von besonderer mathematischer Schönheit – und
immer wieder erzielten sie damit Prognosen von unerwarteter
Treffsicherheit. Der Wahnsinn hat Methode.
Wer dem Schönheitssinn physikalisch trotzdem
nicht über den Weg traut, muss einer beispiellosen Kette von
Zufallstreffern das Wort reden. Oder er muss das historische Ausmaß des
Erfolgs verharmlosen. Diesen Weg hat zuletzt die Frankfurter Physikerin
Sabine Hossenfelder in ihrem brillanten Lamento über den Schönheitssinn
vieler ihrer Fachkollegen gewählt (Frankfurter Sonntagszeitung vom 1.7.2018). Wohl
um Kepler nicht als Scharlatan dastehen zu lassen, behauptet sie, er
habe sich in späteren Jahren von seinem platonischen Modell getrennt,
und zwar sobald ihm bessere astronomische Daten zur Verfügung standen.
Das entspricht aber nicht den Tatsachen. Ein Vierteljahrhundert nach der
ersten Veröffentlichung seines Modells in dem Werk „Mysterium
Cosmographicum“ (Das Weltgeheimnis) von 1596 brachte er diese Schrift
ein zweites Mal ohne Eingriffe in den Originaltext heraus. Im Anhang
korrigierte er allerlei physikalische Patzer der Erstausgabe. Aber an
der ästhetischen Kernidee des Buchs hat er in seinen Korrekturen
ausdrücklich nicht gerüttelt. Und die Weltharmonik aus dem Jahr 1619
trat nicht an die Stelle der ursprünglichen Idee, sie war deren
musikalische Verfeinerung.
Heute sind Keplers ästhetische Modelle des
Weltalls zwar obsolet – weil inzwischen zwei Planeten hinzugekommen
sind, für die er keinen Platz vorsehen konnte, und weil wir inzwischen
Grund zu der Annahme haben, dass die Anzahl der Planeten unserer Sonne
keine grundlegende Tatsache der Welt darstellt. Aber das ändert nichts
daran, dass sich auch heute viele physikalische Grundlagenforscher an
ästhetischen Maximen orientieren: Wenn eine fundamentale Theorie unseren
mathematischen Schönheitssinn anspricht, dann wird dies als ein
ernstzunehmendes Argument zugunsten der Theorie angesehen.
Sabine Hossenfelder beklagt, dass sich
dieses Prinzip in letzter Zeit totgelaufen habe. Seit Jahrzehnten, so
moniert sie, optimierten heutige Grundlagenforscher die Ästhetik ihrer
Theorien – und scherten sich keinen Deut darum, dass die empirischen
Belege ausbleiben. Schlimmer noch, die Arbeit einer ganzen Generation
von Physikern – Hossenfelders Generation – sei durch sinnlosen
Schönheitskult auf Abwege geraten. Stimmt das?
In der Tat fehlt es seit längerem an einem
entscheidenden Durchbruch, und die Leichen im Keller der heutigen
Grundlagenforschung stinken zum Himmel. Es mag also sein, dass
Hossenfelder mit ihrem pessimistischen Blick auf die Gegenwart recht
hat. Doch ebenso gut könnte sie zu früh die Geduld verloren haben. Ein
Blick zurück auf Kepler ist da vielleicht hilfreich. Von dessen
Durchhaltevermögen könnte sich mancher heute eine Scheibe abschneiden.
Als Kepler sich nämlich um das Jahr 1600 der besten verfügbaren
Himmelsdaten bemächtigt hatte, wollte er sein Modell überprüfen und
insbesondere wissen, auf was für einer Bahn genau der Mars die Sonne
umrundet. Denn Kepler wusste, dass der Abstand des Planeten von der
Sonne schwankt, die Sphären in seinem platonischen Modell also eine
endliche Dicke haben mussten. Aber welcher mathematischen Form folgte
die Planetenbahn darin genau? Eine Hypothese nach der anderen
scheiterte, die Zahlen passten hinten und vorne nicht. Jahrelang ging
das so. Kepler rechnete sich an den Rand seiner Kräfte. Es hätte
tragisch enden können.
Newtons Spektrum. Vor schwarzem Hintergrund leuchtet in den
sattesten Farben ein Bild auf, dessen farbästhetischer Kraft sich kaum
jemand entziehen kann. Dabei beruht das Bild nur auf der konsequenten
Verstärkung von ehemaligem Schmutz (vergleiche die Abbildung
„Chromatische Aberration“). Newton prahlte: „extravagant“, „exciting“.
Heute wissen wir dank Keplers Zähigkeit,
dass die Planetenbahnen Ellipsen sind. Warum aber hat er die
Ellipsenbahn nicht einfach aus den Beobachtungsdaten abgelesen? Weil die
Ellipse, so wie jede andere Hypothese, keineswegs eindeutig von den
Daten erzwungen wurde. Da es immer noch reale Daten waren, also Daten
voller Fehler, konnte es keinen perfekten Fit geben. Kepler musste also
schummeln, musste die Daten hier und dort zurechtbiegen, musste sie
beschönigen – nur wo, zum Teufel? Der amerikanische Astronom und
Wissenschaftshistoriker Owen Gingerich beschrieb es so: „Kepler hat die
Daten weit kreativer genutzt als jemand, der bloß eine Kurve an
empirische Datenpunkte anpassen will.“
Kreativität. Positivistisch gesinnte
Zeitgenossen wie Sabine Hossenfelder unterschätzen den Wert dieses
menschlichsten aller Erkenntnismittel der Physik. Denn um es zu
wiederholen: Wie viele Daten auch immer wir zusammentragen mögen, nie
sind es ausschließlich diese Daten, die bei unserer theoretischen Arbeit
den Ausschlag geben. Ob wir eine Theorie akzeptieren, hängt nicht
allein davon ab, wie exakt sie zur Empirie passt, sondern auch von
weiteren Kriterien. Von ihrer Schönheit zum Beispiel.
Unser Sinn für Ästhetik beflügelt die
naturwissenschaftliche Kreativität aber nicht allein durch erhabene
Großartigkeit wie im Fall der fünf Platonischen Körper. Wie sich gerade
an Kepler sehr gut zeigen lässt, stützt sich das kreative Genie in der
Physik auch im Kleinen auf den Schönheitssinn. Es war eine ungeheure
schöpferische Leistung, mit der Kepler in jahrelanger Rechnerei die
Daten immer wieder neu geformt, umgeformt, geschönt, ausgewählt,
umgeordnet, verworfen und erneut einbezogen hat.
Chromatische Aberration ist ein Effekt, der sich bei Betrachtung
eines weißen Himmelskörpers durch Teleskope der Newtonzeit bemerkbar
macht. Das Bild wird links wie rechts von Farbsäumen verschmutzt und
verliert dadurch an Schärfe; die Farben stören die Reinheit des Bildes -
höchst unschön.
Diese Art der Kreativität haben wir bislang
nur schemenhaft vor Augen; in den meisten kritischen
Auseinandersetzungen mit Keplers Schönheitssinn ist sie übersehen
worden. Dabei war sie eine treibende Kraft in der gesamten Geschichte
der neuzeitlichen und modernen Physik. Besonders stark zeigt sich die
Kreativität des Physikers, wenn er die empirisch zu beobachtenden
Phänomene allererst selbst erzeugt. Anders als Astronomen, die den
Himmel nur beobachten, ohne ins Geschehen einzugreifen, können
Experimentatoren über das Empirische eine gewisse Macht ausüben, indem
sie es mitgestalten. Wie und wo ihnen bei dieser Gestaltungsarbeit der
Sinn für Schönheit zu Hilfe kommt – diese Frage ist von den meisten
Verächtern des physikalischen Schönheitssinns gar nicht erst gestellt
worden.
Doch eignen sich Experimente besonders gut, um sich
über den Schönheitssinn von Physikern Klarheit zu verschaffen und
Verbindungen zur Ästhetik in den Künsten zu ziehen. Im Vergleich zu
Theorien sind Experimente angenehm konkret. Man kann sie anfassen und
sehen, so wie viele Kunstwerke. Und man kann jahrelang an ihnen feilen,
ihre Präsentation optimieren, wohlkalkulierte Überraschungen fürs
Publikum einbauen – nicht anders als in den Künsten. Einer der größten
Experimentierkünstler der Neuzeit war Isaac Newton (1643 bis 1727). Mit
großer kreativer Energie formulierte er nicht nur eine mathematisch
durchgeformte Mechanik, sondern schuf 1704 auch die früheste
ernstzunehmende Theorie des Lichts und der Farben. Hier lässt sich sein
Sinn für Ästhetik besonders gut nachempfinden. Albert Einstein – der
wohl genialste physikalische Ästhet aller Zeiten – jubelte 1931 in
seinem Vorwort zur Neuausgabe der newtonschen „Opticks“: „Die Natur lag
vor ihm wie ein offenes Buch, dessen Schrift er mühelos lesen konnte. Um
das vielfältige Erfahrungsmaterial auf eine einfache Ordnung
zurückzuführen, stützte er sich auf Begriffe, die ihm aus der Erfahrung
wie von selbst zuflogen – aus den schönen Experimenten, die er wie
Spielzeuge aufbaute und deren Reichtum er liebevoll im Detail
beschrieb.“
Newtons experimentelle Erfolgsserie fing an
mit seinem Ärger über die miese Qualität der damaligen Teleskope, deren
Bilder wegen eines Farbenschmutz-Effektes unscharf waren, der
sogenannten chromatischen Aberration (siehe Abbildung „Chromatische
Aberration“). Physiker empfinden gegen unsaubere Versuchsergebnisse
einen ähnlichen ästhetischen Widerwillen wie Musiker gegen verstimmte
Instrumente. Umgekehrt schätzen sie die Schönheit der Sauberkeit – so
wie manch ein Porträtmaler der Renaissance (siehe Abbildung „Das Bildnis
einer jungen Frau“). Der optische Farbenschmutz in den Teleskopen der
Newtonzeit war hartnäckig und ließ sich nicht beseitigen. An diesem
Punkt gelang Newton ein genialer Zug. Ähnlich wie auch Künstler zuweilen
auf eine Änderung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten abzielen, so änderte
Newton unseren Blick. Statt sich mit der Verringerung der störenden
Farben abzuplagen, richtete er auf sie die volle Aufmerksamkeit, rückte
sie ins Zentrum und verstärkte sie massiv. Das Ergebnis ist eine Ikone
neuzeitlicher Physik (siehe Abbildung „Newtons Spektrum“). Auf
Fotografien sieht dieses Spektrum schnell etwas kitschig aus. Die
experimentelle Wirklichkeit ist aber weit intensiver und spricht unseren
Schönheitssinn unmittelbar an. Direkt sinnlich erscheint es uns, fast
überwältigend und schockierend schön: Unerhört leuchtende Farben größter
Sättigung verlieren sich auf mysteriöse Weise im Finsteren. Kein
Wunder, dass sich dieser hochästhetische experimentelle Befund
blitzschnell über Europa verbreitete, nicht anders als manche Malweise
desselben Jahrhunderts (siehe Abbildung „Blumenstrauß“). Um
Missverständnissen vorzubeugen: Diese Art farbiger Prachtentfaltung ist
nicht die einzige Aufgabe der Malerei, aber es wurden Gemälde
geschaffen, deren Ästhetik wesentlich darin gründet. Genauso gibt es in
der Physik Experimente, deren ästhetische Durchschlagskraft zu einem
nicht geringen Teil auf Pracht beruht, ohne dass dies auf alle
Experimente zuträfe.
Das Bildnis einer jungen Frau im Profil, gemalt von Antonio del
Pollaiuolo um 1465, gibt ein Beispiel für das ästhetische Ideal der
Reinheit der Malerei.
Nun kennt fast jeder Newtons Spektrum aus
dem Schulunterricht. Doch wie viel ästhetischer Gestaltungswille hinter
dem Experiment steckt, weiß kaum jemand. So wie ein Brueghel musste auch
Newton hart arbeiten, bis das Ergebnis höchsten ästhetischen Ansprüchen
genügte (siehe Grafik „Newtons Weißanalyse“). Er brauchte ein Prisma
mit ganz bestimmten Winkeln, es musste präzise symmetrisch ausgerichtet
werden, und der Abstand zwischen Prisma und Auffangschirm musste
erheblich größer sein als der, mit dem seine Vorgänger es probiert
hatten. Nur so konnte es Newton gelingen, die zuvor als Schmutz
abgetanen Farben provokant ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Ihm
war bewusst, was er da tat. Er inszenierte sein Experiment mit der
größtmöglichen Überraschungskraft und kündete stolz von der aufreizenden
Extravaganz seines Spektrums.
Newtons Weißanalyse
Ein Sonnenstrahl wird durch das Fensterladenloch (F) in ein
Prisma (ABC) geschickt, wobei er vom geraden Weg abgelenkt wird und sich
in seine kunterbunten Bestandteile auffächert. Hinter den Kulissen des
hier nur schematisch gezeigten Versuchsaufbaus hat Isaac Newton, der
Ästhet, für ganz präzise Abmessungen gesorgt, sonst klappt's nicht.
Grafik: Ingo Nussbaumer nach dem Notizbuch Newtons
Die Weißsynthese der Newtonschule
Weißes Licht der Sonne (Y) wird zunächst vom Prisma (ABC) in
seine bunten Bestandteile zerlegt. Diese spritzen in alle Richtungen vom
Schirm (M) in den Raum; ein kleiner Teil von ihnen reist auf denselben
Pfaden zum Prisma zurück. Was tun diese Strahlen auf dem Rückweg durch
das Prisma? Exakt dasselbe wie auf dem Hinweg; das ist Newtons
Zeitsymmetrie der optischen Gesetze. Da sich die Farben beim Auge (L)
wiedervereinigen, sieht man beim Blick ins Prisma einen blitzblanken
Kreis: das Sonnenbild.
Grafik: Ingo Nussbaumer nach einem Original von Desaguliers
Schmutz, Provokation, Überraschung – all das
kennen wir auch aus der Malerei des 20. Jahrhunderts. In der Tat war es
eine Innovation von Dadaisten und gleichgesinnten Malern etwa der
Wiener Szene der Aktionskunst, dem Schmutz und Kaputten eine Bühne zu
bereiten (siehe Abbildung „Hermann Nitsch, Blutorgelbild“). Der
Experimentator Isaac Newton war ihnen mehr als zwei Jahrhunderte voraus.
Aber Moment mal: war nicht vorhin vom
ästhetischen Wert sauberer Versuchsresultate die Rede? Und jetzt soll es
plötzlich auf den Schmutz ankommen? Allerdings; beide Werte sind in der
Experimentierkunst Newtons von Belang. Nicht anders als in der Kunst
kann eine experimentelle Errungenschaft mit ihrer Sauberkeit prunken
oder aber mit ihrer überraschenden Kraft, unsere
Wahrnehmungsgewohnheiten zu ändern. Oder mit beidem. Und mit vielem
mehr. Weder in der Kunst noch in der Physik gibt es den einen
ästhetischen Wert, der alle anderen zu übertrumpfen vermöchte.
Hermann Nitsch, Blutorgelbild aus dem Jahr 1962. Es besteht aus
Blut, Dispersion und Kreidegrund auf Jute. So wie Newton uns lehrte, den
angeblichen Farbenschmutz (siehe "Chromatische Aberration") mit neuen
Augen als Hauptattraktion zu sehen, so lehren uns moderne Künstler einen
neuen Blick auf angeblichen Schmutz. Oder muss man Blutflecken immer
gleich wegputzen?
Nachdem Newton zum Beispiel mit seinem
herrlichen Experiment aus dem sauberen weißen Sonnenlicht die bunten
Bestandteile herausgeholt hatte, die darin stecken, stellte er eine
naheliegende Frage: Wenn alle diese Farben im weißen Licht stecken
sollen – muss sich dann das bunte Licht des Sonnenspektrums nicht ebenso
gut wieder in weißes Licht zurückverwandeln lassen?
Schöne Idee; was vorwärts funktioniert, muss
auch rückwärts klappen. Doch die Sache wollte ihm zunächst nicht recht
gelingen. Newtons allererstes Experiment zur Weißherstellung ließ zu
wünschen übrig, und nur mit gutem Willen konnte man die Dreckeffekte
übersehen, die das gewonnene „Weiß“ störten. Statt sich damit abzufinden
und die Sache kurzerhand verbal zu beschönigen, wie es nur zu oft
geschieht, versuchte er es immer wieder. Innerhalb von mehr als dreißig
Jahren veröffentlichte er ein halbes Dutzend Weißsynthesen, eine schöner
als die andere, aber keine perfekt. Wer sich in diese alten Experimente
vertieft, wird von dem ruhelosen Perfektionismus Newtons gefesselt. Und
die Geschichte ging gut aus: noch zu Newtons Lebzeiten sollte einer
seiner Schüler das perfekte Experiment zur Weißsynthese veröffentlichen
(siehe Grafik „Die Weißsynthese“). Das Experiment besticht nicht allein
durch die reine weiße Sauberkeit seines Ergebnisses. Seine ästhetische
Hauptattraktion ist die strenge Zeitsymmetrie des optischen Geschehens.
Blumenstrauß, gemalt um 1619/20 von Jan Brueghel dem Älteren. Wie
bei „Newtons Spektrum“ verschwimmen hier die sattesten Farben fast
magisch im finsteren Hintergrund. Sauberkeit ist nicht das Thema des
Bildes, wie auch die halbtote Biene vor der Vase zeigt, die an unser
aller Verweslichkeit gemahnt.
Foto: Artothek
Symmetrie: Hier haben wir eine der wohl
wichtigsten Quellen physikalischer Schönheitsbegeisterung; sie wirkt bei
Experimenten genauso wie bei Theorien. Bei der Zusammenstellung des
modernen Teilchenzoos war die Schönheit der Symmetrien ein
entscheidender Triebfaktor. Man suchte nach neuen Elementarteilchen, die
das symmetrische Gegenteil bereits entdeckter Teilchenarten bieten
sollten. Und man fand sie, eines nach dem anderen. Ohne Übertreibung
lässt sich daher festhalten: Hätten wir Menschen einen völlig anderen
Schönheitssinn, oder – Gott bewahre – überhaupt keinen, dann hätten wir
eine völlig andere Physik.
Gleichwohl bietet die Ästhetik den Physikern
keine Erfolgsgarantie. Die nun 400-jährige Geschichte ihres
Schönheitssinns ist voller Höhen und Tiefen. Nicht immer lagen sie
richtig, wenn sie auf das Schöne setzten. Aber sie lagen um Dimensionen
öfter richtig, als man rationalerweise erwarten wollte. Wäre ihr Sinn
für Ästhetik auf bloß zufällige Weise mit der Treffsicherheit ihrer
Modelle verknüpft, dann grenzte dieser Erfolg an eine mysteriöse Serie
von Hauptgewinnen im Lotto.
Wenn die Sache aber nicht auf Zufall beruht – worauf beruht sie dann? Dieses Rätsel ist bis auf weiteres ungelöst.
Olaf Müller hat an der Humboldt-Universität Berlin den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie inne.
Soeben erschien bei S. Fischer sein neues Buch
„Zu schön, um falsch zu sein: Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft“.
Nota. - So interessant das ist - es ist eine Menge Worte über nicht viel. Nämlich nur darüber, dass beim Entwerfen eines theoretischen Modells der ästhetische Sinn des Forschers eine Rolle spielt. Das Modell ist für den Forscher unerlässlich, denn nur aus ihm kann er solche Hypothesen ableiten, die er im Labor oder im Observatorium empirisch überpüfen kann. Diesen ästhetischen Sinn kann man auch Genie nennen, ohne das ist Theoretisieren nicht möglich.
Doch über den wissenschaftlichen Wert der Theorie entscheidet die empirische Prüfung. Es bleibt in den Daten wohl immer eine Marge von Ungefähr, die nur vernachlässigt wird, weil das Modell, zu dem sie gehört, so schön ist. Erst wenn die Marge einen kritischen Punkt - wo liegt der jeweils? - übertrifft, muss man sich zur Revision des Modells selbst bequemen - und ist wieder wissenschaftliches Genie gefordert.
Aber das Ganze ist bloß Heuristik, es geht um das handwerkliche Geschick beim Theoretisieren. Mit Wahrheit oder wie immer man das nennen will hat es nichts zu tun.
Ein ganz anderes Thrma ist, dass erst der ästhetische Standpunkt den Übergang zum Philosophieren im engeren Sinn möglich macht. Aber Olaf Müller redet von exakter Naturwissenschaft. JE
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