Wie Affen auf Drohnen reagieren Ein Hightech-Fluggerät verhilft einer deutschen Arbeitsgruppe zu Einsichten über die Evolution der Sprache.
von Lars Fischer
Westliche Grünmeerkatzen (Chlorocebus sabaeus)
entwickeln einen neuen Alarmruf, um vor Drohnen zu warnen. Das
berichten Franziska Wegdell, Kurt Hammerschmidt und Julia Fischer vom
Deutschen Primatenzentrum in Göttingen. Wie das Team in »Nature Ecology & Evolution« schreibt,
konfrontierte es für das Experiment eine Gruppe der Affen im Senegal
mit einer Drohne. Daraufhin nutzten die Affen fürderhin einen bei ihnen
neuen, ganz spezifischen Warnlaut für das technische Gerät; dieser aber
klang ganz ähnlich wie das Signal, mit dem eine verwandte Art vor Adlern
warnt. Allerdings, so die Gruppe um Wegdell, handelt es sich keineswegs
um einen allgemeinen Warnruf gegen Luftfeinde: Die Tiere nutzten den
Alarm auch, wenn sie bloß eine Aufnahme des Drohnengeräusches hörten.
Aus den Befunden schließt die Gruppe, dass in der Evolution komplexer
Kommunikation das flexible Verstehen eines festen Repertoires von Lauten
wohl vor der Erweiterung der stimmlichen Fähigkeiten kam.
Viele Affenarten haben ein komplexes System von verschiedenen
Alarmrufen mit unterschiedlicher Bedeutung – so reagieren
Grünmeerkatzen auf das Warnsignal für Leoparden anders als auf jenes für
Schlangen. Die Westlichen Grünmeerkatzen nutzen solch ein System,
jedoch mit einer interessanten Lücke: In ihrem Lebensraum gibt es keine
Adler, also nutzen sie diese Alarmrufe nicht. Wegdell, Hammerschmidt und
Fischer untersuchten an dieser Besonderheit, ob und wie die Tiere die
Lücke bei Bedarf schließen. Bei dem Experiment ließen die Fachleute eine
Drohne über eine Gruppe der Affen hinwegfliegen und scheuchten die
Tiere dadurch auf. Anschließend stellten sie fest, dass die Affen sich
das Geräusch der Drohne gemerkt hatten und suchend in die Luft schauten,
wenn die Arbeitsgruppe ihnen eine Aufnahme des Geräusches vorspielten.
Außerdem stießen die Grünmeerkatzen spezielle Warnrufe aus, die man von
ihnen bis dahin nicht gehört hatte – von einer verwandten Art aber sehr
wohl. Die Südlichen Grünmeer- katzen (Chlorocebus pygerythrus),
die an der Ostküste Afrikas zwischen Äthiopien und Südafrika ver- breitet
sind, warnen mit einem sehr ähnlichen Ruf vor Adlern.
Das zeige, so das
Team, dass die Rufe auch über Artgrenzen hinweg
samt ihrer grundlegenden Bedeutung fest angelegt sind – und dass die
Affen ihre »Sprache« nicht hören müssten, um sie zu lernen.
Nota. - Der Schluss ist ein Beispiel für die ärgerliche Neigung so vieler Forscher zur Hype. Das Experiment zeigt vorerst nur, dass Westliche und Südliche Grünmeerkatzen spontan dieselben Lautäußerungen entwik- klen konnten, aber für verschiedene Anlässe. Ihre Namen lassen mich eine Verwandtschaft zwischen ihnen vermuten. Nahe läge die Annahme, dass sie in einer gemeinsamen Vorgeschichte ein Lautrepertoire entwik- kelt hätten, von dem einiges außer Gebrauch geraten ist, aber bei Bedarf aktiviert werden kann.
Das wäre interessant, aber so fetzig wie die Mutmaßung, dass "die Affen" von Natur aus eine ganze vir- tuelle Sprache auf der Platte hätten, wär's natürlich nicht. JE
aus spektrum.de, 27.05.2019 Fördert Hypnose verschüttete Erinnerungen zu Tage?Findet
man in Trance wirklich Zugang zu längst Vergessenem oder handelt es
sich dabei um einen Mythos? Der Psychologe Dirk Revenstorf bringt Licht
ins Dunkel.
von Dirk Revenstorf Der
Mensch vergisst ständig: Wichtiges, Unwichtiges, Namen, Telefonnummern,
Termine. Doch nicht nur bei alltäglichen Erinnerungen lässt uns unser
Gedächtnis im Stich. So versteckte eine meiner Klientinnen vor zehn
Jahren einmal 10 000 Euro – und vergaß wo. Diese einfache Form des
Vergessens kann gelegentlich durch eine hypnotische Trance rückgängig
gemacht werden. Während einer Hypnose schläft der
Patient nicht, er befindet sich vielmehr in einem Zustand entspannten
Wachseins und wechselt dabei zwischen bewussten und unbewussten
Momenten. Dabei sind häufig gerade solche Gehirnareale aktiv, die es
einem ermöglichen, sich Dinge vorzustellen oder Erinnerungen abzurufen.
Die erwähnte Patientin konnte das Versteck ihres Geldes auf diese Weise
allerdings zunächst nicht finden – sie entdeckte die Scheine jedoch kurz
darauf zufällig in einem Buch.
Neben der alltäglichen Art des
Vergessens existieren auch schwere Formen. Beispielsweise erinnern sich
einige Patienten nicht an bestimmte Handlungen, weil diese sich nicht
mit ihrem Selbstbild vereinbaren lassen. Manchmal vergessen sie dadurch
sogar einen Teil ihrer Identität, wie ein Klient von mir, der ganze
Vormittage in der Spielhalle verbrachte, aber abends ein braver
Familienvater war, ohne sich an das Kasino oder seine Spielsucht
erinnern zu können.
Manchmal hat Vergessen auch eine
Schutzfunktion. Wenn es etwa um sehr schreckliche Erfahrungen geht,
nutzt das Gehirn einen Mechanismus zur »Abspaltung«: Der Abruf der
Erinnerung ist blockiert, und sie tritt nur bruchstückhaft als Flashback
auf. Damit der Hypnotiseur das Trauma therapeutisch bearbeiten kann,
muss das Erlebte wieder an die Oberfläche des Bewusstseins gebracht
werden.
Dabei kann eine »Affektbrücke« helfen. Der Hypnotiseur bittet
den Betroffenen, sich eine aktuelle Situation vorzustellen. So sollte
sich eine Patientin mit einer Autobahnphobie in Trance vorstellen, wie
sie auf der Autobahn fährt. Über das Gefühl der Angst konnte ich
erfragen, wann diese Empfindung zum ersten Mal entstanden ist – es
diente als eine Art Brücke in die Vergangenheit. In dem Fall konnte sich
die Patientin erinnern, dass sie drei Jahre zuvor in einen Schneesturm
gefahren war und seitdem Angst hatte, von hinten von einem Laster
überrollt zu werden. Die aktuelle und die vergangene Situation waren
über das gleiche Gefühl miteinander verknüpft. Eine solche Affektbrücke
taucht mitunter von allein auf: Ist ein bestimmter Reiz, etwa ein Geruch
oder ein Geräusch traumatisch verankert, kann er als Trigger wirken.
Plötzlich überwältigen den Patienten die gleichen Gefühle wie in der
vergangenen traumatischen Situation. In einer Therapie kann die Brücke
dann als Instrument dienen, das Trauma zu bewältigen.
Eine weitere Methode, um sich das Traumaerlebnis zu
vergegenwärtigen, funktioniert über Imagination. Nach Hervorrufen einer
Trance führt der Psychologe den Patienten mental an einen imaginären,
sicheren Ort. Dazu stellt sich der Patient zum Beispiel eine Tür vor,
die zum »Vorzimmer des Gedächtnisses« führt. In diesem Raum kontrolliert
ein Wächter die Erinnerungen. Durch den Wächter kann die Tür zu einem
bestimmten Tag geöffnet und ein Ereignis ins Gedächtnis gerufen werden –
jedoch nur als subjektive Wahrheit. Wie viel dies mit der real erlebten
Situation zu tun hat, lässt sich kaum beurteilen. Klinisch ist diese
Vorstellung dennoch relevant. Sie hilft häufig, die emotionale Belastung
zu verringern. Allerdings ist ein solches Zurückschauen ein komplexer
Vorgang, in dem Fakten, Selbstbild und Schutzblockaden zusammenwirken.
Die
durch Hypnose wiedererlangten Erinnerungen können verzerrt sein und
sind dadurch unzuverlässig. Deshalb haben durch Hypnose geweckte
Erinnerungen vor Gericht keine Beweiskraft. Beispielsweise erinnerte
sich ein Zeuge durch Hypnose an Buchstaben und Zahlen, die er auf dem
Kfz-Kennzeichen eines Autos gesehen haben wollte, dessen Halter
Fahrerflucht begangen hatte. Später stellte sich dann heraus, dass diese
im eigenen Nummernschild des Zeugen vorkamen. Hypnotisch ermittelte
Erinnerungen liefern bei forensischer Anwendung also nur eine Spur, die
durch andere Indizien bestätigt werden muss.
Massive
Erinnerungslücken können noch eine weitere Ursache haben: Alkohol.
Durch einen Rausch verursachte Blackouts lassen sich allerdings nicht
durch Hypnose aufklären – der Alkohol verhindert, dass überhaupt
Erinnerungen gebildet werden.
Dirk
Revenstorf war bis 2004 Professor für klinische Psychologie an der
Eberhard Karls Universität Tübingen. Inzwischen leitet er die
Regionalstelle Tübingen der Milton H.Erickson Gesellschaft für Klinische
Hypnose. Das Institut führt Fortbildungen durch und beschäftigt sich
mit den Forschungsfragen und der wissenschaftlichen Anerkennung von
Hypnose.
Wie das Gehirn Gesten und Bewegung verbindet Neurowissenschaftler
haben herausgefunden, dass Gesten nicht nur als Ausdrucksmittel dienen,
sondern auch als Richtschnur für Kognition und Wahrnehmung.
von Raleigh McElvery
Erinnern
Sie sich noch an das letzte Mal, dass jemand Ihnen den Vogel gezeigt
hat? Ob dabei der Finger von verbalen Obszönitäten begleitet war oder
nicht: Ihnen war sicher gleich klar, was die Geste bedeutete. Das
Übersetzen von Bewegung in Bedeutung ist so einfach wie unvermittelt.
Wir haben die Fähigkeit, zu spre- chen, ohne zu reden, und zu verstehen,
ohne zu hören. Mit einem Fingerzeig lenken wir die Aufmerksamkeit
anderer, wir untermalen Erzählungen mit Mimik, betonen sie mit
rhythmischen Gesten oder fassen eine Ant- wort in einem an die Stirn
tippenden Finger zusammen. Diese Tendenz, Kommunikation mit
Bewegungen zu ergänzen, ist universell, auch wenn die Nuancen der
Darbietung variieren. In Papua-Neuguinea etwa deuten die Menschen mit
Nase und Kopf, während die Einwohner von Laos hierfür manchmal ihre
Lippen verwenden. In Ghana ist es teilweise tabu, mit der linken Hand
auf etwas zu zeigen, während man in Griechenland oder der Türkei in
Schwierigkeiten geraten kann, wenn man mit Zeigefinger und Daumen einen
Ring bildet, um anzuzeigen, dass alles »okay« ist.
Trotz dieser
Vielfalt können Gesten lose als Bewegungen definiert werden, die
Botschaften wiederholen oder betonen – unabhängig davon, ob die
Botschaft selbst gesprochen wird oder nicht. Gesten sind Bewegungen, die »Handlungen repräsentieren«,
aber auch abstrakte oder metaphorische Informationen vermitteln können.
Sie sind Werkzeuge, die wir von klein auf besitzen, wenn nicht gar von
Geburt an; denn selbst Kinder, die seit ihrer Geburt blind sind, gestikulieren ein wenig beim Reden.
Trotzdem
machen sich nur wenige Menschen weiter Gedanken über das Gestikulieren,
über seine Neurobiologie, seine Entwicklung und seine Rolle beim
Verstehen von Handlungen. Doch je tiefer Hirnforscher die Verkabelung
des Gehirns durchdringen, desto klarer wird: Gesten beeinflussen unsere
Wahrnehmung auf die gleiche Weise, wie Wahrnehmungen unser Handeln
leiten.
Eine angeborene Tendenz zur Geste Susan
Goldin-Meadow gilt als Mutter der Gestenforschung. In den 1970er
Jahren, als sie begann, sich für für Gesten als Gegenstand der Forschung
zu interessieren, gab es ihr Forschungsgebiet noch nicht. Einige andere
Forscher hatte zwar bereits an Gesten geforscht, aber fast
ausschließlich als Variation der nonverbalen Verhaltensforschung.
Goldin-Meadow dagegen hat ihre Karriere ganz der Erforschung der Rolle
gewidmet, die Gesten beim Lernen und der Entstehung von Sprachen
spielen.
Wenn
Kinder keine Worte finden, um sich auszudrücken, sprechen sie oft mit
den Händen. Novack, deren Probanden manchmal nur 18 Monate jung sind,
hat herausgefunden, dass die Fähigkeit, Bedeutung in Bewegungen zu erkennen, mit dem Alter wächst.
Für uns Erwachsene ist die Fähigkeit dann so natürlich, dass wir leicht
vergessen, wie kompliziert es für das junge Gehirn ist, Handzeichen
eine Bedeutung zuzuordnen.
Gesten mögen zwar simple Handlungen
sein, doch sie funktionieren nicht in Isolation: Wie Studien zeigen,
erweitern Gesten nicht bloß die Sprache, sondern helfen auch beim
Spracherwerb. Wenn man im Lauf des Lebens Erfahrungen mit Gesten
sammelt, ist man wahrscheinlich eher in der Lage, die Bedeutung in den
Bewegungen anderer zu erkennen. Tatsächlich könnten Gesten und Sprache
zum Teil auf den gleichen neuronalen Systemen beruhen. Ob einzelne
Zellen oder ganze neuronale Netze uns die Fähigkeit schenken, Handlungen
anderer zu entschlüsseln, ist allerdings noch eine offene Frage. Verkörperte Kognition Noam Chomsky, Koryphäe in der Sprach- und Kognitionswissenschaft,
behauptet seit Langem, dass Sprache und sensomotorische Systeme
voneinander unabhängig sind Module, die in der gestischen Kommunikation
nicht zusammenarbeiten müssen, obwohl beides Werkzeuge der Vermittlung
und Interpretation symbolischen Denkens sind. Die Frage ist wohl auch
deshalb unbeantwortet, weil wir nicht vollständig verstehen, wie Sprache
im Gehirn organisiert ist oder welche neuronalen Schaltkreise es sind,
die Bedeutung aus Gesten ziehen. Nicht wenige Forscher vermuten heute,
dass beide Fähigkeiten teils aus denselben Gehirnstrukturen hervorgehen.
Einer
von ihnen ist Anthony Dick, außerordentlicher Professor an der Florida
International University. Mit Hilfe der funktionellen
Magnetresonanztomografie (fMRT) haben Dick und seine Kollegen
herausgefunden, dass das Gehirn bei der Interpretation von »Co-Speech«- Gesten durchwegs Sprachverarbeitungszentren nutzt. Die beteiligten Hirnbereiche und ihr Aktivierungsgrad variieren allerdings mit dem Alter -
ein Hinweis darauf, dass das junge Gehirn seine Fähigkeit zur
Integration von Gesten und Sprache noch verfeinert und die Verbindungen
zwischen den beteiligten Hirnregionen optimiert. »Gestik ist nur ein
Pfeiler in einem breit angelegten Sprachsystem«, sagt Dick. Das System
integriere Hirnbereiche für die semantische und die sensomotorische
Verarbeitung. Inwieweit aber ist die Wahrnehmung von Sprache selbst eine
sensomotorische Erfahrung, die sowohl von Sinneseindrücken als auch von
Bewegungen geprägt ;ist? Als
Manuela Macedonia gerade ihren Magister in Linguistik abgeschlossen
hatte, fiel ihr ein Muster bei den Studenten auf, denen sie an der
Johannes Kepler Universität Linz (JKU) Italienisch beibrachte: Egal, wie
oft die Studenten die gleichen Wörter wiederholten, sie konnten keinen
zusammenhängenden italienischen Satz zurechtstammeln. Auch das
wiederholte Schreiben von Phrasen brachte nicht viel mehr. »Die
Studenten wurden sehr gute Zuhörer«, sagt Macedonia, »aber sie konnten
nicht sprechen.«
Dabei
unterrichtete Macedonia nach Vorschrift: Sie ließ ihre Schüler zuhören,
schreiben, üben und wiederholen, genau so, wie Chomsky es gutheißen
würde. Aber irgend etwas fehlte. Heute ist Macedonia leitende Forscherin
am Institute of Information Engineering an der JKU und am
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.
Ihre Forschungsergebnisse zum Sprachenlernen haben Macedonia zu einer
Hypothese geführt, die sehr an die von Anthony Dick erinnert: dass
Sprache alles andere ist als modular.
Anschauliche Bewegungen | Probanden profitierten beim
Fremdsprachenlernen besonders von Gesten, die den Wortinhalt
verdeutlichen. Diese Sequenz veranschaulicht das Wort »Treppe«, das es
in der Kunstsprache »Vimmi« zu lernen galt. Wenn
Kinder ihre Muttersprache lernen, so Macedonia, nehmen sie
Informationen mit allen Sinnen wahr. Eine »Zwiebel« hat eine bauchige
Form, eine papierene, raschelnde Haut, eine bittere Geschmacksnote und
einen scharfen Geruch beim Schneiden. Selbst abstrakte Konzepte wie
»Freude« haben multisensorische Komponenten wie Lächeln, Lachen und
Springen. Kognition ist also bis zu einem gewissen Grad »verkörpert« –
Handlungen und körperliche Erlebnisse verändern die Hirnaktivität und
umgekehrt. Kein Wunder also, dass neue Wörter nicht hängen bleiben, wenn
Schüler sie nur hören, schreiben, sprechen und wiederholen; solche rein
verbalen Erfahrungen sind ihrer sensorischen Assoziationen beraubt.
Sprachen lernen mit Bewegungen
Macedonia
hat herausgefunden, dass Schüler, die neue Wörter stattdessen mit
semantisch verwandten Gesten untermalen, motorische Hirnbereiche
aktivieren und ihre Erinnerung stärken. Am besten wiederholt man
also nicht einfach das Wort »Brücke«: Man beschreibt dabei einen Bogen
mit den Händen, ein »Koffer« wird geschleppt, eine Gitarre gespielt!
Derartiges multisensorisches Lernen speichert Wörter wie »Zwiebel« an
mehr als einem Ort im Gehirn ab – sie werden über ganze Netzwerke
verteilt. Und wenn einer der Knoten im Netzwerk wegen fehlender
Aktivierung ausfällt, kann ein anderer aktiver Knoten ihn
wiederherstellen. »Jeder Knoten weiß, was die anderen Knoten wissen«,
sagt Macedonia. Wer multisensorisch lernt, verdrahtet sein Gehirn
demnach zum Abspeichern von Worten. Wörter sind dann Bezeichnungen für
Gruppen von Erfahrungen, die sich über das Leben hinweg ansammeln.Gesten
und sensorische Erfahrungen sind aber womöglich auf noch weitere Arten
verbunden. Eine wachsende Zahl Forschungsarbeiten legt heute nahe, dass
Sprache und Gestik so eng miteinander verflochten sind wie motorisches
Handeln und Wahrnehmung. Insbesondere sind die neuronalen Systeme für
Wahrnehmung und Verständnis von Gesten von früheren Erfahrungen mit
denselben Bewegungen beeinflusst, wie Elizabeth Wakefield berichtet.
Wakefield,
ein weiterer Goldin-Meadow-Schützling, leitet heute als
Assistenzprofessorin ein eigenes Labor an der Loyola University Chicago.
Dort erforscht sie, wie alltägliche Handlungen Lernen und Kognition
beeinflussen. Bevor sie diesen Fragen in aller Tiefe nachgehen konnte,
versuchte sie herauszufinden, wie sich die Verarbeitung von Gesten im
Gehirn entwickelt. Im Jahr 2013, als Doktorandin bei der
Neurowissenschaftlerin Karin James an der Indiana University, führte Wakefield eine der ersten fMRT-Studien durch, die die Gestenwahrnehmung bei Kindern und Erwachsenen untersuchte.
Dabei zeigte Wakefield ihren Probanden Videos einer Schauspielerin, die
beim Reden gestikulierte. Die gleichzeitigen Hirnscan-Aufnahmen
zeigten, dass Hirnareale für Bild- und Sprachverarbeitung nicht die
einzigen waren, die verstärkt aktiv waren. Auch Areale, die mit
motorischen Handlungen assoziiert sind, wurden aktiver, und das, obwohl
die Teilnehmer still im Scanner lagen. Erwachsene zeigten in diesen
Regionen mehr Aktivität als Kinder. Als Ursache vermutet Wakefield, dass
die Erwachsenen mehr Erfahrung mit ähnlichen Bewegungen gesammelt
hatten als die Kinder (Kinder neigen auch weniger zu Gesten, wenn sie
reden).
Erinnerungen verändern die Wahrnehmung von Gesten Wakefields
Studie ist nicht die einzige, die gezeigt hat, dass Gestenwahrnehmung
und gezieltes Handeln dieselbe neuronale Grundlage haben. Unzählige
Experimente wiesen ein ähnliches Spiegelungsphänomen nach, unter anderem
im Ballett, Basketball, beim Gitarrespielen, Knotenknüpfen und sogar
beim Notenlesen. In allen diesen Fällen gilt: Beobachten Experten, wie
ihre Fähigkeit von anderen ausgeführt wurde, sind ihre sensomotorischen
Bereiche aktiver als bei Menschen mit weniger Fachwissen.
(Paradoxerweise haben andere Experimente genau das Gegenteil gefunden:
Das Gehirn der Experten reagierte hier schwächer als das der Laien.
Einige Forscher vermuten, dass der größere Erfahrungsschatz das Gehirn
der Experten bei der Verarbeitung von Bewegungen effizienter und damit
weniger aktiv gemacht hatte.) Lorna Quandt, Assistenzprofessorin
an der Gallaudet University, die solche Phänomene bei Gehörlosen und
Schwerhörigen untersucht, verfolgt einen detaillierten Ansatz. Sie
zerlegt Gesten in ihre sensomotorischen Komponenten und zeigt mit Hilfe
der Elektroenzephalografie (EEG), dass Erinnerungen an bestimmte
Handlungen die Art und Weise verändern, wie wir die Gesten anderer
Menschen vorhersagen und wahrnehmen. In
einer Studie nahmen Quant und ihre Kollegen EEG-Muster erwachsener
Teilnehmer auf, während diese mit Objekten unterschiedlicher Farbe und
Gewicht hantierten. Dann zeigten sie den Probanden ein Video von
einem Mann, der mit den gleichen Gegenständen interagierte. Auch wenn er
Handlungen um die Objekte herum nachahmte oder auf diese zeigte,
reagierte das Gehirn der Teilnehmer so, als ob sie selbst die Objekte in
den Händen hielten. Darüber hinaus spiegelte ihre neuronale Aktivität
ihr eigenes Erfahrungslevel wider: Aus den EEG-Mustern konnten die
Forscher vorhersagen, wie die Erinnerung der Probanden (etwa daran, ob
ein Objekt schwer oder leicht war) beeinflussen würde, wie sie die
Handlungen des Mannes wahrnahmen. »Wenn
ich beobachte, wie du eine Geste ausführst, verarbeite ich nicht nur,
was du gerade tust, sondern auch, was du als Nächstes tun wirst«,
erklärt Quandt. Das Gehirn sagt also die sensomotorischen Erfahrungen
des Gegenübers vorher, wenn auch nur ein paar Millisekunden im Voraus.
Wie viel eigene motorische Erfahrung aber ist für solche Vorhersagen
erforderlich? Laut
den Ergebnissen aus Quants Labor reicht ein einziges taktiles Erlebnis,
um Experte für Farb-Gewichts-Assoziationen zu werden. Geschriebene Informationen reichen dafür nicht. Mittlerweile
ist laut Anthony Dick im Allgemeinen anerkannt, dass motorische
Hirnbereiche auch dann aktiv sind, wenn Menschen die Bewegungen anderer
beobachten, sich selbst jedoch nicht bewegen (ein Phänomen, das als
»observation-execution matching« bekannt ist). Uneinig sei man sich aber
in der Frage, ob dieselben Hirnregionen die Bedeutung von Handlungen
erkennen. Und noch umstrittener sei die Frage, welcher Mechanismus dem
verbesserten Verstehen durch sensomotorische Aktivierung zu Grunde
liegt: eine koordinierte Aktivität über mehrere Gehirnregionen hinweg
oder gar die Aktivität einzelner Hirnzellen? Spiegelneurone oder Spiegelnetzwerke? Vor
mehr als einem Jahrhundert schrieb der Psychologe Walter Pillsbury: »Es
gibt nichts im Kopf, was nicht mit Bezug auf Bewegung erklärt ist.« Die
moderne Variante dieser Auffassung ist die Theorie der Spiegelneurone.
Sie geht davon aus, dass die Fähigkeit, Bedeutungen von Gestik und
Sprache zu verstehen, durch die Aktivierung einzelner Zellen in
bestimmten Hirnregionen erklärt werden kann. Doch zeichnet sich immer
deutlicher ab, dass die Erkenntnisse über die Rolle von Spiegelneuronen
im Alltagsverhalten womöglich überinterpretiert wurden.
Erstmals formuliert wurde die Theorie der Spiegelneurone in den 1990er Jahren. Eine
Gruppe von Forschern fand im unteren prämotorischen Kortex von Affen
damals Neurone, die einerseits feuerten, wenn die Tiere bestimmte
zielgerichtete Bewegungen machten (zum Beispiel beim Greifen),
andererseits aber auch, wenn die Tiere passiv einen Versuchsleiter
beobachteten, der ähnliche Bewegungen vollführte. Die Entdeckung
überraschte die Wissenschaftler. Offenbar war das ein klarer Fall von
»matching« zwischen Beobachtung und Ausführung, allerdings auf der Ebene
einzelner Zellen. Für ihre Entdeckung haben Forscher verschiedene
Erklärungen vorgeschlagen: Womöglich vermittelten Spiegelneurone
schlicht Informationen über Handlungen, was es dem Affen erlaubte, sich
für geeignete motorische Reaktionen zu entscheiden. Strecke ich Ihnen
zum Beispiel meine Hand entgegen, ist es wahrscheinlich Ihre natürliche
Reaktion, mich zu spiegeln und dasselbe zu tun. Wir erfassen Bedeutung von Bewegung intuitiv Alternativ
könnten Spiegelneurone auch die Grundlage für echtes
Handlungsverständnis sein: die Fähigkeit, die Bedeutung in den
Bewegungen anderer Menschen zu erkennen. In diesem Fall würden die
Neurone dem Affen erlauben, seine eigenen Handlungen mit vergleichsweise
geringem mentalem Rechenaufwand an das anzupassen, was er sieht.
Letztlich verdrängte diese zweite Interpretation die erste, wohl weil
sie auf wunderbar einfache Art zu erklären vermochte, wie wir die
Bedeutung der Bewegungen anderer intuitiv erfassen.
Im Lauf der
Jahre häuften sich die Hinweise für einen ähnlichen Mechanismus beim
Menschen. Spiegelneurone wurden nun als Ursache einer langen Liste von
Phänomenen gesehen, darunter Empathie, Imitation, Altruismus oder auch
die Autismus-Spektrum-Störung. Und seit man Spiegelaktivität in
verwandten Hirnregionen auch während Gestenbeobachtung und
Sprachwahrnehmung beobachtet hat, werden Spiegelneurone außerdem mit
Sprache und Gestik in Verbindung gebracht.
Gregory Hickok,
Professor für Kognitions- und Sprachwissenschaften an der University of
California in Irvine (USA), ist ein leidenschaftlicher Kritiker der
Spiegelneuronen-Theorie. Hickok findet, dass die Begründer mit ihrer
Spiegelneuronentheorie auf die falsche Erklärung gesetzt haben. Nach
seiner Auffassung verdienen Spiegelneurone es zwar, gründlich erforscht
zu werden. Der Fokus auf ihre Rolle beim Sprach- und
Handlungsverständnis aber habe den Forschungs-Fortschritt behindert, »observation-execution matching« sei eher an der Motorplanung beteiligt als am Handlungsverständnis. Was bedeutet es, eine Aktion zu verstehen? Selbst
jene Forscher, die die Theorie des Handlungsverständnisses weiter
unterstützen, rudern heute zurück, unter ihnen etwa Valeria Gazzola,
Leiterin des Social Brain Laboratory am Netherlands Institute for
Neuroscience und außerordentliche Professorin an der Universität
Amsterdam. Obwohl Gazzola weiterhin Verfechterin der
Spiegelneuronen-Theorie ist, räumt sie ein, dass es keinen Konsens
darüber gibt, was es bedeutet, eine Aktion zu »verstehen«. »Es gibt da
immer noch Differenzen und Missverständnisse«, sagt sie. Auch wenn
Spiegelneurone ein wichtiger Bestandteil der Kognition seien, »die
gesamte Geschichte können sie wahrscheinlich nicht erklären«. Ein
Großteil der Hinweise auf Spiegelaktivität beim Menschen stammt aus
frühen Studien, die die Aktivität von Millionen Neuronen mit Methoden
wie fMRT, EEG, Magnetoenzephalografie oder transkranieller
Magnetstimulation gleichzeitig aufzeichnen. Später nutzen Forscher
Methoden wie die fMRT-Adaption, mit der die Aktivität von
Subpopulationen bestimmter kortikaler Areale analysiert werden kann. Nur selten aber bietet sich die Gelegenheit, die Aktivität einzelner Zellen direkt im menschlichen Gehirn zu vermessen, was den direktesten Nachweis für die Existenz von Spiegelneuronen liefern könnte.
»Ich
habe keinen Zweifel, dass Spiegelneurone existieren«, sagt Hickok.
»Doch all diese Studien zur Hirnbildgebung und Hirnaktivierung zeigen
nur Korrelationen. Sie sagen nichts über die Ursachen aus.« Darüber
hinaus können die meisten Menschen, die sich wegen motorischer
Behinderungen nicht bewegen oder nicht sprechen können, etwa wegen einer
schweren Zerebralparese, Sprache und Gesten trotzdem wahrnehmen. Sie
benötigen für das Handlungsverständnis also kein voll funktionsfähiges
Motorsystem (mit Spiegelneuronen). Auch bei Affen gebe es keine Hinweise
darauf, dass Schäden an Spiegelneuronen Defizite bei der Beobachtung
von Handlungen nach sich ziehen, so Hickok.
Annahmen über einzelne
Zellen lassen sich also nach wie vor nur schwer belegen. Daher sind die
meisten Forscher recht vorsichtig mit ihren Aussagen. Sie sprechen zwar
davon, das Affen »Spiegelneurone« besitzen, beim Menschen sprechen sie
allerdings von »Spiegelsystemen«, »neuronaler Spiegelung« oder
»Handlungs-Beobachtungsnetzen«. (Laut Hickok haben sich die Begriffe
auch in der Affenforschung in Richtung Netzwerk und System verschoben.)
Quandt, die sich selbst als Vertreterin einer
Spiegelneuronen-Mitte versteht, leitet aus ihren EEG-Experimenten keine
Aussagen darüber ab, wie Erfahrungen die Funktion einzelner Zellen
verändern. Jedoch sei sie »vollkommen überzeugt« davon, dass Teile des
menschlichen sensomotorischen Systems an Analyse und Verarbeitung von
Gesten anderer Menschen beteiligt sind. »Ich bin mir hundertprozentig
sicher, dass das so ist«, sage sie. »Es bräuchte einiges, um mich vom
Gegenteil zu überzeugen.«
Aber selbst wenn Forscher heute noch
nicht genau wissen, welche Zellen uns beim körpergestützten
Kommunizieren und Lernen helfen: Unbestritten ist, dass sich die daran
beteiligten neuronalen Systeme überschneiden. Gesten erlauben uns, uns
mitzuteilen, sie prägen die Weise, wie wir andere Menschen verstehen und
interpretieren. Um einen von Quandts Fachartikeln zu zitieren:»Handlungen
anderer werden durch die Brille des Selbst erfahren.« Wenn Ihnen also
das nächste Mal jemand den Stinkefinger zeigt, nutzen Sie den Moment, um
zu würdigen, wie viel dahintersteckt, eine solche Nachricht klar und
deutlich zu verstehen.Nota. - Eine Handlung verstehen heißt verstehen, was sie bedeutet. Sie bedeutet die Absicht, der sie dient - mit Erfolg oder ohne. Stelle ich mir vor, ich hätte sie selber begangen, kann ich mir - mit ein wenig Einbil- dungskraft - vorstellen, was ich gewollt haben müsste. Die Voraussetzung: Der Handelnde ist ein Wollender wie ich. Er konnte frei wollen, und das kann ich so wie er. Für mich ist die Handlung bestimmt durch den ihr zugrunde liegenden Willensakt. Den muss ich verstehen, das ist eine intellektive Leistung. Beurteilen, ob die Handlung in ihrer Wirkung den Willensinhalt getroffen oder verfehlt hat, ist demgegenüber eine mechanische Verrichtung, so, als ob ich einen Zollstock daranhielte; ich muss nur die Differenz messen.Vorausgesetzt ist ein freier Wille, etwas anderes ist nicht verstehbar. Nicht nur kann es nicht verstanden werden, sondern muss auch nicht. Angenommen, ein Tier handelt stets nur aus seinem genetisch angelegten Handlungsrepertoire, muss es die Situationen, in denen sein neuronaler Apparat reagiert, nicht verstehen; es reagiert so oder so. Sogenannte Spiegelneurone mögen ihm helfen, die gegebene Situation präziser wahrzu- nehmen. Doch nach welchem Sinn (=Absicht) könnten sie suchen? Wonach es nicht sucht, wird es nicht finden.Bei den Tieren gibt es einen verstehbaren Willen nicht. Allerdings wird er uns Menschen auch nicht über Nacht von den Bäumen auf den Kopf gefallen sein. Die Aufrichtung unserer Vorfahren auf zwei Beine, die Befreiung des Kopfes und der Hände mag vieles in Bewegung gesetzt haben. Doch eine gewisse neuronale Grundlage wird schon dagewesen sein. Dass sich in Affenhirnen mancherlei vorbereitet hat, ist zu vermuten. Aber sie sind auf den Bäumen geblieben und haben nichts daraus gemacht.Allerdings sind heutige Affen nicht unsere Vorfahren. Sie stehen unseren gemeinsamen Ahnen zeitlich so fern wie wir. Was deren Großeltern mal konnten, mag inzwischenverkümmert sein, denn - sie haben nichts draus gemacht.JE
Sind Raben empathisch? Vögel lassen sich von den Emotionen missgelaunter Artgenossen anstecken
Emotionale Übertragung: Auch Raben lassen sich offenbar von
den Emotionen anderer anstecken. Wie Experimente zeigen, schätzen die
Vögel eine Situation pessimistischer ein, wenn sie zuvor einen
frustrierten Artgenossen beobachtet haben. Dies könnte ein Beleg für
emotionale Ansteckung bei den Tieren sein – eine wichtige Voraussetzung
für die Fähigkeit zur Empathie.
Raben sind äußerst intelligente Vögel: Sie können zählen, Werkzeuge
nutzen und sogar vorausschauend planen. Noch ausgeprägter aber ist ihre
soziale Intelligenz. Die in komplexen, sich ständig
verändernden Verbänden lebenden Vögel wissen sehr genau, wer welchen sozialen Rang bekleidet und mit wem sich eine Teamarbeit lohnt. Doch sind die Tiere auch zur Empathie fähig?
Als eine grundlegende Voraussetzung für die Fähigkeit, sich in andere
hineinzuversetzen, gilt die emotionale Ansteckung. Dieser Mechanismus
führt zum Beispiel dazu, dass wir uns von dem Lächeln eines Mitmenschen
unwillkürlich anstecken lassen und unsere Stimmung dadurch steigt. Diese
eigentlich als typisch menschlich geltende Eigenschaft ist in Ansätzen
bereits bei Tieren wie Orang-Utans nachgewiesen worden.
Zwischen Freude und Frust
Ob sich Raben ebenfalls von den Gefühlen ihrer Artgenossen anstecken
lassen, haben nun Jessie Adriaense von der Universität Wien und ihre
Kollegen untersucht. Im Experiment ließen sie zahme Raben zunächst durch
ein Guckloch spähen und entweder eine sehr beliebte oder wenig begehrte
Futterbelohnung erblicken. Je nach dem, was der Vogel sah, zeigte er
erwartungsvolle Vorfreude – oder wandte sich frustriert ab.
Das Entscheidende dabei: Ein zweiter Rabe beobachtete diese Situation
und bekam folglich mit, wie sein Artgenosse reagierte. Anschließend
wurde der Beobachter-Vogel selbst einem Test unterzogen. Er wurde mit
Behältern konfrontiert, deren Inhalt er zunächst nicht sehen konnte. Wie
würde er sich verhalten?
Pessimistische Vögel
Die Idee dahinter: Angetrieben von der Zuversicht auf ein Leckerli
werden sich optimistisch gestimmte Vögel sehr rasch und motiviert den
Behältern nähern. Erwarten sie keine oder eine unattraktive Belohnung,
lassen sie sich dagegen wahrscheinlich mehr Zeit und agieren
zurückhaltender. Die Wissenschaftler verglichen das Verhalten der Tiere
dabei mit Kontrollwerten aus Testdurchgängen, bei denen diese vorher
keinen Kontakt zu Artgenossen gehabt hatten.
Die Auswertungen zeigten, dass die Raben im Schnitt langsamer und
bedachter auf die Becher zugingen, wenn sie zuvor einen sichtlich
frustrierten Kollegen beobachtet hatten. Sie waren offenbar
pessimistisch gestimmt. Diese Ergebnisse lassen nach Ansicht des
Forscherteams darauf schließen, dass sich Raben von den negativen
Emotionen eines Artgenossen anstecken lassen können.
Erstmals nachgewiesen
Anders als die negative Stimmung übertrug sich die positive Emotion
im Experiment zwar nicht so deutlich. Zumindest im Negativen scheint es
jedoch tatsächlich eine Art emotionale Übertragung bei den Raben zu
geben, wie die Wissenschaftler betonen. Ihnen zufolge ist es das erste
Mal, dass diese Grundvoraussetzung für Empathie bei Vögeln nachgewiesen
wurde. Dies werfe nun auch ein neues Licht auf die Evolutionsgeschichte
dieser emotionalen Fähigkeit, so das Fazit des Teams. (PNAS, 2019; doi: 10.1073/pnas.1817066116)
Quelle: Universität Wien/ PNAS 21. Mai 2019
- Daniela Albat
Nota. -Wovon das Experiment nicht handelt: Erstens nicht von der Fähigkeit zum intellektiven Perspekti- venwechsel, also der Fähigkeit, aus dem Gesichtspunkt des andern heraus zu denken; und zweitens nicht von der Ausbildung von Moralität, Bei der es um das Selbstbild des Indivuums geht. JE
Seit 400 Jahren lassen
Physiker sich bei der Suche nach brauchbaren Theorien über die Natur von
ästhetischen Erwägungen leiten. Heute wird bezweifelt, ob das
grundsätzlich eine gute Idee ist. Zu Unrecht.
Von OLAF L. MÜLLER
Harmonice
Mundi, Weltharmonik. Unter diesem Titel veröffentlichte Johannes Kepler
(1571 bis 1630) vor 400 Jahren ein Werk, das es in sich hatte. Kepler
stand damals auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Schon in jungen Jahren war
er kaiserlicher Hofmathematiker der Habsburger geworden. Nun aber
stellte er eine geradezu ungeheuerliche These auf: In den tiefsten
Strukturen ist das Weltall schön.
Damit hatte er etwas durchaus Präzises im
Sinn: eine Harmonie für das geistige Ohr. Johannes Kepler wollte die
Gesetze, nach denen die Planeten um die Sonne ziehen, als eine
gigantische Partitur lesen. Er trieb die Idee sogar noch auf die Spitze,
indem er den Planeten einzelne Tonintervalle zuschrieb: dem Mars etwa
die Quinte oder dem Saturn die große Terz. Mehr noch, laut Kepler
spielen die Planeten ihre Musik in Dur und Moll, und ein jeder musiziert
in einer eigenen Tonart. Sogar einen vierfachen Kontrapunkt hatte
Kepler in den Sphärenklängen ausgemacht und erklärt, Saturn und Jupiter
sängen im Bass, Erde und Venus im Alt, Mars im Tenor und Merkur im
Diskant.
Man ist heute geneigt, Keplers Sphärenmusik
als esoterische Schwärmerei abzutun. Doch Kepler war nicht irgendwer.
Neben Kopernikus, Galilei und Newton verdanken wir ihm die
entscheidenden Impulse der neuzeitlichen Physik, auf denen wiederum
unsere heutige moderne Physik beruht. Wer dieser vier Genies nun der
Größte war, darüber streiten die Gelehrten. Für die Frage nach der
Schönheit in der Physik ist der Streit müßig, denn hier waren sich alle
vier einig: Weil das Weltall für das geistige Auge schön ist, eignet
sich unser Sinn für Ästhetik ausgezeichnet als Kompass auf der Suche
nach der physikalischen Wahrheit. Warum aber kam jemand wie Kepler auf
diese Idee? Weil er damit erstaunlichen Erfolg hatte.
Die Platonischen Körper sind aus deckungsgleichen Regulären
Vielecken (hellgraue Flächenstücke), also Vielecken mit gleichen Winkeln
und gleichen Kanten, zusammen- gesetzt – und zwar so, dass die Kanten
eines solchen Körpers überall im selben Winkel aufeinandertreffen. Es
gibt nur fünf Körper mit diesen beiden Eigenschaften, nämlich:
Ikosaeder, Dodekaeder, Oktaeder, Würfel und Tetraeder.
Nach Abschluss seines Theologiestudiums, im
Alter von 24 Jahren, hatte Johannes Kepler verstehen wollen, warum es
nicht zwanzig oder hundert, sondern genau sechs Planeten gab – Uranus
und Neptun waren damals noch nicht entdeckt. Seine These dazu war so
bestechend wie kühn. Seit der Antike wusste man, dass es exakt fünf
sogenannte Platonische Körper gibt: Das sind diejenigen räumlichen
Figuren, deren Flächen von einer einzigen Sorte regulärer Vielecke
aufgespannt werden und deren Ecken allesamt gleichartig sind (siehe
Abbildung „Die Platonischen Körper“). Schon für sich allein ist jedes
dieser Gebilde mathematisch schön – einfach der ihnen innewohnenden
Symmetrien wegen. Doch hiermit hielt sich Kepler nicht lange auf;
stattdessen brachte er die fünf Körper zusammen (siehe Abbildung
„Keplers geometrisches Modell des Sonnensystems“) und schuf damit eine
hochkomplexe Einheit: Jeder der fünf Körper umschreibt eine Innenkugel
und wird von einer Außenkugel umschrieben. Daher lassen sich die
Platonischen Körper auf ansprechende Weise ineinander verschachteln; die
Innenkugel des größten ist die Außenkugel des zweitgrößten Körpers,
dessen Innenkugel wiederum als Außenkugel des drittgrößten Körpers
genommen wird, und so weiter. Wie viele Sphären – das heißt: wie viele
Kugeloberflächen – werden dabei insgesamt aufgespannt? Genau sechs. Für
jeden der fünf Platonischen Körper je eine Außenkugel, und dann noch die
Innenkugel des innersten Körpers. Es gibt laut Kepler also deshalb
sechs Planeten, weil die von den Körpern aufgespannten Sphären genau
sechs abgezirkelte Regionen des Weltalls darbieten, in denen die
Planeten jeweils ihren Bewegungsgewohnheiten nachgehen. In einem perfekt
aufgebauten Weltall ist kein Platz für mehr Planeten. Und ein Weltall
mit weniger Planeten wäre Platzverschwendung, mithin ein ästhetisches
Manko.
Keplers geometrisches Modell des Sonnensystems. In die äußere
Kugelschale (in deren Rahmen der Saturn um die Sonne kreist) hat Kepler
den ersten Platonischen Körper - den Würfel - eingeschrieben. Die Schale
seiner Innenkugel bietet dem Jupiter ausreichend Platz für seine
Bewegungen, und diese Sphäre umschreibt den zweiten Platonischen Körper,
den Tetraeder, dessen Innenkugel noch gut erkennbar den Dodekaeder
einhüllt und die Marsbahn beherbergt.
Illustration: Valentine Edelmann nach der Tabella III aus Johannes Keplers „Mysterium Cosmographicum“ (1596)
Doch was ist das für ein lausiges Argument!
Ist es nicht armselig, irgendeine passende mathematische Tatsache
herbeizuzitieren, um die vorab bekannte, zufällige Zahl der Planeten
daraus „abzuleiten“? – Das Schönste kommt erst noch. Jedes physikalische
Modell muss sich in der Prognose dessen bewähren, was man nicht in die
Modellkonstruktion eingebaut hat. Und an diesem Punkt wird die
Geschichte wild. Die ineinandergeschachtelten Körper bestimmen nämlich
exakte Größenverhältnisse der eingeschriebenen Kugeloberflächen. Wie
Kepler sofort klar war, ergibt sich daraus eine Prognose über die
Abstände der Planetenbahnen. So müsste der Jupiterbahn ein exakt dreimal
größerer Radius zukommen als der Marsbahn; und das Verhältnis von
Venus- zu Merkurbahn wäre die Wurzel aus 3 zu 3. Als Kepler seine
Modellzahlen mit den Beobachtungswerten verglich, wurde ihm schwindelig.
In zwei Fällen waren es Volltreffer (mit einem Fehler von weniger als
einem Promille). Und in den übrigen war der Fehler zwar etwas größer,
aber immer noch verblüffend klein.
Wer nun einzig und allein den empirischen
Daten traut, kann über diesen Fehler nicht hinweggehen und muss Keplers
Modell als widerlegt betrachten – Fehler ist Fehler. Aber so
funktioniert Physik nicht. Wenn das Modell nicht zu den Daten passt,
trifft die Schuld nicht notwendig das Modell; sie kann bei den Daten
liegen. Diese werden auch in der Astronomie durch Messung erhoben,
zuweilen unter großen Schwierigkeiten. Da liegt es auf der Hand, dass
sie nicht völlig fehlerfrei sein können. Alles kommt auf das Ausmaß der
Diskrepanz zwischen Modell und Messwert an. Im Fall des Keplerschen
Sphärenmodells war sie winzig. Um ein Gespür für ihre Größenordnung zu
wecken, möchte ich Sie zu einer Lotterie gegen Kepler einladen: Fünf Mal
dürfen Sie aus tausend Losen ziehen, auf denen jeweils eine Nummer
zwischen 0,001 und 1,000 steht – also 0,001, 0,002 und so weiter. Ihre
Losnummer soll jedes Mal Ihre zufällige Schätzung für das Verhältnis
jeweils benachbarter Planetenbahnen darstellen. Wie groß ist nun die
Wahrscheinlichkeit, dass Ihre ausgelosten Zahlen besser zum vermessenen
Sonnensystem passen als die Keplers? Die Antwort: weniger als 1 zu
200 000. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, beim Münzwurf siebzehn
Mal hintereinander Kopf zu werfen. Kepler war Mathematiker genug, um zu
dem Schluss zu kommen: Es kann kein Zufall sein, dass sein ästhetisches
Modell so gut zu den bekannten Daten passt. Warum er sein Leben lang an
der Schönheit als Richtschnur astronomischer Erkenntnis festgehalten
hat, kann man verstehen. Und seither zieht sich dies wie ein roter Faden
durch die Physikgeschichte: Immer wieder setzten bedeutende Physiker
auf Modelle und Theorien von besonderer mathematischer Schönheit – und
immer wieder erzielten sie damit Prognosen von unerwarteter
Treffsicherheit. Der Wahnsinn hat Methode.
Wer dem Schönheitssinn physikalisch trotzdem
nicht über den Weg traut, muss einer beispiellosen Kette von
Zufallstreffern das Wort reden. Oder er muss das historische Ausmaß des
Erfolgs verharmlosen. Diesen Weg hat zuletzt die Frankfurter Physikerin
Sabine Hossenfelder in ihrem brillanten Lamento über den Schönheitssinn
vieler ihrer Fachkollegen gewählt (Frankfurter Sonntagszeitung vom 1.7.2018). Wohl
um Kepler nicht als Scharlatan dastehen zu lassen, behauptet sie, er
habe sich in späteren Jahren von seinem platonischen Modell getrennt,
und zwar sobald ihm bessere astronomische Daten zur Verfügung standen.
Das entspricht aber nicht den Tatsachen. Ein Vierteljahrhundert nach der
ersten Veröffentlichung seines Modells in dem Werk „Mysterium
Cosmographicum“ (Das Weltgeheimnis) von 1596 brachte er diese Schrift
ein zweites Mal ohne Eingriffe in den Originaltext heraus. Im Anhang
korrigierte er allerlei physikalische Patzer der Erstausgabe. Aber an
der ästhetischen Kernidee des Buchs hat er in seinen Korrekturen
ausdrücklich nicht gerüttelt. Und die Weltharmonik aus dem Jahr 1619
trat nicht an die Stelle der ursprünglichen Idee, sie war deren
musikalische Verfeinerung.
Heute sind Keplers ästhetische Modelle des
Weltalls zwar obsolet – weil inzwischen zwei Planeten hinzugekommen
sind, für die er keinen Platz vorsehen konnte, und weil wir inzwischen
Grund zu der Annahme haben, dass die Anzahl der Planeten unserer Sonne
keine grundlegende Tatsache der Welt darstellt. Aber das ändert nichts
daran, dass sich auch heute viele physikalische Grundlagenforscher an
ästhetischen Maximen orientieren: Wenn eine fundamentale Theorie unseren
mathematischen Schönheitssinn anspricht, dann wird dies als ein
ernstzunehmendes Argument zugunsten der Theorie angesehen.
Sabine Hossenfelder beklagt, dass sich
dieses Prinzip in letzter Zeit totgelaufen habe. Seit Jahrzehnten, so
moniert sie, optimierten heutige Grundlagenforscher die Ästhetik ihrer
Theorien – und scherten sich keinen Deut darum, dass die empirischen
Belege ausbleiben. Schlimmer noch, die Arbeit einer ganzen Generation
von Physikern – Hossenfelders Generation – sei durch sinnlosen
Schönheitskult auf Abwege geraten. Stimmt das?
In der Tat fehlt es seit längerem an einem
entscheidenden Durchbruch, und die Leichen im Keller der heutigen
Grundlagenforschung stinken zum Himmel. Es mag also sein, dass
Hossenfelder mit ihrem pessimistischen Blick auf die Gegenwart recht
hat. Doch ebenso gut könnte sie zu früh die Geduld verloren haben. Ein
Blick zurück auf Kepler ist da vielleicht hilfreich. Von dessen
Durchhaltevermögen könnte sich mancher heute eine Scheibe abschneiden.
Als Kepler sich nämlich um das Jahr 1600 der besten verfügbaren
Himmelsdaten bemächtigt hatte, wollte er sein Modell überprüfen und
insbesondere wissen, auf was für einer Bahn genau der Mars die Sonne
umrundet. Denn Kepler wusste, dass der Abstand des Planeten von der
Sonne schwankt, die Sphären in seinem platonischen Modell also eine
endliche Dicke haben mussten. Aber welcher mathematischen Form folgte
die Planetenbahn darin genau? Eine Hypothese nach der anderen
scheiterte, die Zahlen passten hinten und vorne nicht. Jahrelang ging
das so. Kepler rechnete sich an den Rand seiner Kräfte. Es hätte
tragisch enden können.
Newtons Spektrum. Vor schwarzem Hintergrund leuchtet in den
sattesten Farben ein Bild auf, dessen farbästhetischer Kraft sich kaum
jemand entziehen kann. Dabei beruht das Bild nur auf der konsequenten
Verstärkung von ehemaligem Schmutz (vergleiche die Abbildung
„Chromatische Aberration“). Newton prahlte: „extravagant“, „exciting“.
Heute wissen wir dank Keplers Zähigkeit,
dass die Planetenbahnen Ellipsen sind. Warum aber hat er die
Ellipsenbahn nicht einfach aus den Beobachtungsdaten abgelesen? Weil die
Ellipse, so wie jede andere Hypothese, keineswegs eindeutig von den
Daten erzwungen wurde. Da es immer noch reale Daten waren, also Daten
voller Fehler, konnte es keinen perfekten Fit geben. Kepler musste also
schummeln, musste die Daten hier und dort zurechtbiegen, musste sie
beschönigen – nur wo, zum Teufel? Der amerikanische Astronom und
Wissenschaftshistoriker Owen Gingerich beschrieb es so: „Kepler hat die
Daten weit kreativer genutzt als jemand, der bloß eine Kurve an
empirische Datenpunkte anpassen will.“
Kreativität. Positivistisch gesinnte
Zeitgenossen wie Sabine Hossenfelder unterschätzen den Wert dieses
menschlichsten aller Erkenntnismittel der Physik. Denn um es zu
wiederholen: Wie viele Daten auch immer wir zusammentragen mögen, nie
sind es ausschließlich diese Daten, die bei unserer theoretischen Arbeit
den Ausschlag geben. Ob wir eine Theorie akzeptieren, hängt nicht
allein davon ab, wie exakt sie zur Empirie passt, sondern auch von
weiteren Kriterien. Von ihrer Schönheit zum Beispiel.
Unser Sinn für Ästhetik beflügelt die
naturwissenschaftliche Kreativität aber nicht allein durch erhabene
Großartigkeit wie im Fall der fünf Platonischen Körper. Wie sich gerade
an Kepler sehr gut zeigen lässt, stützt sich das kreative Genie in der
Physik auch im Kleinen auf den Schönheitssinn. Es war eine ungeheure
schöpferische Leistung, mit der Kepler in jahrelanger Rechnerei die
Daten immer wieder neu geformt, umgeformt, geschönt, ausgewählt,
umgeordnet, verworfen und erneut einbezogen hat.
Chromatische Aberration ist ein Effekt, der sich bei Betrachtung
eines weißen Himmelskörpers durch Teleskope der Newtonzeit bemerkbar
macht. Das Bild wird links wie rechts von Farbsäumen verschmutzt und
verliert dadurch an Schärfe; die Farben stören die Reinheit des Bildes -
höchst unschön.
Diese Art der Kreativität haben wir bislang
nur schemenhaft vor Augen; in den meisten kritischen
Auseinandersetzungen mit Keplers Schönheitssinn ist sie übersehen
worden. Dabei war sie eine treibende Kraft in der gesamten Geschichte
der neuzeitlichen und modernen Physik. Besonders stark zeigt sich die
Kreativität des Physikers, wenn er die empirisch zu beobachtenden
Phänomene allererst selbst erzeugt. Anders als Astronomen, die den
Himmel nur beobachten, ohne ins Geschehen einzugreifen, können
Experimentatoren über das Empirische eine gewisse Macht ausüben, indem
sie es mitgestalten. Wie und wo ihnen bei dieser Gestaltungsarbeit der
Sinn für Schönheit zu Hilfe kommt – diese Frage ist von den meisten
Verächtern des physikalischen Schönheitssinns gar nicht erst gestellt
worden.
Doch eignen sich Experimente besonders gut, um sich
über den Schönheitssinn von Physikern Klarheit zu verschaffen und
Verbindungen zur Ästhetik in den Künsten zu ziehen. Im Vergleich zu
Theorien sind Experimente angenehm konkret. Man kann sie anfassen und
sehen, so wie viele Kunstwerke. Und man kann jahrelang an ihnen feilen,
ihre Präsentation optimieren, wohlkalkulierte Überraschungen fürs
Publikum einbauen – nicht anders als in den Künsten. Einer der größten
Experimentierkünstler der Neuzeit war Isaac Newton (1643 bis 1727). Mit
großer kreativer Energie formulierte er nicht nur eine mathematisch
durchgeformte Mechanik, sondern schuf 1704 auch die früheste
ernstzunehmende Theorie des Lichts und der Farben. Hier lässt sich sein
Sinn für Ästhetik besonders gut nachempfinden. Albert Einstein – der
wohl genialste physikalische Ästhet aller Zeiten – jubelte 1931 in
seinem Vorwort zur Neuausgabe der newtonschen „Opticks“: „Die Natur lag
vor ihm wie ein offenes Buch, dessen Schrift er mühelos lesen konnte. Um
das vielfältige Erfahrungsmaterial auf eine einfache Ordnung
zurückzuführen, stützte er sich auf Begriffe, die ihm aus der Erfahrung
wie von selbst zuflogen – aus den schönen Experimenten, die er wie
Spielzeuge aufbaute und deren Reichtum er liebevoll im Detail
beschrieb.“
Newtons experimentelle Erfolgsserie fing an
mit seinem Ärger über die miese Qualität der damaligen Teleskope, deren
Bilder wegen eines Farbenschmutz-Effektes unscharf waren, der
sogenannten chromatischen Aberration (siehe Abbildung „Chromatische
Aberration“). Physiker empfinden gegen unsaubere Versuchsergebnisse
einen ähnlichen ästhetischen Widerwillen wie Musiker gegen verstimmte
Instrumente. Umgekehrt schätzen sie die Schönheit der Sauberkeit – so
wie manch ein Porträtmaler der Renaissance (siehe Abbildung „Das Bildnis
einer jungen Frau“). Der optische Farbenschmutz in den Teleskopen der
Newtonzeit war hartnäckig und ließ sich nicht beseitigen. An diesem
Punkt gelang Newton ein genialer Zug. Ähnlich wie auch Künstler zuweilen
auf eine Änderung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten abzielen, so änderte
Newton unseren Blick. Statt sich mit der Verringerung der störenden
Farben abzuplagen, richtete er auf sie die volle Aufmerksamkeit, rückte
sie ins Zentrum und verstärkte sie massiv. Das Ergebnis ist eine Ikone
neuzeitlicher Physik (siehe Abbildung „Newtons Spektrum“). Auf
Fotografien sieht dieses Spektrum schnell etwas kitschig aus. Die
experimentelle Wirklichkeit ist aber weit intensiver und spricht unseren
Schönheitssinn unmittelbar an. Direkt sinnlich erscheint es uns, fast
überwältigend und schockierend schön: Unerhört leuchtende Farben größter
Sättigung verlieren sich auf mysteriöse Weise im Finsteren. Kein
Wunder, dass sich dieser hochästhetische experimentelle Befund
blitzschnell über Europa verbreitete, nicht anders als manche Malweise
desselben Jahrhunderts (siehe Abbildung „Blumenstrauß“). Um
Missverständnissen vorzubeugen: Diese Art farbiger Prachtentfaltung ist
nicht die einzige Aufgabe der Malerei, aber es wurden Gemälde
geschaffen, deren Ästhetik wesentlich darin gründet. Genauso gibt es in
der Physik Experimente, deren ästhetische Durchschlagskraft zu einem
nicht geringen Teil auf Pracht beruht, ohne dass dies auf alle
Experimente zuträfe.
Das Bildnis einer jungen Frau im Profil, gemalt von Antonio del
Pollaiuolo um 1465, gibt ein Beispiel für das ästhetische Ideal der
Reinheit der Malerei.
Nun kennt fast jeder Newtons Spektrum aus
dem Schulunterricht. Doch wie viel ästhetischer Gestaltungswille hinter
dem Experiment steckt, weiß kaum jemand. So wie ein Brueghel musste auch
Newton hart arbeiten, bis das Ergebnis höchsten ästhetischen Ansprüchen
genügte (siehe Grafik „Newtons Weißanalyse“). Er brauchte ein Prisma
mit ganz bestimmten Winkeln, es musste präzise symmetrisch ausgerichtet
werden, und der Abstand zwischen Prisma und Auffangschirm musste
erheblich größer sein als der, mit dem seine Vorgänger es probiert
hatten. Nur so konnte es Newton gelingen, die zuvor als Schmutz
abgetanen Farben provokant ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Ihm
war bewusst, was er da tat. Er inszenierte sein Experiment mit der
größtmöglichen Überraschungskraft und kündete stolz von der aufreizenden
Extravaganz seines Spektrums.
Newtons Weißanalyse
Ein Sonnenstrahl wird durch das Fensterladenloch (F) in ein
Prisma (ABC) geschickt, wobei er vom geraden Weg abgelenkt wird und sich
in seine kunterbunten Bestandteile auffächert. Hinter den Kulissen des
hier nur schematisch gezeigten Versuchsaufbaus hat Isaac Newton, der
Ästhet, für ganz präzise Abmessungen gesorgt, sonst klappt's nicht.
Grafik: Ingo Nussbaumer nach dem Notizbuch Newtons
Die Weißsynthese der Newtonschule
Weißes Licht der Sonne (Y) wird zunächst vom Prisma (ABC) in
seine bunten Bestandteile zerlegt. Diese spritzen in alle Richtungen vom
Schirm (M) in den Raum; ein kleiner Teil von ihnen reist auf denselben
Pfaden zum Prisma zurück. Was tun diese Strahlen auf dem Rückweg durch
das Prisma? Exakt dasselbe wie auf dem Hinweg; das ist Newtons
Zeitsymmetrie der optischen Gesetze. Da sich die Farben beim Auge (L)
wiedervereinigen, sieht man beim Blick ins Prisma einen blitzblanken
Kreis: das Sonnenbild.
Grafik: Ingo Nussbaumer nach einem Original von Desaguliers
Schmutz, Provokation, Überraschung – all das
kennen wir auch aus der Malerei des 20. Jahrhunderts. In der Tat war es
eine Innovation von Dadaisten und gleichgesinnten Malern etwa der
Wiener Szene der Aktionskunst, dem Schmutz und Kaputten eine Bühne zu
bereiten (siehe Abbildung „Hermann Nitsch, Blutorgelbild“). Der
Experimentator Isaac Newton war ihnen mehr als zwei Jahrhunderte voraus.
Aber Moment mal: war nicht vorhin vom
ästhetischen Wert sauberer Versuchsresultate die Rede? Und jetzt soll es
plötzlich auf den Schmutz ankommen? Allerdings; beide Werte sind in der
Experimentierkunst Newtons von Belang. Nicht anders als in der Kunst
kann eine experimentelle Errungenschaft mit ihrer Sauberkeit prunken
oder aber mit ihrer überraschenden Kraft, unsere
Wahrnehmungsgewohnheiten zu ändern. Oder mit beidem. Und mit vielem
mehr. Weder in der Kunst noch in der Physik gibt es den einen
ästhetischen Wert, der alle anderen zu übertrumpfen vermöchte.
Hermann Nitsch, Blutorgelbild aus dem Jahr 1962. Es besteht aus
Blut, Dispersion und Kreidegrund auf Jute. So wie Newton uns lehrte, den
angeblichen Farbenschmutz (siehe "Chromatische Aberration") mit neuen
Augen als Hauptattraktion zu sehen, so lehren uns moderne Künstler einen
neuen Blick auf angeblichen Schmutz. Oder muss man Blutflecken immer
gleich wegputzen?
Nachdem Newton zum Beispiel mit seinem
herrlichen Experiment aus dem sauberen weißen Sonnenlicht die bunten
Bestandteile herausgeholt hatte, die darin stecken, stellte er eine
naheliegende Frage: Wenn alle diese Farben im weißen Licht stecken
sollen – muss sich dann das bunte Licht des Sonnenspektrums nicht ebenso
gut wieder in weißes Licht zurückverwandeln lassen?
Schöne Idee; was vorwärts funktioniert, muss
auch rückwärts klappen. Doch die Sache wollte ihm zunächst nicht recht
gelingen. Newtons allererstes Experiment zur Weißherstellung ließ zu
wünschen übrig, und nur mit gutem Willen konnte man die Dreckeffekte
übersehen, die das gewonnene „Weiß“ störten. Statt sich damit abzufinden
und die Sache kurzerhand verbal zu beschönigen, wie es nur zu oft
geschieht, versuchte er es immer wieder. Innerhalb von mehr als dreißig
Jahren veröffentlichte er ein halbes Dutzend Weißsynthesen, eine schöner
als die andere, aber keine perfekt. Wer sich in diese alten Experimente
vertieft, wird von dem ruhelosen Perfektionismus Newtons gefesselt. Und
die Geschichte ging gut aus: noch zu Newtons Lebzeiten sollte einer
seiner Schüler das perfekte Experiment zur Weißsynthese veröffentlichen
(siehe Grafik „Die Weißsynthese“). Das Experiment besticht nicht allein
durch die reine weiße Sauberkeit seines Ergebnisses. Seine ästhetische
Hauptattraktion ist die strenge Zeitsymmetrie des optischen Geschehens.
Blumenstrauß, gemalt um 1619/20 von Jan Brueghel dem Älteren. Wie
bei „Newtons Spektrum“ verschwimmen hier die sattesten Farben fast
magisch im finsteren Hintergrund. Sauberkeit ist nicht das Thema des
Bildes, wie auch die halbtote Biene vor der Vase zeigt, die an unser
aller Verweslichkeit gemahnt.
Foto: Artothek
Symmetrie: Hier haben wir eine der wohl
wichtigsten Quellen physikalischer Schönheitsbegeisterung; sie wirkt bei
Experimenten genauso wie bei Theorien. Bei der Zusammenstellung des
modernen Teilchenzoos war die Schönheit der Symmetrien ein
entscheidender Triebfaktor. Man suchte nach neuen Elementarteilchen, die
das symmetrische Gegenteil bereits entdeckter Teilchenarten bieten
sollten. Und man fand sie, eines nach dem anderen. Ohne Übertreibung
lässt sich daher festhalten: Hätten wir Menschen einen völlig anderen
Schönheitssinn, oder – Gott bewahre – überhaupt keinen, dann hätten wir
eine völlig andere Physik.
Gleichwohl bietet die Ästhetik den Physikern
keine Erfolgsgarantie. Die nun 400-jährige Geschichte ihres
Schönheitssinns ist voller Höhen und Tiefen. Nicht immer lagen sie
richtig, wenn sie auf das Schöne setzten. Aber sie lagen um Dimensionen
öfter richtig, als man rationalerweise erwarten wollte. Wäre ihr Sinn
für Ästhetik auf bloß zufällige Weise mit der Treffsicherheit ihrer
Modelle verknüpft, dann grenzte dieser Erfolg an eine mysteriöse Serie
von Hauptgewinnen im Lotto.
Wenn die Sache aber nicht auf Zufall beruht – worauf beruht sie dann? Dieses Rätsel ist bis auf weiteres ungelöst.
Olaf Müller hat an der Humboldt-Universität Berlin den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie inne.
Soeben erschien bei S. Fischer sein neues Buch
„Zu schön, um falsch zu sein: Über die Ästhetik in der Naturwissenschaft“.
Nota. - So interessant das ist - es ist eine Menge Worte über nicht viel. Nämlich nur darüber, dass beim Entwerfen eines theoretischen Modells der ästhetische Sinn des Forschers eine Rolle spielt. Das Modell ist für den Forscher unerlässlich, denn nur aus ihm kann er solche Hypothesen ableiten, die er im Labor oder im Observatorium empirisch überpüfen kann. Diesen ästhetischen Sinn kann man auch Genie nennen, ohne das ist Theoretisieren nicht möglich.
Doch über den wissenschaftlichen Wert der Theorie entscheidet die empirische Prüfung. Es bleibt in den Daten wohl immer eine Marge von Ungefähr, die nur vernachlässigt wird, weil das Modell, zu dem sie gehört, so schön ist. Erst wenn die Marge einen kritischen Punkt - wo liegt der jeweils? - übertrifft, muss man sich zur Revision des Modells selbst bequemen - und ist wieder wissenschaftliches Genie gefordert.
Aber das Ganze ist bloß Heuristik, es geht um das handwerkliche Geschick beim Theoretisieren. Mit Wahrheit oder wie immer man das nennen will hat es nichts zu tun.
Ein ganz anderes Thrma ist, dass erst der ästhetische Standpunkt den Übergang zum Philosophieren im engeren Sinn möglich macht. Aber Olaf Müller redet von exakter Naturwissenschaft. JE